Stefan Schorr
· 01.03.2023
Weil ihr Schiff vor Grönland gesunken war, baute sich ein Ehepaar einen John-Alden-Schoner komplett neu. Die Geschichte einer legendären Wiedergeburt
Über 21 Meter hoch ragt der Großmast der „Enchantress II“ in den strahlend blauen Himmel über Bremerhaven, der Schonermast kaum weniger. An diesem windarmen Sonntag im August sind Rollklüver, Baumfock, Gaffel-Schonersegel und Bermuda-Großsegel gesetzt – die gut 120 Quadratmeter Tuch treiben den klassischen Holzschoner langsam voran. Im Schwell eines passierenden Schleppers ist das gutmütige Seeverhalten des Schiffs zu erahnen. Der markante positive Deckssprung, das weit überhängende Heck und der relativ niedrige Freibord des 16 Meter langen Rumpfes erinnern unweigerlich an die beeindruckenden Grand-Banks-Fischschoner.
Tatsächlich basiert der Entwurf 390F des US-amerikanischen Konstrukteurs John Gale Alden auf den Schonern, die ursprünglich für den Dorschfang auf den Grand Banks bei Neufundland gebaut wurden. Und diese waren nicht nur extrem seetüchtig, sondern auch schnell. Da das erste Schiff im Hafen den besten Preis für den Fisch bekam, lieferten sich die Crews hart umkämpfte Rennen. „Captains Courageous“ mit Spencer Tracy setzte ihnen 1937 ein filmisches Denkmal, es ist die erste von insgesamt drei Verfilmungen des Romans von Rudyard Kipling (1865–1936). Der englische Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger hat ihn 1897 veröffentlicht, drei Jahre nach seinem Kinderbuchklassiker „Das Dschungelbuch“.
John Alden wurde 1884 in Troy geboren, im Staate New York. 1900 zog seine Familie nach Dorchester, Massachusetts, wo die Grand-Banks-Fischschoner lagen. Die Schiffe faszinierten den Teenager schnell und animierten ihn, unzählige Skizzen von ihnen anzufertigen. 1902 begann Alden seine Ausbildung zum Schiffsdesigner am hoch angesehenen Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Seine späteren charakteristischen Designmerkmale wurden im Winter 1907 durch eine Reise mit kleiner Crew auf dem Schoner „Fame“ der Eastern Fishing Company geprägt. Bei Wind bis Stärke zehn und zu Eis erstarrender salziger Gischt lernte Alden, wie ein seegängiges – und auch mit kleiner Crew handhabbares – Boot auszusehen hat. Seine späteren Entwürfe wurden nicht nur für ihre Anmut und Schönheit gelobt. Sie erhielten auch viel Anerkennung für ihre Stabilität und die Tatsache, dass sie generell einhand gesegelt werden konnten, wenn das erforderlich war.
Punkte, die auch Klaus und Ute Rabe wichtig waren, als sie den Alden-Entwurf für den Bau ihrer „Enchantress II“ auswählten. Wollten sie doch ein schönes, seegängiges Schiff, um weitere ausgedehnte Reisen zu unternehmen, vor allem in die hohen nördlichen Breiten.
Sehr viele Selbstbauprojekte dauern Ewigkeiten, viele werden gar nie vollendet. Dass die „Bezaubernde“ nicht zur „Unvollendeten“ wurde, ist vor allem dem Durchhaltevermögen der inzwischen 79-jährigen Eignerin Ute Rabe zu verdanken.
Diese kam 1945 mit ihrer Mutter und zwei älteren Brüdern als Flüchtling von Guhrau in Schlesien (heute Polen) nach Sachsen. 1959 folgte für die inzwischen 18-Jährige die nächste Flucht – aus der DDR. Nach zwei Jahren in Westdeutschland wanderte die abenteuerlustige Frau 1961 nach Kanada aus, wo sie 1962 den vier Jahre älteren Klaus Rabe kennenlernte. Der Süßwarenlaborant aus Schleswig hatte an zwei Fangreisen auf isländischen Trawlern teilgenommen und erschien Ute als wandelndes Seefahrtslexikon. Die beiden wurden ein Paar, und Klaus Rabe steckte seine Freundin mit dem Traum an, einen Schoner zu segeln. Gemeinsam sparten sie für ein eigenes Schiff, siedelten in die USA nach Oakland an der San Francisco Bay über und heirateten 1965.
1969 erstand das Ehepaar die „Julia & Diane“. Der 50-Fuß-Holzschoner war 1949 an einem Strand an der La Poile Bay in Neufundland gebaut worden. Als die Rabes ihn entdeckten, war er längst abgetakelt, und als reines Motorschiff nutzte man die „Julia & Diane“ auch nicht mehr zum Fischen auf den Grand Banks. Die klassischen Linien blieben Klaus Rabe aber nicht verborgen; daraus würde sich wieder ein wunderschöner Schoner nach dem Vorbild der „Voyager“, einem John-Alden-Entwurf von 1929, schaffen lassen, so seine Überzeugung.
1983 war der Schoner „Enchantress“ in Kalifornien fertiggestellt und startete zur ersten Reise. Ute Rabe hatte mittlerweile die deutsche gegen die US-amerikanische Staatsbürgerschaft getauscht. Und Klaus Rabe war ein so fähiger Bootsbauer geworden, dass er fünf Jahre lang mit Partnern eine Werft betrieben hatte.
Nach Mexiko, den San-Blas-Inseln, Florida und der Überwinterung in Neuschottland segelten die Rabes mit ihrer „Enchantress“ im Sommer 1984 nach Grönland, Island, den Färöern und schließlich nach Schweden, wo sie den folgenden Winter verbrachten. 1986 nahmen sie am ersten Windjammertreffen Sail Bremerhaven teil und hatten ab 1987 dort auch einen festen Liegeplatz. Hier verbrachten sie fortan die Winter und unterrichteten Englisch an der Volkshochschule. Klaus arbeitete am eigenen und anderen Bremerhavener Schiffen wie der „Astarte“ oder „Ubena von Bremen“.
Von April bis Oktober unternahm das Ehepaar jeweils ausgedehnte Sommertörns bis nach Gdansk im Osten, nach Großbritannien, Spanien und Portugal im Westen und immer wieder nach Skandinavien, bis nach Spitzbergen. Lediglich rund 200 Kilometer waren es von ihrer nördlichsten Position noch bis zum Nordpol. Dabei waren sie häufig nur zu zweit oder mit wenigen Mitseglern unterwegs. Ihre langen Reisen zeichnete man in Bremerhaven mehrfach aus. Und dann kam der verhängnisvolle September 1994.
Die „Enchantress“ ist auf dem Weg von Island zur Ostküste Grönlands, als durch die Stöße des karweelbeplankten Holzrumpfes immer mehr Wasser eindringt. Die Pumpen kommen nicht dagegen an. Klaus und Ute Rabe steigen gemeinsam mit ihren zwei Mitseglerinnen und einem Mitsegler in die Rettungsinsel – sie geben ihr Schiff, ihr Zuhause, auf. Die „Enchantress“ sinkt. Die Crew wird gerettet.
Unterstützt durch Freunde aus Bremerhaven reisen die Rabes bald in die USA, um die Formalitäten zum Untergang ihres unter US-Flagge laufenden Schiffs zu klären. Sechs Monate lang bleiben sie in Kalifornien. Von deutschen Freunden hören sie mehrmals „Wir vermissen euch! Kommt zurück, und wir helfen euch beim Bau eines neuen Schiffes“. So schreibt es Ute Rabe in ihrem 2020 als book-on-demand veröffentlichten Buch „Klaus Rabe und seine Schoner“.
Tatsächlich schöpft das Paar mit dem Kauf von Konstruktionsplänen von John Alden Designs in Boston neue Hoffnung. „Die gaben uns wieder eine Perspektive“, sagt Ute Rabe. „Der Plan, ein neues Schiff zu bauen, hat uns vermutlich gerettet, diese schwere Zeit zu überstehen.“
John Alden hatte nach der Mitarbeit im Designbüro von Starling Burgess 1909 sein Alden Design Office gegründet. In den 1920er Jahren hatte sich das Büro etabliert, und spätestens nach den Siegen seiner „Malabar“-Entwürfe beim Newport Bermuda Race 1923, 1926 und 1932 war Alden in der Hochseesegel-Szene weltweit bekannt. Bis zu seinem Tod im Jahr 1962 entwarf er über 1.000 Yachten und Boote, von denen heute noch einige beeindruckende Schoner gesegelt werden, wie etwa die 1939 für General Patton gebaute 63,5 Fuß lange „When and if“. Der Entwurf 390F, dessen Pläne das Ehepaar Rabe kauft, datiert von 1930.
Im April 1995 kehren die Rabes nach Deutschland zurück und finden in Nordrhein-Westfalen Jobs und eine Wohnung. Ein Jahr nach dem Untergang ihrer „Enchantress“ feiern sie mit Freunden eine „Wiedergeburtsparty“. Sie beginnen Material für den Neubau zusammenzutragen und fertigen im Herbst 1996 in einer Tischlerwerkstatt den Achtersteven, Decks- und Kabinendachbalken. Am 6. Dezember 1997 erfolgt die Kiellegung in Elsfleth an der Weser, wo bis 2001 in einem Zelt gearbeitet wird. Hier entsteht der extrem robuste Rumpf.
Klaus Rabe entscheidet sich dabei für die „Strip-planked and cold-moulded“-Bauweise statt der von Alden vorgeschlagenen 3,5 Zentimeter dicken Beplankung aus Gelbkiefer. Auf die formverleimten Spanten aus Framiré kommen zunächst kurze Planken aus sibirischer Lärche, die miteinander und an die Spanten verschraubt werden. Darauf werden drei Lagen zwei Millimeter dickes Meranti-Furnier überkreuz verleimt. Im Unterwasserbereich bringt das Paar zusätzlich drei Lagen Glasfibermatte auf. Nach dem Untergang des ersten Schiffes steht die Sicherheit noch stärker im Fokus.
Im November 2001 zieht das Bauprojekt nach Kirchlengern um, in Wohnortnähe der Rabes. 7,5 Tonnen Bleiabfälle werden eingeschmolzen und zu einem Kiel gegossen. Im September 2005 kommt ein gebrauchter 120 PS starker Ford-Sabre-Dieselmotor von 1992 ins Schiff. Tausende gemeinsame Arbeitsstunden hat das Ehepaar bereits in sein Schiff investiert, als Klaus Rabe im Sommer 2010 an schwarzem Hautkrebs erkrankt. „Da war das Schiff zu etwa 80 Prozent fertig“, erinnert sich Ute Rabe. Ihr Mann spricht ihr im Hospiz Mut für den Weiterbau zu: „Du hast Freunde, und du bist stark. Du schaffst das!“ Klaus Rabe stirbt am 28. Mai 2011.
Ute Rabe setzt den Bau als alleinige Eignerin mit handwerklicher Unterstützung fort. Im Herbst 2015 kommt das Schiff nach Bremerhaven, wo es auf den Namen „Enchantress II“ getauft wird. Abschlussarbeiten müssen ausgeführt und immer weitere Ausrüstung wie Kartenplotter oder ein Radargerät angeschafft werden. Ute Rabe ist finanziell am Limit und kann den Bau nur dank eines Privatdarlehens fortsetzen.
Am 30. Mai 2018 kommt die „Enchantress II“ ins Wasser. Als sie vom Fischereihafen in den Neuen Hafen Bremerhavens motort wird, fährt die Eignerin zum ersten Mal auf ihrem Schiff mit. Der Darlehensgeber unternimmt Törns in der Nord- und Ostsee, und Rabe segelt erstmals mit ihrer „Enchantress II“ zur windreichen Rumregatta 2019. Wie erhofft, erlebt sie ihren Langkieler als Kombination aus Eleganz, Seegängig- und Schnelligkeit.
Vor Bremerhaven bewegt sich Ute Rabe an ihrem zweiten Segeltag an Bord vorsichtig, aber sehr erfahren. Allein kann sie ihr Schiff nicht führen. Sie hat also in ihrem Verein, der Schiffergilde Bremerhaven, eine fünfköpfige Crew zusammengetrommelt. Natürlich packt sie aber auch selbst mit an.
Steuermann Henning Schröder steht im geräumigen Cockpit am kleinen Steuerrad. Das ist schräg auf der Steuersäule montiert, unter der die Hydraulik sitzt. Diese Anordnung, bei der das Rad von der Seite bedient werden muss, ist charakteristisch für Alden-Entwürfe. Der Schoner lässt sich dank des kräftigen Diesels auch im Hafen gut manövrieren.
An Deck fällt die Kombination aus Traditionellem und Modernem auf. So wird die Schot der Baumfock durch klassische, aus geschlagenem Tauwerk gespleißte Tauwerksschäkel geführt; die Fallen an den beiden Masten werden auf Holznägeln in Nagelbänken belegt. Die Reffleinen der drei Reffs im Groß- und der zwei Reffs im Schonersegel werden hingegen mit Klemmen aus dem Yachtbereich belegt und bestehen aus modernem Tauwerk.
John Gale Alden hat zahlreiche Schoner entworfen. Sind mehrere Segel auf zwei Masten verteilt, bleibt jedes für sich in einer leichter handhabbaren Größe. Ein weiterer Vorteil der Schonertakelung sind die vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten in der Besegelung. Die frühesten Schonerentwürfe Aldens hatten Gaffelsegel an beiden Masten. Bevor zwei Bermudasegel in Mode kamen, gab es einige Entwürfe mit der Kombination aus Gaffel-Schonersegel und Bermuda-Großsegel, wie auch auf der „Enchantress II“. Über dem Schonersegel kann noch ein großer Fisherman zwischen den Masten gefahren werden.
Warum das mit lederummantelten Mastringen versehene Gaffel-Schonersegel im Unterschied zu den sonst weißen Segeln rotbraun ist? „Ganz einfach“, erklärt Ute Rabe: „Das liegt daran, dass es ein Geschenk war.“
Vom Cockpit geht es ins helle Deckshaus, in dem sich die moderne Navigationstechnik befindet. An Steuerbord bieten zahlreiche Schränke Stauraum. Neben dem zentral stehenden Tisch mit viel Platz für die Seekarte ist an Backbord eine Sitzbank mit dahinter liegender Lotsenkoje eingebaut. Hier bleibt der Schiffsführer auch während seiner Freiwache dicht am Geschehen.
An Steuerbord führt ein weiterer Niedergang in den Salon hinab. An Backbord steht in einer Glasvitrine ein Modell der ersten „Enchantress“. Hier wie insgesamt im Schiff sorgt der hochwertige Holzausbau für ein sehr stilvolles Ambiente. Dank der Oberlichter ist der gesamte Bereich unter Deck freundlich hell. Das U-förmige Sofa ist mit goldgelbem Leder bezogen, das von kalifornischen Rehen stammt, die Ute Rabe selbst erlegt hat. Der Salontisch ist das Meisterstück Klaus Rabes. Er lässt sich von seiner runden Form zum Quadrat oder zum größeren Oval ausklappen.
Gegenüber liegt die großzügige Pantry mit Vier-Flammen-Dieselherd und Backofen von Dickinson, Doppelspülbecken, Kühlschrank und Gefriertruhe. Eine Meerwasser-Entsalzungsanlage sorgt auch bei langen Törns für Unabhängigkeit. Führen diese in die hohen Breiten, erzeugt eine Heizung angenehme Wärme im Schiff. Weiter vorn liegt an Steuerbord eine Kabine mit Etagenbett und an Backbord der WC-Raum mit separater Dusche. Das Konterfei einer nackten Frau ist in deren Glastür geätzt.
In der Vorschiffskabine befinden sich zwei weitere Kojen. Eine Leiter führt von hier hinauf an Deck. „Die Kammer hat Klaus immer nur die Puppenstube genannt“, erzählt Ute Rabe in Erinnerung an die gemeinsame Bauphase.
Skipper Ludwig Richter startet die Maschine und lässt die Segel bergen. Es geht in die Schleuse zum Neuen Hafen – zurück zum Liegeplatz bei der Schiffergilde. Ute Rabe hat den Tag an Bord ihres Holzschoners sichtlich genossen. „Ende gut, alles gut“, resümiert sie nach der zeitintensiven und kräftezehrenden Entstehung ihres Schiffs. Sie hofft, dieses bald in verantwortungsvolle jüngere Hände übergeben zu können. Auf dass mit dem John-Alden-Schoner ähnlich spannende Reisen in den hohen Norden unternommen werden, wie sie das Ehepaar Rabe mit dem Vorgängerschiff gesegelt ist. Der langjährige Helfer Aquiles Rösner hat einen konkreten weiteren Törnziel-Wunsch für die „Enchantress II“: „Sie sollte eines Tages auf jeden Fall auch auf den Grand Banks segeln.“