Stefan Schorr
· 05.03.2023
Die 108 Jahre alte „Belle Amie“ hat eine Vergangenheit als Segellogger. Heute wird auf dem Traditionssegler herkömmliche Seemannschaft für jeden erlebbar
„Belle Amie ist ein schnelles Schiff“, erklärt Skipper Jörg Charles mit einem Schmunzeln. Der Traditionssegler schleicht bei bleierner Flaute mit 0,5 Knoten durch die Geltinger Bucht. Sobald sich jedoch der leiseste Windhauch rührt, beginnt das Wasser am Bug zaghaft zu gurgeln. Der 200-Tonnen-Stahlkoloss unter Vollzeug möchte tatsächlich loslegen.
Alle sieben Segel haben die drei Bootsleute Raimund, Simon und Jorma gemeinsam mit den offensichtlich motivierten Trainees gesetzt: die Vorsegel Flieger, Klüver und Fock, das Großsegel und den Besan und über beiden jeweils noch ein Toppsegel. Was die Windgötter jedoch nicht honorieren. „Das ist natürlich besonders schade“, bedauert Jörg Charles, „wenn die Crew unbedingt segeln will und der Wind nicht mitspielt.“ Der sichtlich guten Laune der Gruppe junger Erwachsener tut das keinen Abbruch. Es wird ein umfangreiches Buffet zum Mittagessen an Deck angerichtet, danach gemeinsam gesungen und an Gitarren gezupft. Die Stimmung ist prächtig. Eine Wohltat für Jörg und Mareike Charles. Würde das Paar den Kauf der „Belle Amie“ verfluchen, könnte man es ihm nämlich nicht verübeln. Der Zeitpunkt, zu dem der Verein Erlebe Meer mit dem Traditionssegler-Betrieb begonnen hat, hätte kaum ungünstiger sein können. Die Corona-Pandemie macht die Eignerschaft zum Drahtseilakt.
Ein Blick gut hundert Jahre zurück. 1915 wird der Traditionssegler auf der Werft der Gebrüder van der Windt im niederländischen Vlaardingen gebaut und am 30. Juli als „Wilhelmina Klein“ (Fischereizeichen IJM 240) zu Wasser gelassen. Dass man zu der Zeit noch ein Segellogger für die Treibnetzfischerei in der Nordsee baute, ist ungewöhnlich oder, wie Jörg Charles sagt, „ein großes Glück“. Längst werden auch schon Motorlogger für den Heringsfang eingesetzt. Außerdem kam mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 die Fischerei in der Nordsee weitestgehend zum Erliegen. Mehrere Logger unter deutscher Flagge versenkten die Briten.
„Wilhelmina Klein“ hingegen wird im Februar 1917 nach Katwijk aan Zee verkauft und in „Maria Catharina“ (KW 70) umgetauft. Mit diesem Namen gehört der Traditionssegler ab 1927 kurzfristig Heinrich Wilhelm Ritscher aus Hamburg-Moorburg, der die erste, 50 PS starke Maschine einbaut. Noch im Jahr 1927 kauft Kapitän Johan Hilding Mattson aus Schweden das Schiff. Es wird nach der Frau des Skippers in „Helga“ umbenannt und hat fortan Hovenäset als Heimathafen.
Die schwedische Flagge wird jahrzehntelang am Heck wehen. 1934 wird der Traditionssegler Teil der „Prinsenflotte“ von Arthur Emilius Henriksson in Göteborg. Als „Prins Axel“ fährt die Gaffelketsch nun als Fracht- und Handelsschiff, das eine 79 PS starke Maschine erhält. Bis 1968 transportiert die „Prins Axel“ ebenso wie die weiteren Schiffe „Prins Knut“ und „Prins Carl“ von Göteborg aus Fracht entlang der schwedischen Ostküste und in dänische Häfen.
1968 taufen die neuen Eigner Sören Petterson und Harald Johansson den Traditionssegler schließlich „Belle Amie“ und nutzen ihn nach dem Umbau für Passagierfahrten. 1974 übernimmt die Kommune Danderyd in Stockholm die „Schöne Freundin“ als Sail-Training-Schiff, das von einer Seefahrt- und einer Privatschule genutzt wird.
„2019 haben wir dann erfahren, dass in Schweden ein Logger zum Verkauf steht“, erinnert sich Jörg Charles. Der ist als Berufsnautiker mit Kapitänspatent für die große Fahrt schon länger „Logger-verliebt“, wie er sagt. Gemeinsam mit seiner Frau Mareike kriecht er drei Tage lang durchs Schiff. Im April 2019 kauft das Ehepaar die „Belle Amie“ und lässt sich für seinen Traditionssegler unter deutscher Flagge ein Schiffssicherheitszeugnis der BG Verkehr ausstellen. Die Zulassung als Passagier- und Frachtschiff in Schweden wird ebenfalls beibehalten.
Interessanterweise haben die Charles’ zum Zeitpunkt des Kaufs noch ein anderes Schiff. Seit 2016 sind sie Eigner der „Anny von Glückstadt“. Das Schiff gehörte einem dänischen Freund, und Jörg Charles war seit 2008 häufig darauf mitgesegelt, unter anderem mehrfach über den Atlantik. Also wurde die „Fiddlers Green“ gekauft und in „Anny von Glückstadt“ umbenannt. Statt als deutsches Traditionsschiff war sie als kleines Kauffahrteischiff unterwegs.
Als ebensolches Frachtschiff geht „Anny“ 2019 zum Verkauf nach England. Die vorhandenen Buchungen der Trainees werden kurzerhand auf den Traditionssegler „Belle Amie“ verlegt. Die erste Saison startet für den Betreiberverein Erlebe Meer mit der gut gebuchten Kieler Woche.
Auch die Gästefahrten zur Hanse Sail laufen prächtig. „Wir kamen mit einem in Deutschland unbekannten Schiff aus dem Nichts und waren sofort komplett ausgebucht“, erinnert sich der Kapitän an den famosen Start. Ebenso sind die Törns 2020 früh voll belegt. Vom Erfolg beflügelt, wird das Rigg im Winter 2019/20 komplett überarbeitet. Das Schiff erhält zwei neue Vollholzmasten aus Douglasie, alle Beschläge werden erneuert, außerdem rund 80 Prozent des stehenden und laufenden Guts. Knapp 40.000 Euro hat das Eignerpaar dafür investiert.
Doch gleich zum Saisonbeginn 2020 legt das Corona-Virus alles still. Die Saison startet erst Mitte Juli, dauert gerade mal sechs Wochen, und die wenigen Törns segeln mit absoluter Minimalbelegung. Statt ausgebucht zu sein liegt die Auslastung bei gerade mal 15 Prozent. „Das bedeutete fast den Genickbruch für unseren kleinen Betreiberverein.“ Jörg Charles selbst verdient im Winterhalbjahr Geld als Kapitän in der Küstenfahrt in Nordeuropa. Um die laufenden Kosten des Schiffes zumindest halbwegs decken zu können, stellen die ehrenamtlich arbeitenden Vereinsmitglieder „Belle Amie“-T-Shirts her und verkaufen diese. Dennoch brennt der Verein Erlebe Meer 2020 finanziell aus.
„Wir haben die erste Seemeile für heute geloggt“, ruft der Skipper über Deck. Nur nicht den Humor verlieren, auch nicht in der immer noch anhaltenden Flaute und finanziell angespannten Situation. Beides mindert nicht die Begeisterung für „Belle Amie“. Die gehört mit ihrer Rumpflänge von 27 Metern zu den größeren stählernen Segelloggern. „Außergewöhnlich ist, dass der Rumpf bis heute original erhalten geblieben, also weder verlängert noch verkürzt worden ist.“, erklärt Charles. Auch ist das Erscheinungsbild der „Belle Amie“ dicht dran am segelnden Heringslogger, der auf einem Foto von 1917 zu sehen ist. Der Klüverbaum steigt leicht an. Das Großsegel wird aktuell noch mit Baum, soll aber mittelfristig auch wieder ohne diesen gefahren werden, wie es auf den Heringsloggern üblich war. „Wir haben viele alte Fotografien, auf denen zu sehen ist, wie das hier an Bord gelöst war.“ Das baumlose Großsegel sorgte für mehr Arbeitsfläche an Deck, wenn die Netze eingeholt wurden.
Die Treibnetzfischerei mit Loggern war eine enorm anstrengende Arbeit – auch noch nach der Segelschiff-Ära. Die am längsten existierende deutsche Heringsfischerei-Gesellschaft von Glückstadt beendete 1969 den Fang von Heringen, die auf See gekehlt wurden. Es ließen sich kaum noch Crewmitglieder für die extremen Arbeitsverhältnisse auf den Loggern finden. Außerdem waren die Heringsbestände in der Nordsee damals schon deutlich zurückgegangen.
50 Jahre später kehrte mit der „Belle Amie“ ein ehemaliger segelnder Heringslogger zurück in die Heimatstadt von Jörg und Mareike Charles. Der Traditionssegler ist nun offiziell Botschafter der Stadt Glückstadt und liegt in den Wintermonaten in seinem Heimathafen. Basis für die sommerlichen Ostseetörns soll aber der Museumshafen Flensburg bleiben, in dem der Betreiberverein seit vielen Jahren Mitglied ist.
„2021 war da aber noch ganz viel Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird“, sagt Jörg Charles am Steuer der „Belle Amie“. Für den Herbst 2021 waren Törns zu den Kanaren geplant. Aber es traute sich niemand, diese zu buchen. „Es war sehr schwer, neue Leute für Segelreisen zu finden.“ Bilanz: Die Saison 2021 verlief unter dem anhaltenden Corona-Einfluss katastrophal. Es fanden – wenn überhaupt – nur Gruppentörns statt. Etwa Seminar-Törns der „KlimaSail“, bei denen die Nordkirche Seminarinhalte zum Klimawandel mit dem Segeln kombiniert.
„Vor drei Jahren konntest du bei Einzelbuchertörns völlig problemlos vier Leute gemeinsam in einer Kabine unterbringen“, erinnert sich Mareike Charles. „Dann kamen immer häufiger Anfragen nach Einzelkammern“ – die es auf „Belle Amie“ natürlich nicht gibt.
Auf Tagestörns zu den großen Hafenfesten oder bei Firmenevents an Bord spielt das keine Rolle. Zu den mehrtägigen Einzelbuchertörns, zu den Klassen- oder Gruppenfahrten erfolgt die Unterbringung jedoch in Zweier-, Vierer-, Sechser- oder Achterkammern. Es gibt zwei Toiletten sowie ein Bad mit Dusche und Waschmaschine an Bord.
Angesichts der Besserung der Corona-Lage und den immer geringeren Beschränkungen hofft die “Belle Amie” 2023 wieder auf mehr Besucher. Durch die unveränderte Reise- und Segellust stehen die Zeichen für den Traditionssegler in 2023 wieder auf grün.
Wer die Niedergangstreppe mittschiffs hinuntersteigt, gelangt in den ehemaligen Fischraum des Loggers. Der ist längst großzügig gestaltete Messe mit 25 Sitzplätzen. Angrenzend bietet die Kombüse Gastronomie-Standard mit Fünf-Flammen-Gasherd, Doppelspüle, Kühlschrank, Tagesfroster, Spülmaschine und professioneller Espressomaschine. Insgesamt ist das Schiff überkomplett ausgestattet. „Berufsnautiker eben“, erklärt der 51-jährige Skipper. Das bedeutet, dass „Belle Amie“ in insgesamt vier wasserdichte Sektionen unterteilt ist oder die komplette Sicherheitsausrüstung den Vorgaben für das Fahrtgebiet A entspricht, obwohl momentan nur im Gebiet B gefahren wird. Die Funkausrüstung etwa ist für die weltweite Fahrt ausgelegt. Selbstverständlich wird ein Maschinentagebuch geführt, und an der Werkbank im Maschinenraum befindet sich alles an seinem Platz. „Ich bin Seemann, da muss alles ordentlich sein.“
Der Berufsnautiker fährt die „Belle Amie“ auch freiwillig mit mehr Crewmitgliedern als verlangt. Aktuell sind drei Decksleute an Bord. Sie leiten die Trainees bei den Segelmanövern an, lehren Knoten und zeigen Taklinge. Unter ihnen Sohn Jorma (19), der nach dem Abitur eine Schiffsmechanikerausbildung beginnt, um die Seefahrt von der Pike auf zu lernen. Die studierte Pädagogin Mareike (49) ist als „gute Seele an Bord“ für die Organisation zuständig. Sie hat kürzlich noch das nautische Patent für die Küstenfahrt gemacht.
Derart professionell aufgestellt, werden 2022 endlich wieder zahlreiche Mitseglertörns auf der Ostsee stattfinden. Mittelfristig kann sich Familie Charles auch vorstellen, Fracht in Europa zu transportieren, die von anderen Schiffen über den Atlantik gesegelt wurde. Als Anschauungsobjekt, das für nachhaltigen Transport sensibilisieren soll – wird die Kraft des Windes doch schon seit Jahrhunderten sinnvoll genutzt.
Die weiteren Tage des Gruppentörns bringen dann auch noch Wind, und der Traditionssegler „Belle Amie“ kann zeigen, dass er ein wirklich schneller Klassiker ist, der eine gute Höhe an der Kreuz läuft. „10,5 Knoten sind drin“, hat Skipper Jörg Charles verraten und sich diebisch darüber gefreut, dass er den derzeit schnellsten Logger segelt, der noch in Fahrt ist. Es bleibt zu wünschen, dass er auf direktem Kurs zügig wieder zurück zu mehr Normalität kommt. „Wir hoffen sehr, dass das Interesse der Leute an Segelreisen wieder zurückkommt – und eben auch das Vertrauen.“
Wer einmal auf der “Belle Amie” mitsegeln will, bekommt HIER alle Informationen.