Jochen Rieker
· 04.11.2022
Boris Herrmann dämpft allzu hohe Erwartungen an sein erstes Solo-Rennen mit „Malizia – Seaexplorer“. Woran es ihm fehlt, was er erwartet, wen er favorisiert
Wir sprachen mit Boris Herrmann kurz vor dem Start in Saint-Malo, in einer der raren Ruhephasen seit dem Stapellauf. Dabei war die Anspannung spürbar, die Entwicklung, Bau und Erprobung seines neuen Imocas mit sich brachten – aber auch der Stolz auf dieses ambitionierte Projekt.
Ich bin gerade ziemlich erschöpft.
Ach, gut. Es ist ’ne gute Basis, aber auch noch viel Arbeit.
Ja, ja, das schon. Aber wir werden zur Route du Rhum noch nicht überall da sein, wo wir hinwollten.
Nee, nicht wirklich. Aber ich wäre gern weitergekommen bei der Entwicklung der ganzen Systeme.
Es ist wirklich eine ganz andere Herausforderung. Letztes Mal hatte ich vor der Route du Rhum wirklich viel gesegelt, ich kannte das Boot sehr gut. Jetzt testen wir erst seit gut acht Wochen und hatten nur ein einziges Mal Wind. Wir kennen das Boot also eigentlich noch gar nicht richtig. Das fehlt mir.
Bei der Défi Azimut (dem ersten Rennen mit Crew) hatten wir 20 bis 25 Knoten Wind, auch mal kurz 30. Da konnten wir raumschots und am Wind testen. Aber wir hatten noch kaum Reaching-Kurse unter solchen Bedingungen. Und wirklich nie mehr Wind.
Die Liste ist für mich nach den letzten Tests vor Port-la-Forêt Mitte Oktober jetzt geschlossen. Wir können bis zum Start nicht mehr viel holen.
Nee. Die Zeit ist schlicht abgelaufen, um noch mehr zu machen. Wir müssen mit dem Mangel an Vorbereitung jetzt einfach leben.
Das ist noch zu früh. Wir stehen wirklich ganz am Anfang. Wir haben einen ganz guten ersten Eindruck, aber so richtig kann ich noch nicht sagen, wo wir stehen im Vergleich zu den Wettbewerbern.
Es hört sich so an, als wäre das Boot noch eine Art Überraschungsei. Ja, genau. Ein bisschen ist das so. Wir lernen halt noch. Ich geh deshalb weniger in ein Rennen, sondern eher auf eine Langstrecke, auf der vor allem zählt, sicher ins Ziel zu kommen. Das wär schon mal ein schöner Erfolg.
Ja, da war ich noch ein Rookie in der Imoca-Klasse. Der fünfte Platz war das, was ich mir damals als bestmögliches Ergebnis ausgerechnet hatte. Das erreicht zu haben war eine große Erleichterung, aber auch keine große Überraschung für mich. Ich hatte mich ja sehr gut vorbereitet, viel trainiert.
Jetzt haben wir viele Unbekannte in der Gleichung. Das Feld ist doppelt so groß. Sieben neue Imocas sind am Start. Die kann man viel schwerer einschätzen. Aber das Ergebnis hat wirklich keine große Priorität für mich. Wir müssen wie alle anderen Teams mit neuen Booten vermutlich erst mal Lehrgeld zahlen. Das ist ganz normal.
Das geht schon. Es ist ’ne schöne Ambition. Für die Qualifikation für die nächste Vendée Globe muss ich nicht ankommen, da reicht es, die Startlinie zu passieren, dann bin ich 2024 in Les Sables-d’Olonne dabei.
Doch. Es hängt ja auch nicht so sehr von mir ab. Ob ich ankomme, liegt zu 90 bis 95 Prozent am Team und daran, wie gut die das Boot hinkriegen. Ich weiß ja, wie man segelt. Wenn du mir das alte Schiff gibst, dann könnte ich dir sagen, wo ich in etwa landen müsste. Aber bei der neuen „Malizia“ spielt vor allem die Frage eine Rolle, wie gut das Technik-Team es schafft, sie zuverlässig zu machen. Das ist sie zurzeit noch nicht.
Ich glaube, Paul Meilhat (Skipper der „Biotherm“, die Red.) hat noch mehr zu tun als wir. „Charal“ und „Holcim PRB“ sind etwas weiter. Bei „Maître Coq“ weiß ich’s nicht, die haben wir nicht auf dem Wasser gesehen; aber die haben ein sehr gutes Team. Und „V & B Mayenne“ sieht sehr gut aus, die haben viele Trainingsmeilen gesegelt. „Initiatives Cœur“ ist vermutlich noch nicht ganz auf unserem Level. Aber ich kann das nur sagen von dem, was man am Steg sieht, wie viel die schrauben. Eine wirklich belastbare Aussage über die neuen Boote kann man eigentlich erst in anderthalb Jahren treffen. Das war auch bei der vorigen Generation so. Das dauert einfach. Es ist ein Teil der Herausforderung, der wir uns stellen.
Nee, gar nicht. Es ist für mich kein Wettkampf diesmal. Und das war es letztes Mal auch nicht. Vor vier Jahren war es mein erstes Imoca-Solo; jetzt wird es meine erste Einhand-Regatta mit dem neuen Schiff. Ich sehe es eher als eine Art Probe. Ein wirkliches Rennen wird die Route du Rhum eindeutig für Charlie Dalin und Thomas Ruyant. Die haben ihre Kampagnen so ausgerichtet, dass sie mit ihren Booten, die jetzt auf dem Zenit sind, um den Sieg segeln können. Der Logik nach muss Charlie eigentlich gewinnen, Thomas Zweiter werden – und dann muss man schauen. Könnte schon sein, dass hinter denen ein neues Schiff aufs Podium kommt. Wenn „Charal“ keine Schwierigkeiten hat, ist die ziemlich schnell.
Null, würd ich sagen! Die Foils sind ja jetzt viel größer als 2018, das ist gar kein Vergleich. Wir kommen viel früher aus dem Wasser. Bei der Route du Rhum setze ich auf einen ganz klaren Sieg von Charlie Dalin. Er hat alle Rennen der Saison gewonnen, ist auch im Training schneller als alle anderen. Bei der Langstrecke der Défi Azimut war er einhand schneller als „11th Hour“ mit voller Mannschaft. Der ist so gut, dass er Segelmanöver effizienter hinkriegt als wir mit Crew. Er ist derzeit einfach der beste Skipper mit dem besten Schiff.
Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht. Doch, ein bisschen ärgern würd ich mich schon! Aber meine Perspektive ist eindeutig längerfristig. Im Übrigen glaube ich schon, dass wir eine Chance haben, ältere Boote zu schlagen. Wenn wir im Training unsere Bedingungen finden, dann fährt die neue „Malizia“ schon weg. Aber ich bin da ganz entspannt – ehrgeizig, aber entspannt. Es geht um mehr als die Route du Rhum.
Das ist irgendwie paradox. Ich glaube, ich hab alle Motivation und bin auch ehrgeizig. Aber ich werde nicht enttäuscht sein, wenn’s nicht klappt. Ich kann das Ergebnis auch nicht auf meine Schultern nehmen. Es ist zu 90 Prozent vom technischen Team abhängig. Und das ist so gut, wie wir es aufstellen. Es ist am Ende eine Management-Aufgabe. Das ist das Spannende und Komplexe bei unserem Sport. Die Route du Rhum ist im Vergleich dazu ein Schaulaufen, nur eine allererste Positionsbestimmung.
Ich verspüre keinen Druck von außen, von den Sponsoren. Ich will natürlich auch nicht unnötige Risiken eingehen. Ich versuche einfach, die Arbeit, die wir geleistet haben, in Szene zu setzen. Und da bin ich schon ganz stolz, wenn wir ankommen mit dem neuen Schiff. Meine These ist: Die Hälfte der neuen Boote wird es nicht ins Ziel schaffen. Die Frage ist, ob es drei oder vier sein werden, die aufgeben müssen. Im Training haben wir das in Ansätzen gesehen. Da geben alle am Anfang alles, und nach ’ner halben Stunde oder Stunde ändert jemand den Kurs um 90 Grad und ist weg, weil er was sortieren muss. Wir stehen alle so sehr am Anfang. Ankommen ist da schon ’ne Riesenleistung.
Überhaupt: Ein neues Boot so auf den Punkt zu bringen, nach acht Wochen Segeln, das hat noch nie jemand geschafft. Alle haben gesagt, das sei unmöglich. Wir sind ja die Einzigen, die nach der Vendée angefangen haben auf einem weißen Blatt Papier! Andere haben bestehende Bauformen genommen oder ein existierendes Design kopiert. Das ist ein enormer Unterschied. Da fallen 25.000 bis 30.000 Stunden Entwicklungszeit einfach weg. „Charal“ sticht dagegen raus, das ist ein komplett neues Schiff, sehr ambitioniert. Aber die hatten die groben Linien schon vor dem Start der Vendée Globe fertig. Das kann man mit unserem Projekt nicht vergleichen. Deshalb wäre anzukommen bei der Route du Rhum wirklich herausragend, egal auf welcher Position. Wir haben schon starke Momente erlebt. Wir wissen: Das Schiff hat eine gute Basis. Vielleicht müssen wir noch modifizieren, die Segel umschneiden, Foils ändern. Aber wenn es jetzt läuft, wird es gut weitergehen.
Jetzt auf jeden Fall. Wenn das Rennen gestartet ist, dann liegt es nicht mehr in seiner Hand, dann kann es erst mal entspannen. Nach der Route du Rhum aber geht es gleich weiter. Im Moment sind wir in einer Peak-Phase, in der alle wirklich viel zu tun haben.
Was steht vor dem Ocean Race an? Wir werden in Alicante, vor dem Start, etwa sechs Wochen für die Vorbereitung haben. Das ist genug Zeit, um noch mal alles zu checken und einen schnellen Refit zu machen. Das Boot nehmen wir aus dem Wasser, Mast, Kiel, Ruder kommen raus. Aber wir wollen auch die Rücküberführung von Guadeloupe bestmöglich nutzen, um die noch fehlenden Erfahrungen zu sammeln, Segel zu testen. Das wird eine gute Mannschaft machen, unter der Führung von Will Harris. Sie werden auf dem ersten Teilstück in einer Art Rennmodus gegen drei andere Imocas segeln. Ich selbst werde nicht an Bord sein. So versuchen wir die Tatsache, dass wir den Spätsommer über nie so richtig Wind hatten, auszugleichen. Wir haben bestimmte Segel noch nie im Einsatz gehabt. Das ist eigentlich absurd.
Alle, die in Extrembereichen etwas erreichen wollen, versuchen dieses Potenzial zu nutzen und zu optimieren: Unternehmer, Musiker, Künstler, Sportler. Das ist heute ja fast der Normalfall. Leider hatte ich dieses Jahr zu wenig Zeit dafür. Wir haben nur zweimal miteinander geredet. Vor vier Jahren war ich gut vorbereitet auf das Rennen. Dieses Mal fahr ich mehr oder weniger nur das Schiff rüber.
Nein, das passiert ganz automatisch. Wir sind alle Profis, wir arbeiten ja in der Vorbereitung schon permanent zusammen. Das macht also keinen großen Unterschied. Am spürbarsten ist das in der Freiwache. Wenn du weißt, dass das Schiff in der Hand der anderen ist, kannst du viel schneller abschalten und besser schlafen. Für mich gibt es diese Differenzierung zwischen Solo- und Crewsegeln deshalb gar nicht so sehr.
Ich hab „Malizia“ sicher viel mehr mit Mannschaft gesegelt als einhand. Deshalb wird die Route du Rhum schwieriger als das Ocean Race, ja.
Das Entscheidende wird sein, meine Batterien wieder ganz aufzuladen nach dem anstrengenden Sommer. Ich mach vor der Überführung nach Saint-Malo eine W–oche Pause, und dann geht’s auch schon ins Race Village. Die Tage sind gezählt, und ich muss schauen, dass ich mich ganz auf die Route du Rhum konzentriere.
Ich glaube, ich hatte aufgrund dessen in der Vorbereitung einen noch akribischeren Blick, auch einen höheren Anspruch. Letztes Mal fehlte mir ganz einfach noch die Erfahrung. Das fließt jetzt ein und wird es mir leichter machen. Klar wäre es von Vorteil, noch mehr gesegelt zu sein. Aber das ist nun so.
Wenn’s geht, ’ne Runde kiten (lacht). Dann ganz schnell zurück und erholen. Ich nehme mir zehn Tage frei. Man spricht ganz viel über Vorbereitung, aber genauso wichtig ist auch die Nachbereitung. Nach der Vendée kam das zu kurz, weil ich nicht die Zeit hatte. Aber die Fragen sind geblieben: Wie erholt man sich, um schnell wieder Energie zu haben für die nächsten Herausforderungen – und für die Familie.
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