Jochen Rieker
· 08.03.2023
Beim The Ocean Race gilt eine strikte Begrenzung für die Zahl der Segel. Wir erklären den Segelplan und warum intakte Segel für den Erfolg so wichtig sind
Die Segelgarderobe der Imocas ist einer der Hauptfaktoren, die über den Erfolg der Imoca-Teams bei The Ocean Race entscheiden und bleibt meist dennoch eher unbeachtet. Vor allem der schon auf den ersten Etappen einsetzende Verschleiß könnte Folgen haben, die weit in der Zukunft liegen. Denn den Seglern steht nur eine sehr begrenzte Zahl von Tüchern zur Verfügung. Thomas Jullien, Vermessungsingenieur der Imoca-Klasse, erläutert die Grenzen: “Nach den Klassenregeln dürfen sie mit maximal acht Segeln an Bord segeln, von denen eines die Sturmfock sein muss, die obligatorisch ist. Außerdem gibt es eine spezielle Regel für The Ocean Race, die besagt, dass jedes Team während der gesamten Weltumsegelung insgesamt elf Segel plus die Sturmfock verwenden darf.”
Vier Segel zählen gewissermaßen zur unverzichtbaren Grundausstattung jedes Bootes, wenn es auf dem Kurs ist: das Groß, die Arbeitsfock J2, deren Stag permanent gefahren wird, die Schwerwetterfock J3 und die J4, die als Sturmfock dient.
Bleiben vier Segel, die für raumere Kurse oder Leichtwind gesetzt werden können: In diesem Segment unterscheiden sich die Segelpläne am deutlichsten, und die genauen Maße und Spezifikationen werden wie Staatsgeheimnisse gehütet.
Tatsächlich entwickeln gut finanzierte Teams ein weitaus breiteres Portfolio an Segeln, um nach und nach das beste Setup zu finden. Im Einsatz aber sind sie strikt limitiert. Hier am Beispiel von „Malizia – Seaexplorer“ eine Auswahl der auf der dritten Etappe eingesetzten Tücher, die wir einzeln auch in der Galerie oben zeigen.
Nur der A2-Spinnaker, das größte Imoca-Segel, ist auf dieser Etappe nicht an Bord: Es ist für tiefe Kurse bei Leichtwind geeignet und wird auf der vierten Etappe von Itajaí nach Newport wichtig werden, wo es gilt, die Kalmen zu überwinden. Dafür fehlt dann absehbar entweder die Jib Zero oder der Fractional Zero, kurz „FR0“.
Das Groß muss möglichst für die Gesamtstrecke von The Ocean Race halten. Denn es ist sehr teuer und lässt sich nicht „doppeln“. Ersatz hat kein Imoca-Team an Bord, weil ein Wechsel zumindest schwierig, im Solo-Modus so gut wie unmöglich wäre. Reißt es horizontal komplett durch, wie es bei der letzten Vendée Globe dem Japaner Kojiro Shiraishi auf seiner „DMG Global One“ schon im Atlantik passiert ist, bleibt nur Aufgabe oder eine tagelange Reparatur.
Boris Herrmann hat aus diesem Grund bei North Sails ausdrücklich eine besonders standfeste Spezifikation für sein Groß in Auftrag gegeben und dafür sogar bis zu zehn Prozent an Mehrgewicht in Kauf genommen. Das zeigt, wie zentral dieses Segel für den Erfolg ist – und wie kritisch selbst kleine Schäden werden können.
Als bei „Holcim – PRB“ Anfang der zweiten Woche von Etappe drei die Liekleine riss, zögerte Kevin Escoffier nicht mit der Reparatur, weil ihm das Risiko eines flatternden Achterlieks im windigen Indischen Ozean zu groß erschien. Er ließ das Segel bergen und zog mit Sam Goodchild und Tom Laperche auf dem Cockpitdach stehend eine neue Leine ein, was die Führenden gut 20 Seemeilen an Vorsprung kostete, aber Schäden am Groß vermied.
In den vergangenen Jahren hat sich im Großsegel-Design viel verändert. Weil die Foils und mit ihnen das Geschwindigkeitspotenzial immer größer wurde, verjüngt sich die Fläche im Topp deutlich. Im Gegensatz zu früheren, um die 180 Quadratmeter messenden Tüchern tragen die aktuellen Imocas nur etwa 170 Quadratmeter im Groß, was zum einen den Widerstand senkt, aber auch die Reffgrenze nach oben verschiebt. Das wiederum hilft, ungewollte Turbulenzen hinter dem im gerefften Zustand frei stehenden Masttopp zu verringern.
Während ältere Boote der Klasse über bis zu vier Reffs verfügten, reichen heute drei. Somit gibt es vier Leistungsstufen fürs Groß: ungerefft, Reff 1, 2 und 3, die sich jeweils mit verschiedenen Vorsegelkonfigurationen kombinieren lassen. Bei Sturm nehmen die Crews das Groß im Zweifel ganz herunter und segeln nur noch mit der J4 – das aber erst bei an die 50 Knoten Wind und darüber.
Wenn man so will, ist die am Topp-Fall gefahrene J0 (sprich: tschej si:ro) eine Art Genua 1 der Neuzeit. Das rund 135 Quadratmeter große und relativ flach geschnittene Membransegel wird bei Leichtwind am Wind eingesetzt; es kann aber bei mehr als 20 Knoten Wind auch auf raumeren Kursen Vortrieb liefern – dann etwa, wenn der Code Zero zu groß wäre oder wenn das Topp-Fall gebrochen sein sollte.
Manche Imocas schlagen die J0 am Bug an; dort verzichten allerdings mehr und mehr Teams auf ein eigenes Pütting, etwa „Charal 2“, weshalb die J Zero dann am achteren Furler auf dem Bugspriet gefahren wird.
Fast so unverzichtbar wie das Groß ist die J2, die man guten Gewissens als Arbeitsfock bezeichnen kann. Sie wird an einem strukturellen Vorstag gefahren, das deshalb so heißt, weil es den Mast hält und nicht wegnehmbar ist – anders als bei allen anderen Stagen im Bugbereich.
Streng genommen handelt es sich bei der J2 eigentlich um eine G2. Denn das „J“ steht für „Jib“ und bezeichnet eine Fock. Die J2 ist aber ein den Mast überlappendes Vorsegel und damit, anders als J3 und J4, eine Genua. Doch der Einfachheit belassen es die Rigger und Segelmacher bei einer durchgängigen Nomenklatur, und deshalb halten auch wir uns daran.
Die J2 funktioniert in einer Vielzahl an Konfigurationen und auf unterschiedlichen Kursen. Am Wind ist sie bis etwa 18 Knoten wahrer Windgeschwindigkeit das Segel der Wahl; sie lässt sich aber auch sehr gut auf Halbwind- und Raumschotsgängen bei 25 bis 30 Knoten Wind sehr effizient einsetzen, zumal die neuen Foiler ohnehin weniger Fläche und Druck brauchen als konventionellere Imocas. Die J2 misst um die 95 bis 100 Quadratmeter und wird inzwischen maximal tief bis aufs Deck geschnitten, um einen Druckausgleich zwischen Luv- und Leeseite zu verhindern. Lediglich zum Achterliek hin steigt das Unterliek an, weil es sonst mit den Outriggern des Flügelmasts in Berührung käme.
Sie hat aber einen Nachteil, und der hat sich im Südmeer bereits auf drei Schiffen gezeigt: „11th Hour Racing“, „Holcim – PRB“ und „Malizia – Seaexplorer“. Wenn sie reißt oder punktiert wird, lässt sie sich nicht mal eben aufrollen und abschlagen wie etwa die J3, was auch bei Starkwind möglich ist. Reparaturen werden daher meist bei stehendem Segel durchgeführt. Das muss dazu aber trocken und möglichst salzfrei sein, was erklärt, warum „11th Hour“ tagelang auf das geeignete Wetterfenster warten musste, um einen Flicken aufzubringen – und viel weiter südlich hielt als ihre Wettbewerber.
Wenn die J2 zu groß oder kaputt ist, wechseln die Crews bei The Ocean Race flugs auf die Schwerwetterfock. Diese wird an einem wegnehmbaren Stag gefahren, um Wenden oder Halsen mit der J2 zu vereinfachen. Sie misst nur rund die Hälfte der Fläche von der großen Schwester, also um die 50 Quadratmeter. Weil sie noch flacher geschnitten ist als die J2 und weniger Widerstand produziert, segeln die leistungsfähigsten Foiler schon ab 20 Knoten bei geschrickten Amwind- oder Reaching-Kursen mit der J3.
Raumschots kommt sie kaum aus der Abdeckung des Großsegels, aber selbst bei Leicht- und Mittelwind spielt sie auf solchen Kursen dennoch eine mittlerweile wichtige Rolle: sie hilft, den Spalt zwischen Spi oder Code zu überbrücken. Als sogenannter Double Header ist die Konfiguration heute auch in der Imoca-Klasse nicht mehr wegzudenken, gerade im The Ocean Race nicht, weil anders als bei Solo-Regatten hier mehr Hände zur Verfügung stehen, um mit vollem Ornat das Letzte aus den Booten zu holen.
Die Sturmfock ist ein robustes, vergleichsweise winziges Dreieck aus Segeltuch, das so konstruiert ist, dass es bei extremen Windverhältnissen die schlimmsten Schläge einstecken kann. Es kann vorkommen, dass die Boote bei apokalyptischen Bedingungen, die sie lieber nicht erleben möchten, die aber zum Beispiel im Südpolarmeer durchaus auftreten können, nur mit der Sturmfock segeln.
Im The Ocean Race diente die J4 für einen Tag an Bord von „11th Hour Racing“ als Ersatz-Fock, weil sowohl J2 als auch J3 an den Relingsstützen Löcher nahe des Unterlieks davongetragen hatten. Auch beim stürmischen Start des Rennens in der Straße von Gibraltar kam die Sturmfock auf mehreren Booten zum Einsatz.
Wenn häufig davon die Rede ist, dass insgesamt nur elf Segel für die gesamte Dauer von The Ocean Race erlaubt sind, dann fällt bei dieser Zählweise die J4 unter den Tisch. Kann man so machen, ist aber irreführend. Denn nur, weil das Tuch vorgeschrieben ist, sollte man es keineswegs weglassen.
Das einzige Raumwindsegel, dass nicht an einem Furler gefahren wird, ist der „Topp-Spi“ oder „Spi Max“, korrekter als A2 bezeichnet. „A“ steht dabei für asymmetrisch, die 2 für einen besonders bauchigen, für tiefe Kurse optimierten Schnitt mit relativ breiten Schultern. Er kann bis zu 400 Quadratmeter messen und ist bei den Solo-Skippern der Vendée relativ unbeliebt, weil er sich bei schnell auffrischendem Wind nur mit Risiko halsen oder bergen lässt. Um ihn überhaupt handhabbar zu machen, wird er in einem Bergeschlauch gefahren.
Auf Etappe zwei von den Kapverden nach Kapstadt im The Ocean Race erwies er sich als Game-Changer, weil der Nordost-Passat gestört war und die Kalmen relativ weit ausgedehnt. Schon am Start hatten die Boote, die ihn an Bord hatten, sichtbar Vorteile. Nur Kevin Escoffier („Holcim – PRB“) und Boris Herrmann („Malizia – Seaexplorer“) verzichteten darauf, ihn mitzunehmen. In der Rückschau erwies sich das als Fehler, denn weder der A3 noch der Code Zero waren bei VMG-Kursen im Leichtwind ein adäquater Ersatz.
Für viele Eigner von Fahrtenyachten ist der Code Zero mittlerweile ein liebgewonnenes Zusatzsegel – oft das einzige außer Groß und Genua. Denn es lässt sich leicht wegrollen und sowohl für Amwind-Kurse bei Leichtwind als auch für raume Kurse bei viel Wind einsetzen.
Auf den Imocas gilt das in ähnlicher Weise, allerdings ist der Code Zero dort eher ein Spezialist denn ein Allrounder. Wird am Topp-Fall gefahren, hat um die 300 Quadratmeter Fläche und besteht aus einer hochfesten Membran, was ihn sehr schwer macht – gut 80 Kilo. Aufgerollt nennen ihn die Segler mitunter „Anaconda“, weil sie ihn beim Bergen an Deck wuchten müssen, als habe er ein Eigenleben. Und das hat er, wenn er von Wind und Seegang ins Pendeln gebracht wird.
Kleiner und flacher als der A2, aber runder als der Code Zero – das ist der Code 3, den man früher als A3 bezeichnet hätte. Aber er ist tatsächlich inzwischen wegen des immer vorlicheren scheinbaren Windes, den die aktuellen Foiler in voller Fahrt produzieren, flacher geworden und rechtfertigt deshalb den Wechsel von „A“ auf „C“.
Misst zwischen 220 und 250 Quadratmeter, wird am fraktionalen Fall gefahren und kann zum Bergen weggerollt werden, was ihn viel umgänglicher macht als den A2. Das Segel der Wahl im Südmeer, wenn eine Crew es schafft, sich vor ein Tief zu setzen und bei moderatem Seegang und mittlerem Wind maximalen Speed auf Raumschotskursen zu erzielen.
Zählt zur Starkwind-Garderobe, weshalb er im Southern Ocean fast so etwas wie ein Pflichtsegel ist. Nicht allzu weit entfernt von einer J0, die kleiner, und dem C0, der deutlich größer ist. Das Reachingsegel für mittleren Wind – und mehr als das.
Als Fractional Zero wird der FRO (gesprochen: „Frouw“) am fraktionalen Fall gesetzt und immer auf einer Rollanlage am Bugspriet gefahren. Geht der A3 aus den Lieken oder über Bord, kann er dessen Funktion auf Raumschotskursen bei Starkwind übernehmen.
So viel zu den wichtigsten und heute verbreitetsten Segeln eines Imoca. Man muss sie sich wie eine x-fache Gangschaltung vorstellen, weil sich aus dem Groß mit seinen drei Reffs und den sich teils ergänzenden Vorsegeln an die 20 sinnvolle Segelpläne kombinieren lassen. In der Tat steckt im Austüfteln des besten Setups ein enorm wichtiger Hebel in der Optimierung der Boote auf die Vendée Globe 2024 hin. Dazu kommen noch die Variationsmöglichkeiten der Foils, die sich im Anstellwinkel ebenso wie im Grad ihrer Ausholung einstellen lassen.
Was da an Potenzial zu entdecken ist, zeigt der enorme Leistungsschub von Paul Meilhats „Biotherm“. Die war im Südatlantik auf Etappe zwei nie schnellstes Boot, was wohl auch mit einer Strukturschwäche zu tun hatte, die in Kapstadt behoben werden musste. Auf Etappe drei aber loggten die Franzosen beständig die höchsten Etmale, als es darum ging, den Abstand auf Kevin Escoffier zu verringern.
Thomas Jullien, Vermesser der Imoca-Klasse, beschreibt den Wettbewerb um die besten Segel so: „Gelegentlich kommt jemand mit einem bahnbrechenden Design heraus, einer ‘Wunderwaffe’, an die niemand sonst gedacht hat.“ Selbst wenn er ein solches Segel gesehen hätte, wäre er als Offizieller zur Diskretion verpflichtet. Die Details jedes Segelinventars bleiben für jedes Team vertraulich. “Es könnte sein, dass mich jemand bittet, ein verrücktes Segel zu stempeln, und es wird interessant sein, zu sehen, ob die Segel immer spezieller werden”, spekuliert er.
“Aber das ist keine Zauberei. Je mehr man sich auf ein Segel für eine bestimmte Bedingung spezialisiert, desto weniger gut ist es bei anderen Bedingungen. Ich glaube nicht, dass bisher jemand ein magisches Segel erfunden hat, das bei allen Bedingungen perfekt ist. Es kommt also wirklich darauf an, welche Bedingungen die Teams erwarten und wie sehr sie ihre Segel darauf zuschneiden wollen. Oder wie breit sie den Einsatzzweck definieren, was Windgeschwindigkeiten und -winkel betrifft, um weniger oft wechseln zu müssen, wenn sich die Bedingungen ändern.”
Klar ist in jedem Fall: Jeder Schaden an einem wichtigen Segel wie Groß oder J2 limitiert die Optionen für den Rest des Rennens. Und das kann tatsächlich über Platz oder Sieg entscheiden. Auf der Wechselliste vieler Teams steht in Itajaí die J2. Damit sind ausgehend von den existierenden Segeln schon zehn von zwölf erlaubten Tüchern verbraucht.
Weil Team Malizia den Code Zero zu Beginn der dritten Etappe komplett freischneiden musste, wird Boris Herrmann diesen ebenfalls ersetzen. Macht Nummer elf von zwölf. Das heißt, dass für die verbleibenden Etappen bis Genua, die für 60 Prozent der möglichen Wertungspunkte stehen, nur noch genau ein Segel als Ersatz vermessen werden kann.
Und der Southern Ocean ist noch lang!