Vierteltonner “Hiddensee I”“Tuppel-Party” - DDR-Klassiker werden 50

Matthias Beilken

 · 16.05.2023

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Foto: LippmannFotografie
Vierteltonner vom Typ Hiddensee in Aktion: Impressionen der Senatorenregatta 2022

Vierteltonner vom Typ Hiddensee wurden in der DDR von den Eignern selbst “getuppelt”, wie laminieren in Ostdeutschland genannt wird. In diesem Jahr feiert die eigenartige Bootsklasse 50-jähriges Jubiläum. Porträt eines kuriosen Klassikers

Unter Deck der „Hiddensee I“, Prototyp von 1972, findet in Rostock ein besonderes Wiedersehen statt. Sechs Menschen aus Ost und West, darunter der Konstrukteur Walter Loos, sitzen um den Kajüttisch oder quetschen sich in verbleibende Ecken. Simone Schuberth, Miteignerin des benachbarten Schwesterschiffs „KalkEi“, meint spaßig: „Der Murmann hat die neue ‚Uca‘ damals nur gebaut, weil wir ihn 1999 bei Rund Bornholm geschlagen haben“, von einer Baltic 67 rüstete der Kieler auf einen 26-Meter-Maxi auf.

Typ Hiddensee: Eine besondere Bootsklasse

Schlagwerkzeug der Familie Schuberth dagegen: Besagter Vierteltonner und heutiger Klassiker vom Typ Hiddensee – zu Eiserner-Vorhang-Zeiten durch die Voreigner selbst gebaut, versteht sich. Knubbelige wie kultige Acht-Meter-Boote, die nicht nur aufgrund ihrer eigen­willigen Optik zum Wahrzeichen der DDR-Seesegelei geworden sind. Wahrzeichen wie ein Trabant, oder besser: wie ein Barkas B 1000, großer Trabbi-Bruder und DDR-Einheits-Kleintrans­porter mit Zweitakt-Wartburgmotor. Barkas’ Optik: putzig und rund wie ein Schokoladenauto zu Weihnachten. Was die Hiddensee betrifft, gab es trotz der gro­ßen Stückzahl nie eine Werft; wer segeln wollte, muss­te selber bauen. Und: Das charakteristische Aus­sehen täuscht darüber hinweg, dass sich die Bötchen als Wölfe im Schafspelz entpuppten. Kein Wunder also, das mit dem Murmann.


Zum Hiddensee-Jubiläum:


„Hiddensee I“ entpuppt sich als Raumwunder. Dass sechs Menschen in einem Vierteltonner bequem unter Deck Platz finden, hat schon was. In schummrigem Licht fliegen Weißt-du-noch-Geschichten hin und her, werden verblichene Blau­pausen gewälzt, wird an Ecken, Schapps und Kielbolzen des alten, vielgesegelten Vereinsschiffs herumgefingert, das jetzt – liebevoll restauriert – Loos’ Eigentum ist. Rostock ist noch heute eines der Hiddensee-Zentren im wiedervereinten Deutschland. Und schnell wird klar: Hiddensees sind echte Kreuzungen aus Renn- und Fahrtenschiffen – Geheimtipps, Prä-Wende-Cruiser/Racer.

Was bedeutet “Tuppeln” und woher stammt der Audsruck?

Zuerst gilt es jedoch, die Existenz des wiederholt gebrauchten Wortes „tuppeln“ zu klären. Denn neben anderen Absonderlichkeiten ostspezifischer Begriffe zählt der Ausdruck – lautmalerisch für „laminieren“ – hier offensichtlich zum gängigen Bootsbau-Wortschatz. Vor allem im Zusammenhang mit dem damals schicken Jedermannboot, das den Traum vom Seesegeln erst ermöglichte und einen GFK-Selbstbauboom auslöste, fällt „tuppeln“ eigentlich ständig. „Logo, das sagt hier jeder“, echoen alle unisono. „Na ja. Eigentlich heißt es ‚tupfen‘“, räumt Loos ein. Aber mecklenburgisch verzerrt wird eben „tuppeln“ draus. Laminat verdichten, konsolidieren, das geht in Abwesenheit von Vakuumpumpen oder Entlüftungsrollen eben nur durch Aufs-Laminat-Drücken.

Es gibt schätzungsweise 500 Hiddensee-Viertel­tonner, in Garagen, Hinterhöfen und Scheunen selbstgetuppelt. Aber die Dunkel­ziffer ist weit höher. Denn die einzige Form wurde gegen Lizenz (1000 Ostmark, „Aluchips“) vom Bund Deutscher Segler (BDS) an willige Tuppelbrüder verliehen. Die Angabe, wie viele Rümpfe darin entstehen sollten – meist einer – war obligatorisch. Aber bei guter Vorbereitung dauerte das Herstellen einer Schale nur etwas über einen Tag, deswegen ent­standen immer wieder mehrere Rümpfe in Rekordzeit. „Hier war die Produktivität der DDR endlich mal richtig hoch“, witzelt Martin Kringel, der bei Speedsailing nebenan Open 60s skippert, im Schein der Unter-Deck-Lampe.

Der DDR-Klassiker musste selbst gebaut werden

Über Kringels und dem Kopf von Andreas Wenndorf lugen die Muttern der Fallenstopperbolzen aus der Holzverkleidung. Wenndorf hat die Stopper selbst gebaut, von den damals üblichen Originalen sind sie nicht zu unterscheiden. Wieder ein Wort gelernt: „Ratiomittel­bau“. Als Schlosser war Wenndorf in einem Betrieb tätig, geschaffen nur zu dem Zweck, das Unmögliche möglich zu machen. „Ratio­nali­sierungsmittel“ waren Dinge meist west­lichen Vorbilds, von denen man zwar wusste, wie sie funktionierten, aber nicht, wie sie zu beschaffen waren. Also wurde akribischst nach­gebaut, Fallenstopper ebenfalls.

Frank Schuberth, Haus- und Bootsservicemann, fasst es zusammen: „Eigenschaften, von denen heute in teuren Seminaren erzählt wird – Teamfähigkeit, Koordinationsfähigkeit, Querdenkertum und so – mussten wir damals bereits mitbringen, sonst gab’s kein Boot. Das System hat uns die Eigenschaften gelehrt. Wie Edelstahl aus Schrottmaschinen ausbauen und gegen Harz oder Pinsel tauschen.“ Die Tuppelbrüder können stolz sein.

Der Ursprung des Typ Hiddensee

Die Fairness gebietet, Ostäpfel auch wirklich mit gleichalten Westäpfeln zu vergleichen. Denn das etwas eigenwillige Design der Hid­densee stammt aus einer Zeit, als der Westen Deutschlands auch nichts Hübscheres zu bieten hatte, als wildeste Experimente unter dem Deckmantel der International Offshore Rule (IOR) und dem boomenden GFK-Bau betrieben wurden. Wüste Stahlschiffe und Back­decker in Orange und Hornhaut-Umbra, dahin ging der West-Zeitgeist. Vor diesem Hintergrund betrachtet, macht die Hiddensee gar kei­ne schlechte Figur.

Für Walter Loos waren außerdem Daten über andere Konstruktionen wesentlich schwie­riger zu beschaffen, als sich ein routinierter Internet-User in seinen düstersten Visionen (Stromausfall) heutzu­tage vorzustellen ver­mag. Gelegentlich fanden sich Linienrisse in einer YACHT-Ausgabe, die in der Betriebsbibliothek auslag – die aber nicht ausgeliehen werden konnte. Und Kopierer? Wo gab’s denn so was? Aus verschiedenen Entwürfen den besten zur Formreife weiterzuentwickeln und etwas zu projektieren, was auch noch exakt den Vierteltonner-Rennwert der IOR einhalten sollte, bedeutete für den heute pensionierten Loos nicht endenwollende Old-school-Konstruktionsarbeit per Hand.

Selbst bauen? Nicht ganz einfach!

Dass die Werft in Rostock bereits die Mallen für die Vorschiffsformen aufgestellt hatte, bevor Loos den Rumpf zuende straken konnte, machte ihn nicht glücklicher, resultierte jedoch in ein breiteres als üblich, gleitfähigeres Heck. Die Hiddensees ähneln den Tonner-Konstruktionen des Amerikaners Dick Carter, die Ende der Sechziger häufig zu sehen waren: große, leicht laufende Rümpfe mit kleinen stummeligen – wie vorgerefft wirkenden – Riggs begründeten seinen Erfolg.

Jedoch stellten Loos und der BDS hohe Ansprüche an die Hobbybootsbauer. Denn bevor die los­tuppeln durften, musste ein Probestück bei ei­nem „Plastanwende-Inge­ni­eur“ eingereicht werden: Lami­natplan korrekt gelesen? Verhältnis von Harz zu Gewebe einigermaßen getroffen? Siegfried Nöckel, der heute noch begeistert Vierteltonner segelt, war einer der für Bauabnahmen bestellten Experten. Das Wort „basteln“ hört er nicht gern. „Die Boote sind mit viel fachlichem Hintergrund und immer unter fachlicher Aufsicht entstanden.“

Es ging oft offiziell zu. Loos musste das Material für den Prototypen zwei Jahre vor Baubeginn in Berlin „bilanzieren“. Wer dachte, Bilanzen würden rückblickend auf Geschäfte erstellt, irrt sich. Loos: „Bei uns wurde doch immer alles geplant.“ Weil das Berechnen von Rumpf und Rigg schon viel Zeit gekostet hatte, entstand die Decksform etwas huschhusch und holzlattenkompatibel. Des­wegen wirkt der Aufbau ziemlich klotzig.

Der Klassiker wird zur Ikone

Am Tag nach der Tuppelparty auf „Hidden­see I“ machen Crews eine Handvoll Vierteltonner an den Stegen des Rostocker Segelclubs 92 (RSC 92) an der Warnow – der ehemaligen Yacht­marina „Schiffahrt-Hafen Rostock“ – regatta­klar. Das Blaue Band der Warnow steht an, Kultregatta schon vor DDR-Zeiten. Und Hiddensee-Vier­teltonner , die heute Klassiker sind, zählen seit Jahrzehnten zum Stadtbild. Auch Schuberths weiße „KalkEi“ segelt raus. Physiotherapeutin Simone, die das Segeln von der Pike auf in einem Klub in Ostberlin lernte: „Bei uns gab es den Begriff ‚Joghurt­becher‘ nicht. Alles, was irgendwie blubberig aussah, waren Kalkeier.“ Wieder was gelernt.

Die Bewegungen von „KalkEi“ sind elegant. Dass die Tücher vom FES-Ableger (Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte) Segelform ordentlich geschotet werden kön­nen und ausreichend modern rascheln, versteht sich von selbst. Denn immerhin war die Segelausbildung in der DDR wettkampfnah, da achtet man auf so was. Dass ehemalige Staatssegler wie Peggy Bahr (früher Hardwigger) oft auf der Hid­den­see unterwegs ist, verleiht der Klasse Auftrieb. Eigner von „KalkEis“ Stegnachbar „Bourbon“: Gunnar Voigt, damals im 470er-Kader.

Unter Regattaseglern gelten Hiddensees als Geheimtipp. Einige wie die „Test“ oder die „Larn“ (beide Wismar) wurden mit höheren Riggs modifiziert und tragen andere Aufbauten. Vierteltonner segeln heute rechnerisch wie viele alte IOR-Konstruktionen auf der ranken Seite.

DDR: Per Regatta zur Befahrensgenehmigung PM 18

Wenn auch der Wettkampfgedanke im Osten politisch bedingt extrem hochgehalten wurde (Stichwort: „Diplomaten im Trainings­anzug“) und oft sogar Sicherheitsbedenken überflügelte, waren nicht alle auf den Sport ausgerichtet. Viele Seesegler nahmen nur deshalb an DDR-Meisterschaften teil, weil sie damit an die Befahrensgenehmigung PM 18 gelangen konnten, ohne die sie nicht auf die Ostsee durften. „Wir waren eigentlich unerwünscht“, erinnert sich der einst Beschläge zaubernde Wenndorf an Bord von „Selfmade“, die seinem Bruder gehört. „Je mehr Segler auf der Ostsee herumfuhren, des­to mehr Stress hatten die von der Deutschen ‚Erfolgsmarine‘.“ Die begehrte PM 18 galt freilich nur für Tagfahrten.

Bruder Wenndorf hatte mit Regattasegeln wenig am Hut und sich ein Fahrtenschiff auf der Basis eines Vierteltonners gebaut: den Rumpf etwas höher gezogen und einen selbstgezimmerten Holzaufbau daraufgesetzt. Das Inte­rieur sieht einfach riesig aus – ein Raumschiff. Kaum zu glauben, was aus einem Achtmeterrumpf so alles gebaut werden kann.

Jubiläumstreffen zum 50. Geburtstag

Und ein paar Kaskos gibt es auch noch. Frank „Schubi“ Schuberth: „Einige stehen noch halbfertig rum. Die haben Baugemeinschaften noch kurz vor der Wende geklebt. Wer ein solches Ding schießt und sich selbst um die Details kümmert, hat ein gutes Boot. Kaum 20.000 Euro muss er dafür hinlegen“, weiß der Experte. Und dafür muss man nicht einmal mehr tuppeln.

Ein halbes Jahrhundert seglerischer Überlegenheit auf 8 Metern sollen gebührend gefeiert werden, so verkünden es die Veranstalter des vom 2. bis 4. Juni 2023 in Stralsund auf dem Dänholm stattfindenden „demilitarisierten Regattaspaßes“.

Mehr zur Jubiläumsveranstaltung finden Sie hier:

Dieser Artikel erschien zuerst in YACHT 22/2009 und wurde für diese Online-Version überarbeitet.


Technische Daten „Hiddensee I”

  • Konstrukteur: Walter Loos
  • Werft: Selbstbau
  • Lüa: 7,95 m
  • Breite: 2,89 m
  • Tiefgang: 1,53 m
  • Segelfläche (Beisp.): 35,0 m²
  • Verdrängung: 2,0 t
  • Segeltragezahl: 4,7

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