YACHT-Redaktion
· 09.11.2022
Die Veranstalter der Route du Rhum haben in den vergangenen Tagen hohe Erwartungen an den Rennverlauf geweckt. Aufgrund der wetterbedingten Verschiebung des Starts seien in allen Klassen neue Rekorde zum Greifen nahe. Theoretisch mag das stimmen, in der Praxis ist es alles andere als gewiss, sagt Jure Jerman, der Mann hinter dem Routing-Programm Dorado Sail, der unter anderem den Topfavoriten in der Imoca-Klasse, Charlie Dalin auf ”Apivia”, berät. Hier exklusiv für YACHT online seine Einschätzung:
“Die Verschiebung des Route-du-Rhum-Starts von Sonntag auf Mittwochnachmittag 14.15 Uhr hat den Skippern mehr Zeit verschafft für die Vorbereitung. Doch aus dem Schneider sind sie keinesfalls. Zwar wird die Situation am Ausgang des Kanals in der Tat besser sein, aber sie werden immer noch mit mindestens zwei Fronten konfrontiert sein, die Winde von 40 bis 50 Knoten und schwere See bringen!
Der Nordatlantik ist in diesen Tagen wettertechnisch sehr aktiv. Tiefe Tiefdruckgebiete, die mit Wetterfronten verbunden sind, ziehen von Grönland in Richtung Irland und weiter nach Schottland. Ihr Einfluss reicht ziemlich weit nach Süden, die Windkarte für Donnerstag zeigt einen tiefen Trog, der bis zu den Azoren und noch weiter südlich reicht. Das verheißt nichts Gutes.
Bei den Südwinden, die in den ersten Tagen des Rennens auf der Ostseite des Troges vorherrschen, haben die Teilnehmer keine andere Chance, als nach Verlassen des Englischen Kanals nach Westen und, wenn sie dem Routing folgen, sogar ein wenig nach Nordwest zu segeln. Dabei werden die Skipper der Class 40 am Freitagmorgen mit der ersten Wetterfront konfrontiert, die 40 Knoten Wind und mehr bringt, verbunden mit einer signifikanten Wellenhöhe von gut fünf Metern und Kreuzseen, die der Schwell aus dem Westen und Windwellen aus dem Süden erzeugen. Für die Ultim-Trimarane und die Imocas wird dies sogar noch früher und etwas heftiger geschehen, mit Windstärken von über 50 Knoten in Böen.
Auch nach dem Durchzug der Front bleiben die Winde aus Südwest vorherrschend und drehen schnell wieder auf Süd. Die nächste Wetterfront folgt weniger als 24 Stunden nach der ersten, mit Sturm derselben Intensität und großem Seegang. Unmittelbar danach wird der Wind auf West drehen, sodass die Skipper beginnen können, auf Südkurs zu gehen.
Die einzige Möglichkeit ist, dass sie nach dem Passieren des Verkehrstrennungsgebiets im Nordwesten der Bretagne hart am Wind segeln, um den beiden Fronten ein paar Grad weiter südlich mit etwa fünf bis acht Knoten weniger Wind und entsprechend kleineren Wellen zu begegnen. Aber auch das wird ein harter Kampf sein.
Ein weiteres Problem ist die Wetterentwicklung, wenn die Flotte die Azoren passiert: Die Frage ist, wie es mit dem Azorenhoch weitergehen wird. In den letzten Tagen zeigten die Vorhersagen ein schönes Hoch leicht westlich der Azoren mit gut etablierten Passatwinden südlich davon.
Nach den letzten Wettermodellen, die in die Routing-Software eingeflossen sind, hat sich die Situation jedoch ziemlich verändert: Das Azorenhoch ist weiter nach Osten gewandert (ECMWF-Modell) oder hat seine Form verloren (GFS-Modell). Dies würde eine langsame Überquerung des Hochdruckgebiets bedeuten, um in den Passat zu gelangen.
Die diesjährige Route de Rhum wird auf jeden Fall eine große Herausforderung mit starken Winden und hohem Seegang in den ersten Tagen des Rennens. Werden die Skipper der Route folgen, die westlich der Azoren vorbeiführt? Ich weiß es nicht. Es wird viel von der vorhergesagten Position des Azorenhochs und der Möglichkeit abhängen, in den Passatwind zu kommen, sowie von der Entscheidung, das Boot zu schonen.
Sind die Zeitvorgaben für das Rennen (6 bis 7 Tage für Ultims, 11 Tage für Imocas und 15 Tage für Class 40) bis Guadeloupe realistisch? Wahrscheinlich nicht, da die Routings die Auswirkungen des rauen Seegangs während der ersten Etappe des Rennens unterschätzen. Warten wir es ab, und wünschen wir den Seglern ,fair winds’ und eine gute See!”
Jure Jerman, Dorado Sail