Kristina Müller
· 05.12.2022
Thorsten Bender segelt im Frühjahr, arbeitet im Sommer und baut im Herbst und Winter Mikrokreuzer. Werftbesuch bei einem ungewöhnlichen Selbstbauer
Auf den ersten Blick gib es in Rüdesheim am Rhein vieles zu erleben. Ausflugsdampfer ziehen auf dem Strom vorbei, am Ufer schlängelt sich die Eisenbahn entlang. Weinstöcke schmiegen sich an die Hänge, über denen Besucher in der Seilbahn schweben. Der Ort lebt vom Weinanbau und vom Tourismus. Mit einem Bootsbauer rechnet man hier eher nicht.
Doch in der alten Kelterhalle des Weinguts Georg Breuer, mitten im Zentrum von Rüdesheim, tun sich erstaunliche Dinge: Ein schlanker Holzrumpf steht dort auf dem Boden, dessen Eigner flink das Licht anknipst, strahlt und auf zwei weitere halbfertige Rümpfe weist. „Das ist ein alter Weintank, in dem ich hier arbeite“, erklärt Thorsten Bender. „Ist das nicht genial?“
Tatsächlich ist die „Werft“ des Hobbybootsbauers ebenso ungewöhnlich wie er selbst. Wo einst Weißwein lagerte, baut der 56-Jährige gerade sein zweites Boot, einen Trimaran aus Sperrholz. Mit nur 14 Fuß Länge erfüllt er Benders wichtigstes Kriterium: bloß nicht zu groß! Groß, das ist in seinen Augen bereits sein 19-Fuß-Boot, mit dem vor zehn Jahren alles begann.
Damals ist der sportliche Mann mit den wachen Augen wieder mal auf Klettertour mit seiner Freundin. Costa Brava, Côte d’Azur – sein Hobby zieht das Paar an die schönsten Spots am Meer. Abends besuchen sie die Häfen. Dort sei der Plan entstanden, irgendwann einmal mit dem eigenen Boot zum Klettern zu segeln, erzählt Bender, der in Heidelberg geboren und aufgewachsen ist. „Nicht gerade ein maritimer Hotspot“, schmunzelt er. Doch schon als Kind habe er Piratenschiffe gebaut. Der Traum, einmal ein eigenes Boot zu besitzen, ließ ihn nie ganz los.
Nach diesem Urlaub macht er Ernst und kauft im Schwarzwald eine Sea Wych 19, einen britischen Kimmkieler. Für Bender, der bis dahin noch nie gesegelt war, scheint der genau richtig zu sein: solide, mit Außenborder und Trailer. Nach dem Lieblingsfilm des Eigners wird er „Lebowski“ getauft.
Die Jungfernfahrt führt den Rhein hinunter. Der Skipper ist aufgeregt, er war noch nie zuvor segeln. Er will es – wie so vieles in seinem Leben – in Eigenregie lernen. Es wird ein herrlicher Tag auf dem Wasser – wenn auch unter Motor –, und bald traut sich der Segel-Neuling auf die Ostsee und die Adria.
Am liebsten segelt er „radikal off season“, also von Februar bis Mai, wenn die Häfen leer sind und er noch nicht auf der Bühne steht. Benders Beruf ist die Musik. Seit 22 Jahren spielt er Schlagzeug in einer Rock-’n’-Roll-Band – und zwar fast ausschließlich im Sommer. „Wenn alle auf dem Wasser sind, habe ich keine Zeit. Dann verdiene ich mein Geld und spiele.“
Den Rest des Jahres nimmt er sich Zeit für andere Dinge – zum Beispiel Bootsbau. Dass Segeln sein Ding ist, merkt er auf den Törns mit „Lebowski“ schnell. Auch wenn manches anfangs schiefgeht. Erst sorgt Wassereinbruch am Seeventil der Spüle für Adrenalinschübe, später ein Leck am Borddurchlass des Echolotgebers für eine schlaflose Nacht. Für den leidenschaftlichen Handwerker ist es der Anstoß, sein Boot einem Mammut-Refit zu unterziehen.„Ich habe mich hier richtig ausgetobt!“
Unter Deck baut er neuen Stauraum, eine neue Pantry und einen schwenkbaren Salontisch auf einer Halterung vom Schlagzeug. Die Borddurchlässe werden dicht laminiert, und statt einer Bordtoilette kommt ein Eimer an Bord – mit WC-Brille und einem Deckel aus lackiertem Holz.
Bender saniert das Deck, verstärkt die Mastaufnahme und bastelt für sein Schiffchen gleich zwei neue Schiebeschotten, die auf langen Reisen mehr Lebensraum bieten. Zuletzt folgt ein formverleimter Bugspriet für den neuen Gennaker, den der Eigner dem Boot spendiert, das bei nur 5,79 Meter Länge immerhin eineinhalb Tonnen verdrängt.
Viele Dinge wandern an Bord, „die das Leben auf längeren Reisen ermöglichen“, so Bender. Als Kühlschrank-Ersatz dient ein Netz, das samt Bierdose ins Wasser gehängt wird. Ein aufblasbares Kajak wird zum Beiboot. Auf dem Geräteträger finden Solarzelle, Funkantenne sowie das Ankerlicht Platz und beim Trailern auch der Mast.
Alles ist spartanisch, aber wunderbar.“
Sogar über eine Windsteueranlage habe er schon nachgedacht. Doch Aufwand und Gewicht hätten ihn bisher davon abgehalten. Noch sei schließlich keine Ozeanüberquerung mit dem Bötchen geplant.
Dabei beobachtet Bender aufmerksam all jene, die ihre kleinen, oft selbst gebauten Schiffe übers offene Meer scheuchen. Etwa den Franzosen Yann Quenet, der jüngst auf vier Metern um die Welt segelte, oder den Grandseigneur der Mikrobootszene, den Schweden Sven Yrvind. „Aber die Jungs spielen in einer anderen Liga“, weiß er. Zwar könnte sich Bender eine Weltumsegelung im kleinen Boot selbst gut vorstellen, doch vorerst hat er andere Pläne.
Von Auftritt zu Auftritt, von Party zu Party reist „Walt Bender“ – so sein Künstlername – von Frühsommer bis Herbst mit seinen Bandkollegen von „Krüger Rockt!“. Durch Deutschland und Europa, überall dorthin, wo die Rock-’n’-Roll-Musiker gebucht werden. Segeln, und zwar allein, ist für ihn der perfekte Gegenpol zum Job geworden.
Mein Beruf ist es, die Party für andere zu schmeißen“.
„Ich muss permanent gute Laune haben, jeden Abend. Da ist es ein super Ausgleich, klischeehaft in den Sonnenuntergang zu segeln und mit niemandem reden zu müssen. Ein Törn unter sechs Wochen ist für mich fast schon ein bisschen hektisch.“ So zieht er jedes Frühjahr los, bevor die Saison richtig startet – auf der Bühne wie auf dem Wasser.
Doch irgendwie wäre Segeln im Sommer, wenn zwischen zwei Auftritten mal kurz Pause ist, auch ganz schön. Aber wo und wie? Nur für ein paar Tage zu trailern ist ihm zu aufwändig. So schleicht sich eine neue Vision in Benders kreativen Kopf.
Ihm schwebt ein Boot vor, das er auf die Ladefläche seines Transporters schieben kann, das sich binnen zehn Minuten aufriggen lässt und mit dem er mal eben schnell nach Holland fahren kann. Die wichtigsten Eckdaten: Es darf maximal 2,50 Meter lang und 1,15 Meter breit sein und muss hochkant noch durch die Tür seiner damaligen Werkstatt passen.
Pocket Cruiser heißen die Mini-Segelboote, die kaum größer sind als ein Opti und deren Fans vor allem in den USA, Australien und Neuseeland zu finden sind. Für Thorsten Benders Pläne scheinen sie perfekt: Autotür auf, Boot rein, Klappe zu und weg für ein paar Tage. Er will simpel segeln gehen mit einem knuffigen Boot, das er selbst bauen würde.
Bender wäre nicht er selbst, wenn ihm diese Herausforderung nicht enorme Freude bereiten würde. „Ich handwerke gern! Und wenn ein Mann schon nicht Holzfäller in Kanada ist, muss er doch wenigstens ein Boot bauen“, sagt er und lacht. Vor Baubeginn stöbert er in Foren, schaut stundenlang Youtube-Videos, ordert stapelweise gebrauchte Zeitschriften und verfolgt das Treiben anderer Selbstbauer.
Pläne für einen bestimmten Bootstyp kauft er nicht, sondern bastelt ein kleines Männchen aus Pappe – sich selbst – und drumherum ein Schiffsmodell.
Als ich wusste, wie es aussehen soll, habe ich einfach losgelegt.“
„Ich war ja schon gesegelt. Dabei bekommt man ein Gespür dafür, was funktioniert und was nicht, wenn man halbwegs praktisch veranlagt ist.“
Und das ist er, der ständig irgendetwas umbaut, ausbaut oder repariert. Nachdem er das Gymnasium abgebrochen hatte, um Rockstar zu werden, folgte ein Jahr Ausbildung in einem Malerbetrieb. Doch das meiste brachte er sich selbst bei. Autos hat er schon ausgebaut und eine Weile professionell Antiquitäten restauriert, bevor es mit der Musikkarriere richtig losging. „Ich bin ein guter Allround-Handwerker“, findet Bender.
Lösungen zu finden macht wahnsinnig viel Spaß.“
Zuerst entsteht bei dem neuen Boot die Bodenplatte, dann werden die Schotten aufgesetzt und verschraubt. „Ich habe viel mit Hilfsleisten gearbeitet“, erklärt Bender. Dann wird seitlich beplankt. Nach neun Monaten Bauzeit und drei Lagen Laminat wiegt das Boot stolze 150 Kilogramm und ist fertig. Mit Hilfe zweier langer Bretter kann der Eigner es allein in den Transporter rollen. An den mit Eisenschrott gefüllten Kiel hat er kurzerhand zwei Räder geschraubt, die auch beim Segeln dranbleiben.
Etwa der Spiegel am Aufbau, mit dem der Skipper nach achtern schauen kann, ohne sich den Hals zu verrenken. Beim Steuern sitzt er mittig auf einem Kajaksitz mit Lehne und blickt nach vorn – nachdem erste Versuche auf dem Wasser zeigten, wie kippelig das Gefährt ist, wenn er seitlich sitzt und mit der Pinne steuert.
An Steuerbord fällt eine leere Halterung ins Auge. „Die ist für den Fischfinder, der die Wassertiefe anzeigt. Aber ich brauche ihn nicht. Wenn es für dieses Boot zu flach wird, sehe ich den Grund.“ Für Flautentage sind zwei Paddel an Bord.
Bei den Details tobt Bender sich aus. Das Ruderblatt baut er in Form einer Gitarre, den Mastfuß zieren Überbleibsel eines antiken Möbelstücks, den Aufbau eine Gürtelschnalle mit Schlagzeugmotiv.
Ein wenig wirkt die „48 Crash“, wie Bender seinen Winzling nach einem Hit von 1973 tauft, wie eine schwimmende Puppenstube. Alles ist niedlich, unterdimensioniert und mit Liebe zum Detail gefertigt. Bender, nicht gerade ein Riese, wirkt wie einer, wenn er im Schiff sitzt.
Wo immer er damit auftaucht, ist er die Attraktion.
Ich habe unterschätzt, wie viel Aufsehen ich mit dem Boot errege.“
Am liebsten zieht er es mittlerweile an Orten aus dem Auto, wo kaum jemand vorbeikommt. Häfen meidet er. Doch die Reaktionen seien immer positiv. Ob das Boot zu kaufen sei, sei er schon gefragt worden, oder ob er es als Auftragsarbeit noch einmal bauen würde. Bender winkt ab. „Das war noch in der Phase, in der ich gesagt habe: ‚Nie wieder!‘ Außerdem wäre das wirtschaftlich nicht machbar“, so der Bootsbauer, der seine Arbeitsstunden nicht gezählt hat.
Wohl aber das Geld, das im Boot steckt: Etwa 1.000 Euro an Materialkosten seien es. „Fast etwas viel“, findet Bender.
Er liebt es, Dinge wiederzuverwenden und ihnen einen neuen Sinn zu geben, er ist Jäger und Sammler – früher auf Flohmärkten, heute im Internet. Mit großer Leidenschaft baut er Dinge selbst oder um. Etwa den Flaggenstock in Form eines Drumsticks auf der „Lebowski“ oder den Geräteträger aus VA-Rohr samt „Mufubre“ („Mein Multifunktionsbrett, das Leiter, Sitz- und Werkbank ist“). Der Bootshaken auf der „48 Crash“ ist ein alter Schrubberstiel mit angeschraubtem Haken.
„Ich bin Resteverwerter“, sagt Bender, der seine Schätze in großen Schubladen sammelt. „Einfach etwas neu zu kaufen finde ich wahnsinnig langweilig. Boote zu nutzen macht mir nur Spaß, wenn ich sie auch selbst gebaut oder umgebaut habe.“
Diese Einstellung hilft ihm beim Sparen: „Ich verdiene den Sommer über genug fürs ganze Jahr, aber das setzt eine gewisse Genügsamkeit voraus“, berichtet Bender. Dass er sich in seiner freien Zeit dem Bootsbau-Hobby in einer großzügigen Halle mit angegliederter Werkstatt hingeben kann – und das ohne Miete zu zahlen –, verdanke er seiner Lebensgefährtin. Ihr gehört das Weingut Georg Breuer, auf dem er baut. „Ohne Theresa wäre das nicht möglich; ich spiele ja nicht bei den Stones.“
Vor 14 Jahren lernten sich die beiden kennen. Benders Band spielte auf einer Veranstaltung im Weingut. Sie blieben in Kontakt, wurden ein Paar. Theresa Breuer jettet beruflich viel um die Welt, während ihr Partner auf der Bühne steht. Die knappe gemeinsame Freizeit verbringen sie beim Klettern oder schon mal auf Törn mit der „Lebowksi“.
Thorsten Bender revanchiert sich mit handwerklichen Tätigkeiten rund um das Weingut. „Ich bin der ehrenamtliche Hausmeister“, sagt er lachend. Er freut sich, wenn dabei etwas für ihn abfällt, wie jüngst eine Rolle Armaflex beim Bau der neuen Lagerhalle für den Wein. Geliefert wurden die Bretter für den Neubau in Sperrholzkisten – die nicht auf dem Müll, sondern in Benders Schatzkammer landeten. Längst träumt er von einem dritten Boot.
Denn der Minimalist genießt es zwar, mit seinem Selbstbau mit maximal drei Knoten das Sneekermeer zu überqueren. „Das fühlt sich dann tatsächlich an wie ein Meer.“ Aber fünf bis sechs Nächte vor Anker seien das Höchste der Gefühle. „Sobald du dich zur Seite lehnst, kippst du halb raus“, gesteht der Hobby-Bootsbauer. „Es wird nur etwas besser, wenn man sie längsseits an der Pier festmacht.“
Auch soll sein nächstes Schiff für Kurztrips schneller sein. Bender stöbert auf Portalen mit kostenlosen Bauplänen und findet einen kleinen Trimaran, Typ Drifter 14, des Amerikaners Mark Gumprecht. „Das ist ein ganz anderes Konzept als die ‚Crash‘, aber man muss sich ja weiterentwickeln“, sagt er und öffnet ein paar Lukendeckel der Ausleger, in die sich die einstigen Transportkisten unter seinen Händen bereits verwandelt haben.
Die Luken und einige Details seien die einzigen Modifikationen, ansonsten würde er diesmal streng nach Plan bauen. Weitestgehend. Für das Trampolin hat der Sparfuchs bereits Sichtschutzplane für Bauzäune gekauft. Die will er doppelt spannen, und später darauf im Wurfzelt schlafen. Gut 700 Euro soll ihn der fertige Rumpf dann gekostet haben.
Sorgen bereiten ihm allein noch Rigg und Segel. Auch dafür hat er bereits Inspiration und Material gesammelt. Unter der Decke des Weintanks hängt ein alter Surfmast. Außerdem hat er für einen Euro eine Jolle samt Rigg und Segel gekauft. Option Nummer drei ist der Fahnenmast im Garten. „Mir fehlt hier leider jemand zum Austausch über das Thema Rigg und Segel“, bedauert Bender, dessen Sohn Orthopädietechniker ist und mit einer Profi-Nähmaschine die braunen Tücher für die „48 Crash“ nach Benders Vorgaben zusammennähte.
Segel gehören zu den wenigen Dingen, die ich mir auch neu kaufe. Einfach, weil ich sie nicht selbst machen kann.“
Aber auch beim Bau gelingt nicht immer alles auf Anhieb – was Bender nicht dramatisch findet. „Perfektion wird ab einer gewissen Stufe spießig“, findet er, weiß aber auch, dass der Teufel im Detail steckt. „Man muss vorausschauend bauen, was ich eigentlich nicht tue, sondern mir eine Lösung überlege, wenn ein Problem auftaucht.“
So wie nach den Probetörns mit der „48 Crash“, als er feststellt, dass sein Erstlingswerk „saumäßig langsam“ segelt und sich am Heck festsaugt. „Sie war einfach zu kurz“, weiß er heute. Als Abhilfe baut er eine Heckverlängerung von 50 Zentimetern, die an- und abgeschraubt werden kann, damit das Bötchen nach wie vor in den Transporter passt.
Das hat’s voll gebracht!“
Nur einmal wäre beinahe etwas richtig schiefgegangen. Beim Laminieren der „48 Crash“ nutzte er aus Kostengründen Polyester- statt Epoxidharz. „Der Styrolgestank waberte durch den Weinkeller, und der Kellermeister hatte Angst, dass der ganze Jahrgang unbrauchbarwird.“ Zwei Wochen dauert es, bis der Gestank verflogen war – der Wein nahm jedoch keinen Schaden.
Bender ist mit seinem Enthusiasmus für winzige Segelboote nicht allein: Über 140.000 Aufrufe auf Youtube hat seine vierminütige Bildershow mit Baufotos der „48 Crash“ und dem Titel „Very small homemade sailboat“. Kleine handgefertigte Segelboote – Thorsten Bender würde sie niemals gegen ein großes Schiff mit mehr Komfort tauschen. Der Grund, sagt er, liege auf der Hand:
Als Minimalist ist die Freiheit einfach so viel größer!“