Norske Jagt „Norden“152 Jahre altes Traditionsschiff wird abgewrackt

Stefan Schorr

 · 11.11.2022

Die marode "Norden" wurde am Dienstag in Neustadt an Land gehoben...
Foto: Oliver Bahr
Die marode "Norden" wurde am Dienstag in Neustadt an Land gehoben...

Segelnder Frachter, Motorboot, 30 Jahre lang Traditionsschiff unter deutscher Flagge: Die Norske Jagt „Norden“ blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Nun muss sie abgewrackt werden

Im Kommunalhafen von Neustadt/Holstein wurde am Dienstag das Traditionsschiff „Norden“ von zwei Kränen aus dem Wasser gehoben. Nach 152 Jahren ist die Geschichte des Schiffes vom Typ Norske Jagt damit zu Ende, eine Restaurierung ist nicht mehr möglich. Sie war eines der ältesten Segelschiffe der Welt.

Nachdem es in den vergangenen Jahren immer ruhiger um das Traditionsschiff wurde, drohte es im Juli schon zu sinken. Eine schnelle Rettungsaktion und der Einsatz von Tauchpumpen konnten das Ende ein wenig hinauszögern. Ursprünglich sollte der ehemalige Frachter aus dem Wasser gehoben werden, um das Ausmaß der Schäden zu begutachten. Schnell wurde jedoch klar, dass es um die „Norden“ schlecht steht. Kurz darauf startete dann das Abwracken des Schiffes.

Die Bilder vom Wrack der „Norden“

Die "Norden" nach dem Auskranen im Hafen von Neustadt
Foto: Oliver Bahr

YACHT stellte die „Norden“ 2020 ausführlich vor

Sie lag zuletzt in Neustadt in Holstein, wo Eigner Peter Fleck die YACHT 2020 an Bord bat und für ein Porträt der „Norden“ zur Verfügung stand. Fleck war Matrose bei der Küstenwache und machte 1985 sein Kapitänspatent. Bis 1988 fuhr er als Kapitän, dann begann durch eine Annonce in der YACHT ein neuer Lebensabschnitt für den begeisterten Yacht- und Jollensegler. Der damals 32-Jährige kaufte die inserierte „Norden“ in Bremerhaven von Otto Mertens. Da war das Schiff bereits seit zehn Jahren in Deutschland.

Bereits 1870 entstand in Skonevig in Norwegen (seit Beginn des 20. Jahrhunderts Skånevik geschrieben) die „Norden“ aus einheimischer Kiefer. Zwischen Stavanger und Bergen wurden am Skånevikfjord und den kleineren Nebenarmen Åkrafjord und Matersfjord zahlreiche Jagten gebaut. Das Schiff, das durchgehend „Norden“ heißt, gehört zu den vier Norske Jagten, die noch außerhalb Norwegens in Fahrt sind. Es ist neben der in Bremerhaven beheimateten „Grönland“ (siehe unten) von 1867 eine von zweien unter deutscher Flagge.

Nach dem Bau 1870 wurde das knapp 20 Meter lange und sechs Meter breite Schiff zum Transport von Fracht betrieben. Von Bergen aus wurde Bauholz, aber auch mal Post und sonstiges Gut des täglichen Bedarfs, an der norwegischen Küste entlang nach Norden verschifft. Nach Löschung der Fracht wurde auf den Lofoten getrockneter Stockfisch oder Klippfisch geladen, mit dem es zurück nach Bergen ging. Schon damals stand die „Norden“ im Ruf, ein ausgezeichneter Segler zu sein.

Norske Jagt: schnelle Schiffe für Jagd und Fracht

Schon die Typenbezeichnung verheißt Geschwindigkeit: Norske Jagt ist der Überbegriff für schnelle und wendige Schiffe aus Norwegen, die sich je nach Bau­region leicht unterscheiden. Jagten wurden vielfältig genutzt: als Frachtschiffe, von Behörden oder Lotsen, zum Fischfang oder für die Robbenjagd. Bekannteste Vertreterin dieser Gattung ist die Hardanger Jagt „Gjøa“, mit der Roald Amundsen Anfang des 20. Jahrhunderts als Erster die Nordwestpassage durchfuhr. Im 19. Jahrhundert segelten in Norwegen Hunderte Norske Jagten.

„Wir wissen von 20 in Norwegen gebauten Exemplaren, die heute noch unter norwegischer Flagge fahren“, berichtet Morten Hesthammer vom Fartøyvernsenteret in Norrheimsund. Das Zentrum für Schiffserhalt am Hardangerfjord hat seinen Ursprung in der Restaurierung der Jagt „Mathilde“ von 1884.

Holz-Ladung rettete die „Norden“ vor dem Untergang

1935 erhielt das 90 Tonnen verdrängende Schiff seinen ersten Motor. Anfang der vierziger Jahre schlug die „Norden“ vor der norwegischen Küste leck. „Sie ist nur deshalb nicht abgesoffen, weil das geladene Holz sie über Wasser hielt“, erzählt Peter Fleck. Die damaligen Eigner ließen das Schiff daraufhin grundlegend überholen. Mit neuem Heck und schärferen Linien segelte es fortan noch schneller. 1952 wurde das Rigg dennoch entfernt. Als Küstenmotorschiff mit großem Ruderhaus fuhr die Jagt noch bis 1978 als Kauffahrteischiff. 1956 erhielt sie abermals eine neue Beplankung.

„Die Schiffe wurden damals für eine Nutzung von 20, maximal 30 Jahren gebaut“, sagt Fleck. „Sollten sie danach noch weiter genutzt werden, wurden sie neu aufgeplankt.“ Nachdem die „Norden“ Ende der siebziger Jahre in Norwegen aufgelegt worden war, kauften deutsche Eigner das betagte Holzboot. Nach einigen Eignerwechseln gehörte es Otto Mertens. Er verkaufte die „Norden“, die inzwischen wieder ein Segelschiff mit 26 Meter langem Mast, 13 Meter langem Großbaum und fast neun Meter langem Bugspriet war, 1988 an Peter Fleck.

„Nix war fertig, vieles kaputt“, er­innert der sich. „Geschätzt habe ich das Schiff zu 50 Prozent neu gebaut.“ Fleck bringt seine „Norden“ in den Museumshafen Lübeck. Hier und auf der Werft J. Ring-Andersen im dänischen Svendborg findet die umfangreiche Restaurierung statt. Die Hälfte der Kieferplanken auf den Kieferspanten wird erneuert. Der Vorsteven wird neu gebaut, der Mast ersetzt und als nunmehr dritte Maschine in der Schiffsgeschichte ein 170 PS starker Diesel eingebaut. „Ich habe damals den Gegenwert eines Einfamilienhauses ins Schiff gesteckt“, erzählt Fleck in der rustikal gemütlichen Messe. Draußen prasselt der Regen derart aufs Holzdeck, dass es hier an mehreren Stellen von der Decke tropft.

„Heute Segel wie gestern“

Beim Ausbau des ehemaligen Lade­raums wurde auf unnötigen Luxus verzichtet. Im Vorschiff befinden sich acht groß­zügig bemessene Kojen, zwei davon Doppelkojen. Davor, im Bug, der Kettenkasten und Stauraum. Mittschiffs an Backbord die Pantry, an Steuerbord ein massiver Tisch und Bänke. Neben der steilen Niedergangstreppe liegt steuerbords die Nasszelle mit Toilette und Waschbecken. Kapitän Fleck bewohnt bei Törns mit seiner Frau Heike die Achterkajüte mit breiter Koje an Backbord, kleinem Navigationstisch und einer schmaleren Koje an Steuerbord, in der sich Bordhund Johnny wohlfühlt.

Nach der Restaurierung der „Norden“ wird diese zur Hauptbeschäftigung von Peter Fleck. Nur gelegentlich fährt der Nautiker noch als Steuermann auf Berufsschiffen. „Meine damalige Frau hatte einen gut bezahlten festen Job. Deshalb konnte ich mich voll auf das Schiff konzentrieren.“ Unter dem Motto „Heute segeln wie gestern“ vermittelt Fleck Trainees auf der „Norden“ traditionelle Segelschifffahrt. Die vielen Törns der nächsten Jahre führen in Nord- und Ostsee, in die Irische See und auf den nördlichen Atlantik an die Küsten Frankreichs und Spaniens.

„1989 waren wir eines der ersten Schiffe unter bundesdeutscher Flagge, das zum Jahreswechsel in Wismar in der damaligen DDR einlief“, erinnert sich Fleck und steckt sich eine weitere Zigarette an. 1992 führte die erste von mehreren Reisen in die Bretagne – zur Premiere der längst legendären Fêtes Maritimes de Brest. Auch bei vielen anderen nationalen und internationalen maritimen Großveranstaltungen ist die „Norden“ fortan regelmäßig zu Gast: Kieler Woche, Hanse Sail Rostock, Tall Ship Races.

Die „Norden“ als TV-Star bei der „Küstenwache“ und den „Buddenbrooks“

Nach dem ersten Besuch des Bauortes Skånevik im Jahr 1993 wird Norwegen immer wieder angelaufen. Bis nach Bergen hin­auf segelt Fleck die Küste ab. Drei Jahrzehnte mit seiner Norske Jagt sind voller erinnerungswürdiger Ereignisse. „Auf dem Salontisch wurde mal ein Luftröhrenschnitt durchgeführt“, sagt Fleck schmunzelnd. Glücklicherweise nur von Schauspielern gestellt; für die deutsche Fernsehserie „Küstenwache“ wurde an Bord gedreht. Im „wirklichen Leben“ kam es auf keinem Törn zu schweren Verletzungen. Für die vierte Ver­filmung von Thomas Manns „Buddenbrooks“ durch Regisseur Heinrich Breloer gleitet die „Norden“ 2008 durch den Hafen des auf historisch getrimmten Lübecks.

Das Schiff ist nicht nur sehr seetüchtig, sondern segelt auch wendig und schnell. Das klassische Jagt-Rigg besteht aus einem rund 130 Quadratmeter großen Gaffelgroßsegel, vier Vorsegeln und einem Gaffeltoppsegel. Die rund 260 Quadratmeter Segel­fläche am Wind können um 113 Quadrat­meter Breitfock ergänzt werden. Das hohe Rigg ergibt in Kombination mit dem aus­geprägten positiven Deckssprung, dem eleganten Spiegelheck und dem gefälligen Bug ein wahrlich klassisch schönes Schiff.

An Deck erinnern stark dimensionierte Ausrüstungsgegenstände an die Arbeitsschiffvergangenheit: robuste Festmacherpoller, die rustikale Bilgenpumpe, die alte Winde für den 80 Kilogramm schweren Anker. Die lange massive Pinne tauschte Peter Fleck vor 20 Jahren gegen eine hydraulische Radsteuerung aus, was das Manövrieren sehr viel einfacher machte. Die Pinne liegt nun beim Eigner zu Hause. Das befindet sich – ebenso wie der Dauerliegeplatz des Schiffs – längst in Neustadt.

In den letzten Jahren wurde es ruhiger um die „Norden“

Hier beginnt 2015 auch die letzte längere Reise der „Norden“ – abermals nach Norwegen. Im Mai 2017 nimmt die Norske Jagt an den Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag des Schwesterschiffs „Grönland“ in Bremerhaven teil. „Da wurde es aber schon deutlich ruhiger bei uns“, erinnert sich Fleck. Gesundheitliche Probleme bremsen ihn aus. Außerdem wird es zunehmend schwieriger, Helfer zu finden. Über Jahre war der Unterhalt seines Schiffs nur dank der Unterstützung vieler „Verrückter“ machbar, die seine „Norden“ ebenfalls von Herzen lieben. Nun sind beide Töchter Flecks längst erwachsen und im Berufsleben. Sein an Bord der „Norden“ mit dem Holzschiff-Virus infizierter Neffe Jasper Simon ist als Holzbootsbaumeister selbst Eigner eines norwegischen Spitzgatters von 1919 – um nur zwei Beispiele zu nennen.

Nach 30 Jahren, in denen die „Norden“ durchschnittlich 3000 Seemeilen pro Jahr loggte, blieb das Holzschiff, das zu den ältesten in Deutschland gehört, in den vergangenen Jahren immer häufiger im Hafen. Es verfiel allmählich. Im Frühjahr 2018 ver­längerte die Abteilung Schiffssicherheit der BG Verkehr das Schiffssicherheitszeugnis des Traditionsseglers nicht mehr.

Nicht mehr sicher, nicht mehr bezahlbar

„Eine Grundüberholung ist dringend erforderlich“, berichtete der Eigner der YACHT 2020. „Die ersten Planken, die ich einst erneuert habe, sind auch schon wieder über 30 Jahre alt.“ Neben der neuen Beplankung hätte das Deck abgedichtet und der Mast gezogen werden müssen. Außerdem waren umfangreiche Malerarbeiten nötig. Die neue Schiffssicherheitsverordnung (SchSV) für Traditionsschiffe forderte darüber hinaus ein Kollisionsschott, einen „feuersicheren“ Niedergang und neue Stabilitätsberechnungen. Die

Kosten für einen entsprechenden Werftauf­enthalt schätzt Peter Fleck auf mindestens 300.000 Euro. Selbst mit der vom Bundesverkehrsministerium in Aussicht gestellten Förderung für die in der SchSV geforderten Neuerungen war das für den privaten Tradi­tionsschiff-Betreiber nicht mehr zu stemmen. Also nutzte er seine „Norden“ seit 2018 nur noch privat.

„Meine Zeit mit der ‚Norden‘ ist um“, stellte Fleck damals nüchtern fest. „Ich konnte diesem wunderbaren Schiff einen weiteren Lebensabschnitt schenken. Nun hoffe ich auf jemanden, der bereit ist für das nächste Kapitel.“ Er hoffte, im Heimatland Norwegen einen Interessenten finden zu können. Diese Hoffnung hat sich nicht bewahrheitet.

Technische Daten Norske Jagt „Norden“

Foto: Joachim Staugaard
  • Takelung: Gaffelkutter
  • Baujahr: 1870
  • Bauort: Skonevig, Norwegen
  • Baumaterial: Kiefer auf Kiefer
  • Eigner: Kapitän Peter Fleck
  • Liegeplatz: Neustadt in Holstein
  • Länge über alles: 28,50 m
  • Rumpflänge: 19,80 m
  • Rumpfbreite: 5,95 m
  • Tiefgang: 2,40 m
  • Segelfläche: 260 m² am Wind u. 113 m² Breitfock
  • Maschine: Scania-Diesel, 170 PS

Das Schwesterschiff „Grönland“

Die 1867 in Norwegen gebaute „Grönland“ diente der ersten deutschen Polarexpedition 1868 als Einsatzfahrzeug. Die Gruppe unter Kapitän Carl Koldewey schaffte es bis 81 Grad und 4,5 Minuten nördlicher Breite, immer noch der Rekord für ein maschinenloses Schiff, das laut Zeitzeugen besonders „scharf beim Winde liege und außerordentlich gut lavire“. Verfehltes Ziel der ambitionierten Fahrt, die übrigens ohne Wissenschaftler stattfand, war der Nachweis, dass es jenseits des Packeisgürtels im Norden ein eisfreies Meer gäbe – so blieb dem Schiff mit seiner Besatzung der große Ruhm verwehrt. Von 1871 bis 1973 wieder unter norwegischer Flagge, gehört die „Grönland“ seither dem Deutschen Schifffahrtsmuseum. 2020 war sie monatelang in Hvide Sande in der Werft.

Die “Grönland” war an Polarexpeditionen beteiligtFoto: Deutsches Schifffahrtsmuseum Bremerhaven
Die “Grönland” war an Polarexpeditionen beteiligt

Teile dieses Textes erschienen 2020 erstmals in der Rubrik Das besondere Boot in der YACHT

Video: Die Norden wird aus dem Wasser gehoben