Andreas Fritsch
, Jochen Rieker
· 06.09.2022
Boris Herrmanns „Malizia – Seaexplorer“ ist derzeit auf dem Weg von Lorient zur Taufe in Hamburg. Dort werden Skipper und Yacht von Zehntausenden erwartet. Es wird das größte Segelfest des Jahres in der Hafencity. Zu Recht! Nie zuvor lief ein schnellerer, modernerer, radikalerer Renner dort ein. Was aber macht diese Bootsklasse so besonders? Wir erklären Grundlagen und Finessen
Ein Imoca 60 lässt sich mit wenigen Kennzahlen umschreiben. Seine Rumpflänge ist auf 18,28 Meter beschränkt, was jenen 60 Fuß entspricht, auf die seine Typbezeichnung hinweist. Mit Bugspriet darf er 20,12 Meter nicht überragen. Auch die Breite ist limitiert, auf höchstens 5,85 Meter. Doch das sind nur drei von einer Vielzahl weiterer Grenzmaße.
Um ein Wettrüsten zu unterbinden, darf der Mast nur bis zu 29 Meter in den Himmel ragen, der Kiel höchstens 4,50 Meter in die Tiefe. Der Ballast, dessen Mindest- und Höchstgewicht ebenfalls vorgegeben ist, lässt sich elektro-hydraulisch zur Seite schwenken, um das Gewicht effektiver einzusetzen. Selbst der Winkel ist limitiert: bis zu 38 Grad nach Steuerbord oder Backbord, nicht ein Grad mehr.
Außer dem Kiel darf ein Imoca maximal vier weitere Anhänge unter Wasser nutzen. Bei den neuesten Konstruktionen sind dies zwei Ruder achtern und mittschiffs zwei Foils – Tragflügel, die das Boot bei 12 bis 14 Knoten Fahrt aus dem Meer heben und dadurch den Wasserwiderstand verringern helfen.
Diese und andere Parameter werden von der Klasse reglementiert, damit Mensch und Maschine nicht zur Gefahr für sich selbst werden. Denn ansonsten sind Konstrukteure, Bootsbauer und Skipper relativ frei in der Konzeption der Rennyachten. Das macht auch deren Reiz aus – und ihren Ruf als eine der innovativsten Klassen überhaupt.
Zu Beginn, also vor dem ersten Rennen, das 1989 stattfand, waren die technischen Regeln extrem einfach. Es gab kaum Auflagen. So wurde die International Monohull Open Class Association (kurz: Imoca) rasch zu einem Dorado für Freigeister. Das gilt selbst heute noch, auch wenn die Freiheitsgrade in den vergangenen Jahren immer wieder eingeengt wurden.
Die Konstruktionsregeln sind Ausdruck einer vielschichtigen, teils sprunghaften Entwicklung. Als noch so gut wie alles erlaubt war, gab es Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre ein technisches Wettrüsten, das die Konstruktionen immer dichter an physikalische Grenzen brachte, mitunter auch darüber hinaus.
In der Folge häuften sich spektakuläre Ausfälle: Aus Kohlefaser laminierte, extrem schmale Kielfinnen rissen ab, die an ihrem Ende tonnenschwere Ballastkörper aus teils so exotischem Material wie Wolfram trugen. Reihenweise brachen Masten, da sie immer leichter konzipiert wurden, um geringere Hebelkräfte zu entwickeln. Weil die Boote zunehmend breiter und die Aufbauten immer flacher wurden, blieben einige Konstruktionen nach einer Kenterung selbst in schwerer See kieloben liegen. Mehrere Seenotfälle zwangen Skipper dazu, sich von in der Nähe segelnden Konkurrenten, von Hubschraubern oder gar Marineschiffen abbergen zu lassen.
Eine andere Folge des Erfindungsreichtums war eine gewaltige Kostenexplosion und ein exorbitanter Wertverlust bei Booten früherer Generationen – beides nicht geeignet, um die Klasse für weniger gut finanzierte Teams attraktiv zu halten. Schwindelerregende Millionenbudgets bei gleichzeitig wachsendem Risiko durch technische Ausfälle machten es für viele Skipper immer schwieriger, Sponsoren zu finden.
Um diese beiden Trends zu entschärfen, beschloss die Klassenvereinigung Imoca, in deren Gremien die Skipper das Sagen haben, wo aber auch Konstrukteure, erfahrene Team-Manager und Marketing-Spezialisten Gehör finden, in einem wegweisenden Prozess von 2008 bis 2013 schrittweise neue Regeln. Ihr Ziel: Innovationen zu ermöglichen, zugleich aber Exzesse zu vermeiden.
So entschieden die Mitglieder, künftig bereits im Entwurfsstadium steuernd einzugreifen. Zur Kostenreduzierung wurden 2013 ein Einheits-Mast, ein Einheits-Kiel und die dafür notwendige Hydraulik beschlossen. Nebenbei einigte man sich auf Kielfinnen aus geschmiedetem Stahl mit Bleibombe, die bis heute wohl sicherste und langlebigste Lösung.
Und dennoch: Gilt einem normalen Fahrtensegler der Kiel seiner Yacht als das stabilste Bauteil, das ohne Grundberührung ein Bootsleben lang hält und kaum großer Aufmerksamkeit bedarf, müssen die Unterwasser-Anhänge der Open-60s regelmäßig demontiert und gewartet werden. In aufwändigen Schall- oder sogar Röntgenuntersuchungen werden sie auf kleinste Schäden hin untersucht, damit gewährleistet ist, dass Skipper und Schiff möglichst sicher segeln können. Dennoch kommt es immer wieder zumindest in der Hydraulik zum Neigen der Kiele zu Ausfällen, weshalb alle neueren Boote eine Vorrichtung zum Festsetzen des Kiels in der Neutrallage haben müssen.
Um das Problem der kieloben treibenden Yachten nach einer Kenterung zu lösen, wurde festgelegt, dass die Schiffe sich bis zu einer Schräglage von 110 Grad selbstständig wieder aufrichten müssen. Dazu durchlaufen sie ein aufwendiges Testprozedere:
Alle neuen Imocas, auch Boris Herrmanns „Malizia – Seaexplorer“, werden nach ihrer Fertigstellung mit stehendem Rigg im Hafenbecken vertäut und von einem Kran in Seitenlage gebracht, bis der Mast horizontal über der Wasseroberfläche steht, auf 90 Grad zur Senkrechten. Elektronische Zugwaagen messen dann statisch, wie hoch das aufrichtende Moment an der Mastspitze ist. Anschließend werden in Computer-Simulationen weitere für die Zulassung wichtige Sicherheitsparameter ermittelt. Der und die nachfolgenden Berechnungen dauern mehrere Tage. Dabei wird auch die Rumpf- und Decksform mit einbezogen – unter anderem deshalb hat „Malizia“ einen bis nach achtern durchgezogenen Aufbau; dieser soll nach einer Kenterung das Drehen des Rumpfs unterstützen und hilft so, Gewicht in der Kielbombe zu sparen.
Es gibt noch viele andere Vorgaben, welche die Klasse macht. So ist etwa die Zahl der Segel, die bei einer Imoca-Regatta an Bord sein dürfen, begrenzt: mehr als acht Segel sind nicht erlaubt. Selbst der maximale Mastfall ist limitiert. Er wurde nach der Vendée Globe 2020/21 auf bis 2 bis 6 Grad reguliert, was mithelfen soll, das Abtauchen des Bugs im Southern Ocean zu minimieren, wenn die Boote mit hoher Geschwindigkeit in den Rücken großer Wellen fahren.
Dasselbe gilt für die Wasserballast-Systeme. Zuvor hatten manche Teams bis zu acht Trimmtanks, die durch Ventile während der Fahrt in Sekundenschnelle befüllt werden konnten. Jetzt sind es höchstens sechs. Der Grund: Durch die in Luv befüllten Tanks entwickelt das Boot viel zusätzliches aufrichtendes Moment, was die Struktur und den Einheitsmast überlasten kann. Für Raumschotskurse, bei denen der Wind von achtern weht, werden die Hecktanks gefüllt, um über den Hebeleffekt den Bug aus dem Seegang zu heben und ein Wegtauchen zu verhindern.
Doch die zentrale Aufmerksamkeit gilt seit 2015 den Foils. Mittlerweile ist die vierte Generation der Tragflügel, schmaler als zuletzt und ausladender. Zwar gibt es eine dimensionslose Obergrenze bei der Flächenberechnung, die eingehalten werden muss. Doch die Konstrukteure haben beeindruckende und auch ganz unterschiedliche Formen gefunden.
Sie katapultieren die Imocas in eine ganz neue Sphäre. Schon die 2020er-Generation segelte unter optimalen Bedingungen – bei halbem Wind und flacher See – an die 50 Prozent schneller als die Open-60-Einrumpfboote von 2015/16, ein im Hochseesport bisher einmaliger Zugewinn. Geschwindigkeiten von 25 bis 35 Knoten sind dann möglich.
Und es ist kein Ende absehbar. Denn jetzt kommen die Konstruktionen noch früher ins Fliegen, und sie sollen auch in rauerem Seegang länger auf den Foils bleiben. Boris Herrmann hofft, den Durchschnitt im Southern Ocean von 18 auf 22 Knoten zu heben. Erstmals erscheint damit eine Nonstop-Runde um die Erde in weniger als 70 Tagen möglich – sofern Boote und Skipper das teils extreme Tempo bis ins Ziel durchhalten.
Dem Reiz, diese neue, aufregende Technik optimal auszuschöpfen und weiterzuentwickeln, konnten sich die IMOCA-Mitglieder nicht verschließen. Nachdem die brachiale Leistungsfähigkeit der Boote lange Zeit gezügelt werden musste, und nachdem die vorige Foiler-Generation strukturell stark nachgebessert werden musste, sieht es jetzt so aus, als ob eine neue Evolutionsstufe erreicht ist: früher, länger, schneller fliegen. Einmal mehr untermauert die Klasse damit, warum sie einen so legendären Ruf hat - die weltweit hochgezüchtetsten Rennyachten der Offshore-Szene zu sein!