Thomas Käsbohrer
· 24.02.2023
An den europäischen Atlantikküsten häufen sich mysteriöse Orca-Angriffe auf Segelyachten. YACHT-Autor Thomas Käsbohrer hat 40 betroffene Crews nach ihren Erfahrungen befragt und sich dem Phänomen genähert. Sein Rat für die Begegnung mit den Meeressäugern
Den 1. November 2022 wird die vierköpfige Crew junger Franzosen nie vergessen. Sie befinden sich drei Segelstunden westlich der spanisch-portugiesischen Nordgrenze, als gegen 10.30 Uhr vormittags ein brutaler Knall die Yacht erschüttert. „Orcas“, denkt Augustin Drion. Er nimmt es anfangs gelassen. „Sie spielen jetzt halt ein paar Minuten herum und verschwinden dann wieder“, sagt sich der 29-jährige Meeresbiologe.
Die Crew stellt Maschine und Instrumente ab, wie die spanischen Behörden es dringend anraten. Doch statt sich zu beruhigen, attackieren die Schwertwale, unter denen auch ein Jungtier ist, die Segelyacht immer aggressiver. Langsam wird Augustin das Treiben der Orcas unheimlich, wie sie immer wieder das Ruderblatt rammen und mit aller Kraft daran rütteln.
Plötzlich hört er unter Deck das Knacken berstenden Materials. Als er und der Skipper ins Schiffsinnere eilen, klafft achtern am Ruderkoker ein etwa 80 Zentimeter langer Riss im Rumpf. Meerwasser quillt in die Heckkoje, während die Wale eine Handbreit unter ihnen das Ruder bearbeiten.
Ein Video der Crew, aufgenommen um 12.05 Uhr, zeigt, wie Wasser über Salontisch und Küchenzeile schwappt und der Skipper „Mayday“ funkt. Die Besatzung ist unter Deck damit beschäftigt, Trinkwasser, Dokumente und Nahrungsmittel einzupacken, bis ein schwedischer Skipper die vier abbirgt. Rund 40 Minuten nach dem ersten Mayday sinkt die französische Yacht vor ihren Augen.
Im Gespräch mit Augustin Drion wenige Tage nach dem Untergang der Yacht fällt der Hinweis, dass der Skipper vor seiner Atlantik-Überquerung das alte Ruder durch ein neues ersetzen ließ. War es möglicherweise so stark dimensioniert, dass sich die zerstörerische Kraft der vier bis sieben Tonnen schweren Orcas über das Ruder auf den Rumpf übertrug?
Was wie ein Detail aus Frank Schätzings Roman klingt, ist Wirklichkeit geworden. Seit im Sommer 2020 erstmals eine Yacht vor der Straße von Gibraltar attackiert wurde, wiederholen sich die Angriffe auf Yachtruder. Wolfgang Michalsky ist Gutachter im spanischen Huelva und untersucht seit vierzig Jahren beschädigte Yachten. Er sieht die Entwicklung mit Sorge: „Nicht nur die Zahl der Orca-Angriffe dürfte deutlich höher liegen als bisher angenommen. Ich gehe von rund fünfhundert Yachtschäden in zwei Jahren aus.”
Auch die Schwere der Beschädigung durch die Schwertwale nimmt nach meinen Beobachtungen zu.”
“Offiziell sind derzeit zwei Yachten infolge von Orca-Angriffen gesunken. Nach meinen Recherchen dürfte die Anzahl insgesamt gesunkener Yachten aber höher liegen.“
Aktuell berichten etwa drei Prozent aller Besatzungen, die auf Langfahrt an der Iberischen Halbinsel vorbeikommen, über leichtere bis schwere Schäden aufgrund von Begegnungen mit Orcas.
Die Auswertungen der durch die Angriffe entstandenen Hunderten von Schäden zeigen, dass es sich dabei zu 80 Prozent um konventionelle Segelyachten handelt, die allermeisten zwischen acht und 15 Metern, vereinzelt aber auch schon bis zu 35 Metern lang.
Doch es sind nicht nur Segelyachten betroffen: Die verbleibenden 20 Prozent entfallen auf Fischer-, Mehrrumpfboote, Motoryachten und Schlauchboote.
Im Jahr 2020 identifizierte man drei, im Herbst 2022 schon etwa 16 Tiere, die das ungewöhnliche Verhalten gegenüber Yachten zeigen. Nach allen Recherchen ist ihre Zahl aber noch größer.
Sie gehörten bislang alle zur Gruppe der Orca Iberica, etwa 50 Tiere, die in der meisten Zeit des Jahres – mit Ausnahme einiger Wochen im Winter – vor der Straße von Gibraltar ansässig sind.
Auch die Aktionen weiteten sich vom ursprünglichen Hotspot vor dem dortigen Fischerhafen Barbate auf die gesamte westliche Kontinentalküste aus. Die nördlichsten Attacken wurden vor der Bretagne, die südlichsten auf Fischerboote und Yachten vor der Atlantikküste Marokkos gemeldet.
Die Mehrzahl der Fälle ereignet sich allerdings in mehreren Hotspots vor der Iberischen Halbinsel wie Barbate oder A Coruña im Norden, in 2022 auch vor dem südportugiesischen Hafen Sines, der Tejo-Mündung sowie dem portugiesischen Grenzgebiet im Norden. Ins Mittelmeer verirren sich Orcas nur äußerst selten.
So verschieden die Attacken, so sehr gleichen sich Details aus dem obigen Bericht und den Erzählungen vieler befragter Skipper: die überraschende Plötzlichkeit einer Attacke, deren Heftigkeit die Skipper mit einer Grundberührung vergleichen. Die Zahl der beteiligten Tiere liegt meist zwischen einem und vier, unter denen fast immer ein Jungtier ist.
Die Interaktionen von Orcas mit Sportbooten sind vielfältig: gewaltsames Aufstoppen, Drehen der Boote um bis zu 360 Grad mit dem Kopf, Dreschen mit der Schwanzfluke auf den Rumpf. Ziel all dieser Aktionen ist aber ganz offensichtlich die Suche nach dem verwundbarsten Bauteil der Yacht: dem Ruderblatt.
Es gibt unzählige Theorien, warum Schwertwale sich ausgerechnet die Ruder von Segelyachten vornehmen, und es werden jeden Tag mehr. Sie reichen von Rache für den Tod eines durch einen Segler verletzten Orca-Babys über Aggression, zunehmende Nahrungskonkurrenz mit den Fischern in der Straße von Gibraltar über Spiel und Jagd bis hin zu Gehirnerkrankungen als Auslöser, warum die Tiere nicht mehr wie vor zehn Jahren die Nähe zu Booten meiden, sondern sie geradezu suchen.
Tatsächlich ist der Verschmutzungsgrad der Meere mit dem „dreckigen Dutzend“, jenen zwölf Umweltgiften wie PCB, die aufgrund ihrer Langlebigkeit selbst Jahrzehnte nach deren Verbot in Gewässern und Böden nachweisbar sind, erschreckend hoch – vor allem im Mittelmeer und besonders westlich der Straße von Gibraltar. Da Orcas Raubtiere ohne Fressfeinde sind, reichern sich im Körper der bis zu hundert Jahre alt werdenden Wale nicht abbaubare Stoffe an. Hohe Sterblichkeit bei Neugeborenen, verminderte Zeugungsfähigkeit und Fehlgeburten sind als Folge von PCB und anderen Stoffen längst belegt und bringen nicht nur die Orca-Population vor Gibraltar an den Rand des Aussterbens.
Die gängigste Theorie: Die zunehmende menschliche Interaktion vor allem in der verkehrsreichen Straße von Gibraltar durch Frachter, Fischer, Freizeitboote und schnell laufende Fähren habe jedes Maß überschritten und die Orca Iberica dazu gebracht, sich zur Wehr zu setzen.
Orcas sind mit dem Treiben an den Küsten sehr vertraut. Nach dem Menschen sind sie das am weitesten über den Erdball verbreitete Säuge-Lebewesen überhaupt. Wie der Mensch sind sie Küstenbewohner. Konflikte sind vorbestimmt – mit Fischern, die vor Gibraltar wie die Schwertwale nach Thunfisch jagen und die oft selbst zu Gehetzten werden.
Das Geräusch einer laufenden Winsch, mit dem die Fischer an Langleinen einen Thunfisch aus der Tiefe holen, ist für die Orcas das Signal „time for dinner“, bei dem sie sich auf den an der Leine zappelnden Fisch stürzen. Oft kommt nur ein zerfetzter Kadaver statt eines Thunfischs in Sushi-Qualität oben an.
Wer sich mit den Orcas näher beschäftigt, weiß, die Tiere wissen, was sie tun. Orcas haben ungeheuer viel Grips.”
Sagt Diplom-Biologe Fabian Ritter von WDC, dem deutschen Ableger der Whale & Dolphin Conservation. „Ihr Gehirn ähnelt dem des Menschen frappierend. Aber es ist doppelt so groß wie unseres und wiegt fünf Kilogramm, also mehr als dreimal so viel. Orcas besitzen dieses Gehirn schon mehrere Millionen Jahre, während wir erst seit 200.000 Jahren mit unserem arbeiten. Wir haben es da mit einer sehr alten Intelligenz zu tun. Und wir sollten immer wieder verblüfft sein, was die draufhaben.“
Tatsächlich ist man erstaunt, wenn Betroffene vom Einfallsreichtum der Orcas bei ihren Angriffen berichten. Der Düsseldorfer Thomas Kreuer nahm die Begegnung mit Schwertwalen, die vor A Coruña binnen Minuten seine Rudermechanik zerstörten, sehr gefasst. Doch die Stunde im Schlepp der spanischen Seenotrettung war für ihn die schlimmste seines Lebens. Drei Orcas auf der einen, drei auf der anderen Seite spielten mit der Yacht Pingpong und rammten sich dessen Boot von links nach rechts gegenseitig zu.
Auch der US-Segler Brandon Sails erlebte noch lange nach der Zerstörung seines Ruderblattes nach einem Orca-Angriff Horrorminuten: „Die Orcas waren weg. Bis auf einen. Sein Kopf ragte wenige Meter vom Boot entfernt aus dem Wasser, als verfolge er jede Bewegung der Menschen an Deck. In diesem Moment begriff ich das ganze Ausmaß ihrer Intelligenz. Er war ein Wächter, der aufpassen und die anderen alarmieren sollte, sobald ich die Maschine starten und weiterfahren würde.“
Wenn sich die Orcas nähern, sollte man so schnell wie möglich in die Gegenrichtung flüchten”
Erfahrungen wie diese sind vielfach belegt. Sie zeigen, dass es auch verblüffende und ungeahnte Zusammenhänge mit dem Verhalten der Schwertwale geben könnte. Und solche, die uns sprachlos machen. Der portugiesische Segler Arthur Skipper etwa, ein erfahrener Hundetrainer, ist bis heute überzeugt, einen Weg gefunden zu haben, mit den Tieren während ihrer Attacken kommunizieren und sie beruhigen zu können.
Bisher gab es zwischen Mitte Dezember und Mitte Februar in den Vorjahren eine Zeit, in der die Zahl der Schäden durch Orca-Angriffe gegen null ging. Aufgrund seiner statistischen Auswertungen brachte beispielsweise John Burbeck von der British Cruising Association im Gespräch die Überlegung ins Spiel, ob die Wintermonate nicht der beste Zeitraum wären, um die sogenannte Orca-Alley, wie britische Segler die Route um Westeuropa aufgrund der Schwertwalvorfälle mittlerweile nennen, zu passieren.
Aber 2023 ist alles anders. Ende Januar wirft eine spanische Segelcrew im Fischereihafen von Barbate ihre Leinen los, um die Straße von Gibraltar zu queren und die vier Stunden entfernte Marina im marokkanischen Tanger anzulaufen. Gegen 15 Uhr ist sie noch eine Stunde vom Ziel entfernt, als plötzlich an Backbord 30 Meter entfernt ein Orca mit einem scharfen Haken auf das Heck der Yacht zuhält.
Ein Crewmitglied hat die Szene geistesgegenwärtig im Video festgehalten. „Es sind zwei!“, kann der Betrachter einen der Mitsegler erregt warnen sehen. Es dauert keine zehn Sekunden, dann sind die Tiere am Ruder, als gäbe es für sie kein anderes Ziel. Einer der Mitsegler greift in den im Heck bereitstehenden Plastiksack und streut Sand ins Kielwasser der Yacht. Alles geht ganz schnell. Dann verwackelt das Video, die Aufnahme bricht ab.
Später wird er berichten, dass es drei Orcas waren, zwei größere und ein kleiner. „Wir begannen, Sand hinunterzuwerfen. Unser Video stoppte, weil wir zu zweit mit beiden Händen Sand warfen. Erst verschwanden sie, dann kamen sie wieder zurück. Wir hatten etwa 20 Kilogramm Sand dabei, und du musst unentwegt werfen.
Ich würde sagen, das funktioniert, aber man braucht eine Menge Sand, viel mehr, als wir dabeihatten. Sobald der Sand weg war, kehrten sie augenblicklich wieder zum Ruder zurück. Danach zündeten wir vier Firecracker im Abstand von 30 Sekunden, aber so richtig funktionierte auch das nicht. Die Orcas trafen insgesamt dreimal mit Schwung das Ruder, aber nach gefühlten zwei bis drei Minuten waren sie fort.“
War es nur eine kurze Attacke? War die Gegenwehr gegen den Orca-Angriff mit Sand erfolgreich? Hatte die Crew einfach nur Glück, weil die Orcas an diesem Tag ihr „Soll“ an demolierten Rudern bereits erfüllt hatten? Unter 40 detailliert befragten Skippern sind nur wenige, bei denen aktive Gegenwehr durch Lärm, Rückwärtsfahren oder sonstige Maßnahmen Schwertwale von ihrem Tun abhalten oder vergrämen konnte.
Gegenwehr ist so wenig ein verlässliches Mittel wie dessen Gegenteil. Die Empfehlung der spanischen und portugiesischen Behörden: „Sofort Fahrt unterbrechen, Echolot und Motor abstellen“, führte nur bei wenigen Befragten zum Erfolg.
Auch Walexperten sind sich uneins. Renaud de Stephanis, der seit zwei Jahrzehnten über Meeressäuger forscht und zwischen betroffenen Fischern, Seglern und Walschützern zu vermitteln sucht, experimentiert derzeit mit Geldern der spanischen Behörden auf umgerüsteten Segelyachten und forscht nach verträglichen Methoden, die Tiere fernzuhalten.
Er empfiehlt das genaue Gegenteil und wird nicht müde zu betonen: „Sand ausschütten bringt nichts. Sollten sich Orcas nähern, sollte man so schnell wie möglich in die Gegenrichtung flüchten.“
An Widersprüchen wie diesem wird klar, dass wir weit entfernt sind von sicheren Aussagen, was Ursachen und verlässliche Abwehrmaßnahmen betrifft.
Nur so viel steht fest: Wer einen Törn von den deutschen Küsten ins Mittelmeer plant, sollte sich genauso intensiv mit dem Phänomen der Orcas beschäftigen wie mit dem Wetter an der Atlantikküste. Neue Apps wie Orcinus oder Berichte auf den Seiten der British Cruising Association helfen, den aktuellen Standort und die letzten Vorfälle zu verfolgen.
Was immer diese intelligenten Tiere veranlasst, auf Ruder von Segelyachten loszugehen: Was sie tun, ist auch eine Botschaft an uns, nicht nur als Segler, sondern auch im Alltag über unseren Umgang mit den Meeren nachzudenken.
Oder, wie es der Meeresbiologe und Walforscher Jörn Selling formuliert: „Mir tut es leid für die Segler. Vielleicht bezahlt ihr mit euren Segelbooten für das, was andere den Orcas angetan haben. Aber vielleicht seid ihr ja die besseren Botschafter, die zu einer positiven Veränderung führen.“
Nach seinem Berufsleben als Journalist, Autor, Filmemacher und Verleger ist der mit seiner Frau am Starnberger See lebende Segler mehrere Monate im Jahr an Bord seiner „Levje“ auf den europäischen Küstengewässern unterwegs. Dabei entstanden schon zahlreiche Bücher. Für seinen aktuellen Titel „Das Rätsel der Orcas“ (millemari, 24,95 Euro, auch als E-Book und Hörbuch) befragte Käsbohrer eine Vielzahl von Experten und 40 Skipper über ihre Begegnungen mit Schwertwalen und die Frage, warum sie Yachten angreifen.