“Malizia – Seaexplorer”An Bord bei Boris Herrmann im Ocean Race

Jochen Rieker

 · 26.02.2023

Sichelförmig. Die neuen Foils sind gutmütiger.  Das Steuerbord-Profil zeigt aber bereits Risse
Foto: Ricardo Pinto/Team Malizia

Auf Ersatz-Foils ist Boris Herrmann ins Ocean Race gestartet. Werden sie halten? Wir sind vor Alicante das In-Port Race auf der “Malizia – Seaexplorer” mitgesegelt. Einblicke in die diffizile Welt der fliegenden Imocas

Berichte über dieses mutmaßlich extremste, innovativste und schnellste Einrumpfboot, das jemals unter deutscher Flagge segelte, sind immer Momentaufnahmen. Sie spiegeln nur einen temporären Zustand, der kurz darauf schon überholt sein kann – aufgrund von Weiterentwicklungen oder von Schäden. Das hat die zweite Etappe von The Ocean Race einmal mehr deutlich gemacht.

Auf neuen Foils ins Rennen gestartet, die ursprünglich für ein ganz anderes Schiff gebaut worden waren, gab „Malizia – Seaexplorer“ im Südatlantik, rund 3.000 Seemeilen von Kapstadt entfernt, ihrer Crew plötzlich Rätsel auf. Risse an dem im Rumpf gelagerten Schaft des Steuerbord-Flügels deuteten an, dass auch die eilig eingebauten Ersatzprofile den Belastungen im Seegang möglicherweise nicht gewachsen sind. Will Harris, der als Skipper für den am Fuß verletzten Boris Herrmann eingesprungen war, sprach am 1. Februar in einem Video von Bord erstmals über das Problem. Er wirkte geknickt, konsterniert. Denn eigentlich wollte das Team, das in den Kalmen den Kontakt zur Spitze verloren hatte, im Südost-Passat vor der brasilianischen Küste endlich Druck machen.

„Wir haben festgestellt, dass wir einen kleinen Schaden am Steuerbordprofil haben“, sagte Harris, der seit Jahren zum Kern der „Malizia“-Crew zählt. „Wir müssen also viel vorsichtiger damit umgehen und hoffen, dass es nicht noch schlimmer wird, denn es gibt im Grunde keine Möglichkeit zu reparieren.“

Gravierender noch: Bräche das Foil, wäre das Ocean Race für das deutsche Team gelaufen. Denn es gibt keinen Ersatz mehr, der sich zeitnah einbauen ließe. Im Interview mit der YACHT nur zwei Tage vor Bekanntwerden der Risse an der Achterkante bestätigte Boris Herrmann: „Eine Alternative gibt es nicht mehr. Diese Foils dürfen nicht kaputtgehen.“ Am Ende haben die Foils gehalten, “Malizia” lag nach einer Aufholjagd bis kurz vor dem Ziel in Kapstadt sogar in Führung. Dort wurden vor dem Start der dritten Etappe die Foils nochmals verstärkt.

Viele Kinderkrankheiten bei “Malizia”

Es war nicht das erste Mal, dass die Fans des Hamburger Skippers zittern und stark sein müssen. Schon in der Anfangsphase der Route du Rhum haderte Herrmann mit etlichen Maleschen: Erst zickte der Motor, dann rauschte ein Backstag aus, woraufhin die Lasching des permanent gefahrenen Vorstags der Genua 2 lose kam. Schließlich brachen die Bolzen am oberen Foil-Lager; das eigentlich für schweres Wetter optimierte Boot lahmte just dann, als es auf seine Idealbedingungen traf: frischen, stark böigen Passat von achtern mit zwei bis drei Meter Seegang. Während Charlie Dalin, Thomas Ruyant und ihre Verfolger Etmale von 500 Seemeilen loggten, segelte Herrmann mit eingezogenen Flügeln im Schongang hinterher, mit nur 15 Knoten, als die Besten mehr als 25 Knoten machten.

Auch die Rücküberführung von Guadeloupe zum Starthafen des Ocean Race verlief nicht ohne Probleme. Als die Techniker das Boot in Alicante inspizierten, fanden sie schon mit bloßem Auge lange Risse im Schaft der Foils. Eine anschließende Ultraschall-Untersuchung ergab noch weitergehende Schäden: bis zu 20 Millimeter tiefe Brüche im Vollcarbon-Laminat. Die ausgefahren rund vier Meter breiten Schwingen, in einem hochmodernen Verfahren von einem Roboter aus High-Modulus-Kohlefaser gefertigt, waren damit Sondermüll. Verlust: um die 600.000 Euro.

Diese Boote sind sehr komplex. Sie brauchen ein, zwei Jahre Reifezeit. Manches verstehen nicht mal die Konstrukteure bisher so ganz – etwa, warum die Original-Foils gebrochen sind” (Boris Herrmann)

Dass Team-Direktorin Holly Cova in Windeseile neue Foils auftreiben konnte, erwies sich als Glücksfall. Das Ersatzpaar mit den sichelförmigen Spitzen war eigentlich für den noch im Bau befindlichen Imoca des ehemaligen Class-40-Champions Phil Sharp bestimmt. Dessen Boot wird erst im Frühsommer zu Wasser gehen, weshalb er die Flügel entbehren konnte.

Konstruiert hat sie Sam Manuard, einer der aktuell angesagtesten Architekten der Klasse. Und wie durch eine Fügung ließen sie sich ohne größere Umbauten in die Rumpfstruktur von „Malizia – Seaexplorer“ einpassen. Die Operation am offenen Herzen dauerte dennoch mehrere Wochen und beschäftigte die Komposit-Spezialisten im Team über die gesamten Feiertage nonstop bis Anfang Januar.

Imocas werden um die Foils herum gebaut

Man muss sich die Foils wie das Fahrwerk eines Formel-1-Boliden vorstellen, eigentlich noch mehr als das. Weil Masthöhe und Segelfläche durch die Klassenregeln limitiert sind, der „Motor“ also gedrosselt ist, werden die Tragflügel zur wichtigsten Komponente für die Leistungsfähigkeit der neuesten Imoca-Generation. Robert Stanjek, Co-Skipper der französisch-deutschen Kampagne „Guyot Environnement – Team Europe“, sagt: „Die Boote werden heute im Prinzip um die Foils herum gebaut.“

Wie früh sie den Rumpf anheben, wie waagerecht und stabil sie ihn übers Wasser rutschen lassen, wie gut sie Winddreher oder Böen parieren können, wird am Ende über Sieg oder Platz entscheiden. Und natürlich: Wie zuverlässig sie funktionieren.

Insofern war der Foil-Umbau von „Malizia“ ein gewaltiges Experiment. Würden die neuen, für ein deutlich leichteres und filigraneres Boot entwickelten Profile mit dem voluminöseren Rumpf harmonieren? Würden die Leistungsparameter passen? Wie würden sich aufgrund der grundsätzlich anderen Flügel-Form die Segeleigenschaften verändern?

Idealzustand. Das Foil hebt den Rumpf bis auf Höhe des Masts anFoto: Jimmy Horel/Team Malizia
Idealzustand. Das Foil hebt den Rumpf bis auf Höhe des Masts an

Als die Crew zehn Tage vor dem Start zur ersten Etappe des Ocean Race zum Probeschlag auslief, herrschte an Bord spürbar Nervosität. Der Wind wehte ablandig und mit um die zwölf Knoten nur mäßig, doch es sollte reichen, um den Imoca ins Foilen zu bringen. Auf Halbwind-Kurs hob „Malizia – Seaexplorer“ mühelos ab und erreichte über weite Strecken 15 bis 17, in der Spitze sogar 18 Knoten Fahrt. Beim zweiten Test in frischeren Bedingungen loggte sie bis zu 28 Knoten. Im In-Port Race, einer Art Präludium eine Woche vor dem offiziellen Start des Ocean Race, holten Boris Herrmann und sein Team sogar den Sieg.

Die Foils bleiben die Problemzone von “Malizia”

Alles gut also? Foil-Umbau geglückt, Boot in Bestform? So sehr der Auftakt Anlass zur Hoffnung bot, so sehr blieben auch Fragezeichen. Denn die neuen Tragflügel zeigten schon beim zweiten Test Verschleißspuren am Schaft, die das Team für sich behielt. Um auf Nummer sicher zu gehen, laminierten die Bootsbauer noch vor dem ersten Start im Foil-Kasten zwischen oberem und unterem Lager zwei Millimeter dick Carbon-Gelege auf – so viel, wie eben möglich war, um das Aufholen und Abfieren der Profile nicht zu beeinträchtigen.

Die neuen Imocas sind so schnell! Im einen Moment kannst du vorn liegen, im nächsten hinten. Da reicht ein kleiner Fehler, eine falsche Entscheidung bei der Kurswahl” (Nico Lunven)

Beunruhigender noch: Bisher gibt es nur verschiedene Thesen, aber keine gesicherte Erklärung für den Bruch. Die Ingenieure des Konstruktionsbüros VPLP, die den Imoca gezeichnet haben, suchen noch nach der Ursache; auch Avel, der Hersteller der Profile, ist beteiligt. Vor Kurzem wurden die Original-Foils erneut per Ultraschall untersucht. Es könne „noch zwei, drei Monate dauern, bis wir verstehen, was passiert ist“, sagt Boris Herrmann.

Erst dann kann das Team über haltbarere, womöglich noch effizientere Flügel nachdenken – sofern das Budget ein weiteres Paar hergibt. Fürs Ocean Race wird das zu spät sein, weil allein der Bau – vorausgesetzt, man fände freie Kapazitäten, was fraglich ist – mindestens drei bis vier Monate dauern würde.

Im ungünstigsten Fall, wenn sich die jüngsten Schäden als zu gravierend erweisen sollten, könnte sogar die Teilnahme am weiteren Rennverlauf auf dem Spiel stehen. Denn Foils, die dynamischen Lasten von mehr als 20 Tonnen standhalten müssen, lassen sich nicht beliebig reparieren und auch nur eingeschränkt verstärken.

“Malizia” ist für das raue Südmeer geschaffen – aber deswegen auch sehr schwer

Endstation Kapstadt? Es ist ein nicht vollkommen auszuschließendes Szenario – auch wenn es für das Team und seine Hunderttausenden Fans höchst schmerzhaft wäre, das Ocean Race vor der längsten, härtesten, der Königsetappe zu quittieren. Zumal „Malizia“ ja genau dafür konzipiert wurde – fürs raue Südmeer.

Daher hat sie so viel Freibord, darum die extremste Bugsektion, dafür hat sie mehr Kielsprung: alles Maßnahmen, damit sie sich nicht in den Rücken vorauslaufender Seen bohrt, wenn sie schneller als diese unterwegs ist. Deshalb auch die extrem robuste Bauweise mit Schotten, Stringern und Rahmenspanten in engen Abständen, die den Rumpf praktisch unkaputtbar machen. „Unser starkes, fettes Boot“, sagt Co-Skipper und Navigator Nicolas Lunven, eine Beschreibung, die irgendwie liebevoll gemeint ist, aber auch ambivalent klingt. Denn es ist ein offenes Geheimnis: „Malizia“ zählt zu den schwersten der neuen Imocas. Womöglich hängen die Foil-Probleme auch damit zusammen, vermuten Ingenieure innerhalb wie außerhalb des Teams.

Enge Abstände von Schotten, Spanten und Stringern sorgen für Festigkeit – und GewichtFoto: YACHT/Andreas Fritsch
Enge Abstände von Schotten, Spanten und Stringern sorgen für Festigkeit – und Gewicht

Dabei trägt das Boot die leichtestmögliche Ballastbombe an ihrer geschmiedeten Kielfinne. Um dennoch die von der Klasse vorgeschriebene und geprüfte Kentersicherheit zu gewährleisten, ersann VPLP die achtere Crew-Kabine mit den an ein Lotsenboot erinnernden Fenstern. Der Aufbau, oben breiter als auf Deckshöhe, bietet zusätzlichen Auftrieb und unterstützt den Drehimpuls, wenn das Boot koppheister gehen sollte. So vergrößert er einerseits den Lebensraum an Bord und hilft gleichzeitig, Gewicht im Kiel zu sparen – eine Win-win-Innovation.

Es gibt eine ganze Litanei von solchen Neuerungen auf „Malizia – Seaexplorer“. So bietet das unmittelbar hinter dem Flügelmast liegende Cockpit volle Stehhöhe und ein ergonomisch günstig platziertes Winschen-Podest, das effizientes Trimmen ermöglicht – eine Rarität im Vergleich zu den eher höhlenartigen Verschlägen, in denen die Crews etwa auf „11th Hour Racing“ oder „Holcim – PRB“ arbeiten, stets gebückt, bisweilen gar auf den Knien kauernd, mit nur knapp über dem Plichtboden montierten Winschen, um den Gewichtsschwerpunkt niedrig zu halten.

Details, die einen großen Unterschied machen

Auch im Hinblick auf die Rundumsicht setzt das deutsche Boot Maßstäbe. Die Kanzel über dem Cockpit ist so großzügig von Fenstern durchbrochen, dass niemand an Deck muss, um den Segelstand zu prüfen oder den Seeraum voraus zu peilen. Zudem bieten bei rauem Wetter mit viel überkommendem Wasser Kameras, Infrarot-Sensoren und ein Breitband-Radar zusätzlichen Überblick. Der Rudergänger, der meist nur per Autopilot steuert, thront erhöht auf ausklappbaren Komposit-Sitzen in einer ArtFensterkuppel, die optimale Sicht bietet. Dagegen wirken die Cockpits der Konkurrenzboote wie Kerkerzellen.

Bei Seegang und mehr als 20 Knoten Fahrt fliegen mitunter Tonnen von Wasser übers Deck. Dann genießt die Crew unter der Cockpit-Kanzel maximalen Schutz – und kann trocken arbeitenFoto: Antoine Auriol/Team Malizia
Bei Seegang und mehr als 20 Knoten Fahrt fliegen mitunter Tonnen von Wasser übers Deck. Dann genießt die Crew unter der Cockpit-Kanzel maximalen Schutz – und kann trocken arbeiten

An Deck ist hinterm Mast jede sinnvoll nutzbare Fläche mit speziellen Solarzellen von Solbian belegt, die erhöhte Rutschfestigkeit bieten. Auch in dieser Hinsicht beansprucht „Malizia“ eine Ausnahmestellung. Sie ist zusammen mit den beiden leichten Hydrogeneratoren am Spiegel weitestgehend energieautark, erzeugt also bei Sonnenschein allen Strom, den die vielen elektronischen Systeme an Bord verbrauchen, regenerativ selbst. Der Lombardini-Diesel dient lediglich als Backup sowie als Antrieb bei Hafenmanövern und im Notfall.

So seegerecht wie die breiten Laufdecks und die Kohlefaser-Handgriffe am achteren Kajütaufbau sind die Niedergänge zu beiden Seiten gestaltet. Sie lassen sich mit einer kurzen, tunnelartigen Persenning so weit abdecken, dass bei ruppigem Seegang keinerlei Wasser den Weg ins Cockpit findet, wo es über handtellergroße Lenzöffnungen ohnehin rasch abfließen würde.

“Malizia” lässt sich steuern wie eine Jolle

Im Niedergang stehend oder sitzend, lässt sich gut Wache gehen, wenn das Wetter freundlich ist. Beim Etappenstart oder bei den In-Port-Wettfahrten wird von hier auch gesteuert. Eine Kohlefaserpinne in V-Form, mittig gelagert und über lange Dyneema-Stropps mit dem Quadranten verbunden, erlaubt dem Rudergänger, den 20 Meter über alles messenden Hochsee-Boliden wie eine Jolle zu steuern – extrem direkt, mit nur kleinen Impulsen und ohne großen Kraftaufwand.

Wir segeln zu 99 Prozent unter Autopilot” (Boris Herrmann)

Auf der gleichen Achse sitzend, findet sich unterhalb der Cockpitdecke ebenfalls eine V-förmige Pinne, hier mit längeren Enden, um bis zu den Steuermannssitzen zu reichen. Bei kniffligen Manövern oder um die Balance des Bootes zu überprüfen, kann also auch von unter Deck jederzeit auf Handsteuerung umgeschaltet werden. Allerdings ist das die absolute Ausnahme. „Wir segeln zu 99 Prozent unter Autopilot“, sagt Boris Herrmann. Einen foilenden Imoca selbst zu dirigieren wäre extrem herausfordernd und in den allermeisten Fällen langsamer, weil die menschliche Sensorik nicht mehr mit dem neuesten Stand der Technik mithalten kann.

Wie ausgefeilt die Steuerung ist, kann niemand besser erklären als Axelle Pillain, die sie konzipiert, eingebaut und Teile der Software selbst geschrieben hat. „Im Prinzip gibt es zwei Ebenen der Selbststeuerung“, sagt die promovierte Mathematikerin, die 2019 das Mini-Transat segelte und auch als Ersatzfrau für Crewmitglied Rosalin Kuiper fungiert.

„Wir haben ein Hercules-H5000-System von B&G, das gewissermaßen die Basis bildet und auch allein funktionsfähig wäre.“ Darüber aber sitzt eine weitere, noch wesentlich ausgefeiltere Steuereinheit namens Exocet, hergestellt und programmiert von Pixel sur Mer, einem hoch spezialisierten Hightech-Unternehmen in Lorient. „Sie berechnet in Echtzeit den wahren Windeinfallswinkel und erlaubt der Crew, per Tastendruck verschiedene Parameter vorzugeben, die vom Kurscomputer zusätzlich berücksichtigt und optimiert werden“, sagt Axelle Pillain: „Bootsgeschwindigkeit, Lage und den scheinbaren Windwinkel.“ Das System „spielt“ dann innerhalb dieser Sollwerte mit dem Kurs, und das auf Wunsch mit geradezu brachialer Konsequenz: schneller, feinnerviger und wenn nötig härter als selbst die erfahrensten Steuerleute.

Durchweg alle modernen Imocas sind mit dieser Technologie ausgestattet oder aber mit dem ähnlich funktionierenden Pendant von Madintec, einer ebenfalls in Lorient ansässigen IT-Firma, die sich ihrerseits auf die Steuerung von foilenden Imocas, Ultim-Trimaranen und anderen High-End-Yachten spezialisiert hat. Ihr Autopilot heißt MadBrain, ein in der höchsten Ausbaustufe fast 20.000 Euro teures Nervenzentrum für alle Geber, das Steuerbefehle bis auf ein Zehntelgrad genau an das Ruder weitergibt.

“Malizia” ist vollgestopft mit Sensoren

“Malizia – Seaexplorer” repräsentiert nicht nur in diesem Punkt den aktuellsten Stand der Technik. Sie ist auch das Boot mit der wohl umfassendsten Ansammlung von Lastsensoren. Allein in Rumpf, Foils, Rudern und Mast stecken 150 Dehnungsmessstreifen aus Glasfaser, die über Druck und Verformung Aufschluss geben. Dazu kommen Lastmessbolzen, sogenannte Load Pins, im Rigg, über die sich der Zug auf Fallen, Stagen und Wanten überwachen lässt.

Technisch ließen sich deren Daten sogar als Stellgrößen in Exocet oder MadBrain implementieren. Bei Überschreiten bestimmter Lastgrenzen könnte der Autopilot beispielsweise abfallen oder anluven. So weit geht die Integration aber noch auf keinem Imoca. Dennoch sind die Sensoren eminent wichtig, um der Crew über Alarme überhaupt Anhaltspunkte dafür zu geben, wann es kritisch wird.

Insbesondere in der Anfangsphase voriges Jahr piepste es auf „Malizia“ ständig, sobald sie am Foilen war. Inzwischen sind die Schwellenwerte so weit angehoben, dass nur noch selten Warnsignale ertönen. Dann aber gilt der erste Blick der Crew der „Load Page“ auf einem der im Cockpit fest eingebauten iPads, um einschätzen zu können, ob Handlungsbedarf besteht oder nicht. Will Harris erklärt die Bedeutung der komplexen Messtechnik: „Um ehrlich zu sein, fühlt sich ein Imoca der neuesten Generation bei Wind so an, als würde er jeden Moment explodieren. Eigentlich denkst du permanent, dass du langsamer segeln müsstest.“ Deshalb seien die Lastwerte unverzichtbar. „Man muss einfach auf diese Zahlen vertrauen. Das Boot brummt, knallt, kracht ohrenbetäubend in die Welle. Aber so lange nicht einer dieser Alarme losgeht, vertraust du darauf, dass an Bord alles in Ordnung ist.“

Ein Imoca fühlt sich bei Wind so an, als würde er jeden Moment explodieren” (Will Harris)

Es ist eine Art Hochseesport, bei dem Intuition und Seemannschaft zwar noch ihre Bedeutung haben, aber mehr und mehr von Algorithmen und Messtechnik ergänzt, teils auch schon ersetzt werden. „Um diese Boote auf 100 Prozent ihres Potenzials zu bewegen, muss man inzwischen ein Computer-Nerd sein“, sagt Will Harris.

Trotz Datenmengen bleiben überraschende Erkenntnisse

Nicht nur an Bord spielen Daten eine zentrale Rolle. Auch an Land, bei der Leistungsanalyse und der laufenden Evaluation des Bootes, liefern die Sensoren wichtige,womöglich erfolgsentscheidende Anhaltspunkte. So durchleuchten Spezialisten im Team sämtliche Messwerte, die per Satellitenfunk hochgeladen werden. Auch die Architekten bei VPLP versuchen, die Konstruktion immer besser zu verstehen. Zusätzlich fahnden Datenanalysten von KND in Valencia nach weiterem Potenzial in dem Meer aus Megabytes.

Doch nicht alles lässt sich rechnerisch modellieren. „Bestimmte Erkenntnisse sind überraschend“, sagt Boris Herrmann – „etwa, dass wir mit den neuen Foils auf bestimmten Kursen schneller sind.“ Das sei ja auch das Schöne: „dass nicht alles im Voraus vom Computer berechnet werden kann, dass das Gefühl fürs Boot noch immer eine Rolle spielt“, findet der 41-Jährige, der einerseits zu den eifrigsten Innovatoren in der Imoca-Klasse zählt, andererseits aber Instinktsegler und Seemann geblieben ist.

Malizia-Skipper Boris Herrmann in der Schaltzentrale seines Imoca 60Foto: Andreas Lindlahr
Malizia-Skipper Boris Herrmann in der Schaltzentrale seines Imoca 60

Mit dem Anwachsen der Foils und in der Folge auch der Geschwindigkeit sind die neuen Imocas weitaus fordernder geworden. Das zeigte sich in Alicante schon bei leichten bis mäßigen Bedingungen. Weil die Veränderung des Anstellwinkels der Tragflügel per Hydraulik Zeit braucht, tendieren die Boote in Böen dazu, mit dem Bug weit abzuheben – die Skipper sprechen in Anlehnung an den Motorradrennsport von „Wheelies“. Es sieht spektakulär aus und fühlt sich an Bord auch so an. Effizient aber ist so ein Abflug nicht, denn nach der meist unsanften Landung muss erst wieder Fahrt aufgebaut werden.

Das Heulen von Kiel und Foils ist auf Dauer zermürbend

Doch auch wenn die Boliden sauber aufs Foil kommen und fast waagerecht übers Wasser preschen, ist es mit bloßem Kurshalten nicht getan. Kielneigung, Autopilot und Großschotspannung müssen permanent nachjustiert werden, um das Optimum an Geschwindigkeit herauszukitzeln. Der Rudergänger wird dabei zum Videospiel-Junkie, der alle paar Sekunden auf irgendeinen Knopf drückt. Auch die Crew hat selten Pause, weil das Groß, kaum gefiert, schon wieder dichtgekurbelt werden muss.

Im Idealfall führt das zu rabiater Beschleunigung, die einen schon bei flacher See kurz aus der Balance bringen kann. Von 12 auf 18 Knoten Fahrt springt ein aktueller Imoca am Wind bei 65 Grad Einfallswinkel in kaum mehr als einem Wimpernschlag, und er braucht gerade mal 3 bis 4 Beaufort dafür. Raumschots sind unter diesen Bedingungen gut 22 Knoten drin, in Böen auch 25 Knoten, begleitet von einem Heulen von Flügel und Kielfinne, das dem atemberaubenden Geschwindigkeitszuwachs eine eigene Note verleiht, wenn es auch auf Dauer zermürbend klingt.

Allerdings geht es bei Unachtsamkeit auch genauso schnell nach unten mit Ton und Tempo, sobald man einen Dreher oder Drücker verpasst. Dann erst wird nachvollziehbar, warum alle Skipper mit Siegambitionen so sehr auf Foils setzen, warum die Boote immer extremer werden. Fällt man von 20 auf 12 Knoten, während die Konkurrenz noch im Flugmodus unterwegs ist, oder kommt man später als diese aus dem Wasser, meint man unweigerlich zu stehen.

Und doch ist da die Kehrseite, die im mit Vierer-Crews gesegelten Ocean Race vielleicht nicht ganz so durchschlägt, bei Solo-Regatten aber umso mehr: „Je leistungsfähiger die Schiffe werden, desto mehr Feintuning ist nötig“, sagt Boris Herrmann. „Die alten Imocas waren da viel einhandtauglicher. Da hatte man irgendwann einfach das Gefühl, dass sie nahe an ihrem Leistungspotenzial segeln, und dann konnte man die laufen lassen.“

Foil-Tausch für Boris Herrmann ein “glücklicher Unfall”

Mit den neuen Foils, so sie denn halten, hat „Malizia“ in dieser Hinsicht sogar gewonnen. Sie seien „toleranter“, sagt der Hamburger, erforderten weniger penible Justage. Am Wind und auf Halbwind-Kursen sollen sie den Original-Flügeln sogar leicht überlegen sein, weil sie nicht nur Auftrieb, sondern auch Lift nach Luv generieren. Boris Herrmann spricht in Bezug auf den Bruch deshalb von einem „glücklichen Unfall“. Nur bei Leichtwind und generell auf tiefen Kursen rechnet er mit gewissen Geschwindigkeitseinbußen.

Doch auch das ist eine Momentaufnahme. Wie leistungsfähig „Malizia – Seaexplorer“ wirklich ist, lässt sich seriös wohl erst nach dem Ocean Race sagen, vielleicht gar erst nach dem Transat Jacques Vabre im November, wenn die Foil-Probleme ganz ausgestanden sind. „Diese Boote sind sehr komplex. Sie brauchen ein, zwei Jahre Reifezeit“, sagt Boris Herrmann.

Beim Stapellauf vorigen Juli meinte er: „Jetzt müssen wir abwarten, wie sich die Konstruktion bewährt. Vielleicht habe ich die Architekten ja zu sehr in eine Ecke getrieben.“


Technische Daten “Malizia – Seaexplorer”

  • Konstrukteur: VPLP
  • Rumpflänge: 18,28 m
  • Gesamtlänge: 20,12 m
  • Wasserlinienlänge: ca. 14,90 m
  • Breite: ca. 5,60 m
  • Tiefgang: 4,50 m
  • Masthöhe über Wasserlinie: 29,00 m
  • Gewicht: ca. 9,0 t
  • Segelfläche am Wind: ca. 280 m²
  • Motor (Lombardini LDW 1003): 30 PS
Foto: Francois Chevalier

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