Harlekin 20 „Lia”Retroklassiker mit maximalem Segelspaß

Michael Rinck

 · 04.05.2023

Sieht aus wie eine Jolle, liegt aber dank Kiel stabil im Wasser
Foto: S. Hucho
Die „Lia“ im Detail

Ein Retroklassiker mit maximalem Segelspaß für die Boddengewässer – das ist die Harlekin 20 namens „Lia“. Und schön ist sie obendrein auch noch

Windstärke vier, das war sein Limit; sollte es stärker wehen, würde der Eigner sowieso nicht mehr segeln wollen. Das Schiff, das er dieser Prämisse folgend bei Bootsbau­meister Nicolaus Tamas in Auftrag gab, hat demnach eine ganz klare Ausrichtung: ein Leichtwindrenner.

Am Tag der Testfahrt sind die Bedingungen grenzwertig. Mit 15 Knoten, in Böen knapp 20, rauscht der Wind durch das Schilf am Naturhafen Krummin auf Usedom, auf dem Achterwasser kräuseln sich kleine Wellen. Am gelegentlichen Überschreiten des selbstgewählten Windlimits, so viel vorweg, liegt es jedoch nicht, dass diese Ausfahrt mit einem Mastbruch endet.


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Aber der Reihe nach. Neben seinen Leicht­wind-Qualitäten sollte das Boot den Eignervorgaben zufolge einfach zu steuern sein und ohne viele Leinen auskommen; Platz zum Sonnenbaden und sportlicher Segelspaß waren weitere Stichworte. Es sollte außerdem pflegeleicht und sicher sein und schön anzuschauen. Das waren die Rahmen­bedingungen für den Bau vom Retroklassiker „Lia“. Mal sehen, was Nicolaus Tamas daraus gemacht hat.

Der Eigner hat genaue Vorstellungen

Per Stechpaddel geht es aus der Box und dem Hafen, der Torqeedo bleibt in seinem Stauraum in der Sitzbank. Das Boot ist leicht, wiegt mit Ballast 350 Kilogramm und lässt sich ohne Probleme paddeln. In der Hafeneinfahrt geht das Großsegel hoch. Der Mast steht fast ganz vorn im Schiff, das Groß ist abgesehen vom Gennaker das einzige Segel an Bord und extrem ausgestellt.

Sofort legt die Harlekin los – und bremst sofort wieder ab: Grundberührung, aufgesetzt, direkt auf dem Tonnenstrich. Das Gefühl, in einer Jolle zu sitzen, täuscht. Der Zugvogelkiel sorgt für viel Stabilität, aber mit 1,20 Meter Tiefgang muss navigiert werden wie mit einer Yacht, zumal in den flachen Boddengewässern.

Also Klau- und Piekfall wieder loswerfen. Das Großsegel an der gepeitschten Steilgaffel fällt wieder in die Lazyjacks. Nicolaus Tamas löst die Niederholertalje vom Mast, lüftet ein kleines Bodenbrett und schäkelt die Talje am Kiel fest. Jetzt wird der Großbaum, gehalten von der Dirk, zum Kran und hebt den Kiel aus dem Matsch. Der Wind treibt den Retroklassiker „Lia“ vom Flach. Kiel wieder runter, Segel wieder hoch.

Die „Lia“ ist ein flotter Retroklassiker

Mit halbem Wind geht es hinaus auf den Bodden, die Harlekin schießt über die kleinen Wellen, und Gischt fliegt über das ganze Boot. Die Kontrolle am Ruder ist hervorragend, zumindest solange das riesige Großsegel gut getrimmt wird. In den Böen abfallen, ohne die Großschot zu fieren, funktioniert nicht. Auf Amwindkurs segelt sich die „Lia“ sehr gut, das Boot findet die Windkante quasi von allein, ist luvgierig, aber nur, bis der Kurs stimmt. Obwohl das Rigg ohne Vorsegel auskommt, macht die Harlekin schnell Raum nach Luv.

Kurswechsel. Vor dem Wind kommt Ruhe ins Schiff, es segelt trocken und gleitet in den Böen die kleinen Wellen hinunter, es ist kaum noch Druck auf der Schot zu spüren. Nicolaus Tamas nutzt die Gelegenheit, um über weitere Geheimnisse hinter seiner Krea­tion zu sprechen.

Der Retroklassiker hatte über die genannten Vorgaben hinaus auch einer nicht alltäglichen Vorstellung des Eigners zu genügen: Er sollte aussehen wie eine Chiemsee-Plätte. Das ist ziemlich ungewöhnlich, denn es bedeutet, dass er einen sehr sportiven Daysailer ausgerechnet in der Optik eines aus alten Arbeitsbooten hervorgegangenen Typs wünschte – eine Renn-Plätte.

In den Boddengewässern ist die „Lia“ zu Hause

Andererseits passt das ganz gut zum Revier, für das die „Lia“ gebaut wurde, das Achterwasser. Der Eigner kommt aus Mainz, wie er sagt, dem „schlechtesten Ort zum Segeln, den es gibt“. Umso mehr haben es ihm die Boddengewässer angetan, er möchte seine Segelurlaube ausschließlich hier am Achterwasser verbringen. Übernachtet wird dabei im Ferienhaus, das Boot wird lediglich als Daysailer genutzt.

Die Umsetzung all dieser besonderen Eignerwünsche machte die Planungsphase mit dem Bootsbauer recht anspruchsvoll. Sie zog sich – für ein Schiff von weniger als sieben Meter Länge – vom Herbst 2017 bis ins Frühjahr des folgenden Jahres. Besonders am Kielgewicht und der Bootsbreite entzündeten sich längere Diskussionen. Der Eigner wünschte sich viel Platz, unverbaut durch einen Schwert- oder Kielkasten. Da der Kiel aber zum einfachen Slippen und Trailern aufholbar konstruiert werden sollte, entstand die Idee, die tragende Struktur in einen doppelten Boden zu integrieren. Dieser Boden übrigens ermöglicht zudem Selbstlenzer fürs Cockpit – und macht das Boot unsinkbar.

Durch eine quer eingebaute Sitzbank, die gleichzeitig Stauraum ist, wird der Retroklassiker geteilt: Achterlich davon wird gesteuert und die Schot getrimmt, davor in der Sonne gelegen.

Der Retroklassiker ist eine Jolle mit Kiel

Beim Kiel waren erst 70 Kilogramm Ballast im Gespräch, letztendlich einigten sich Eigner und Bootsbaumeister auf einen modifizierten Zugvogelkiel. Die Finne ist etwas schmaler und einen Meter lang, was sich mit der Bleibombe auf 1,20 Meter Tiefgang summiert. Die Bombe wiegt 125 Kilogramm, das Boot mit Rigg und Ruderanlage aber ohne Bodenbretter laut Tamas nur knapp 160 Kilogramm. Die 100 Kilogramm Differenz entfallen auf die Grätinge in der Plicht und zum größten Teil auf die Kielfinne. Die Harlekin 20 hat also einen sehr hohen Ballastanteil, was zusammen mit der Formstabilität durch die große Breite dazu führt, dass der Konstrukteur Kenterungen trotz der beträchtlichen Segelfläche ausschließt.

Nicolaus Tamas setzte die in der Kombination sicher unkonventionellen Eignerwünsche in seiner Werkstatt an der Schlei um. Das Unterwasserschiff fertigte er aus Sperrholz, das so eingesägt wurde, dass es über Mallen in Form gebogen werden konnte. Anschließend erhielt es eine Beschichtung aus Glasgewebe und Epoxid, die Schnitte wurden zugespachtelt. Dieses modern geformte Kompositunterwasserschiff mündet über der Wasserlinie in einen klassisch geklinkerten Rumpf, ebenfalls aus Sperrholz. Die geklinkerte Bauweise ist nicht nur ästhetisch ansprechend, die Überlappung steift die Bordwände auch zusätzlich aus.

Vorteile beim Unterwasserschiff

Die dank Spanten und Stringer extrem stabile Bodengruppe, bestehend aus Unterwasserschiff und Cockpitboden, ist in zwei Kammern unterteilt und vollständig abgedichtet; das sorgt selbst dann für Auftrieb, wenn das Boot vollläuft. Und da die Plicht somit über der Wasserlinie liegt, konnte das Cockpit mit Lenzern am Heck ausgerüstet werden. Vorteile des modernen Unterwasserschiffs sind nicht nur ein höheres Geschwindigkeitspotenzial und die bessere Kon­trolle, sondern auch der geringere Pflegeaufwand. So ist die Bodengruppe komplett dicht, es muss nichts quellen, wie sonst bei Holz­booten üblich.

Das sichtbare Khaya-Mahagoni aus nachhaltiger Forstwirtschaft ist klar lackiert. Dafür kamen zweikomponentige Polyure­thanlacke zum Einsatz, die die Holzflächen langfristig konservieren und wenig Unterhaltungsaufwand bedürfen. Schäden können ohne Probleme ausgebessert werden. Selbst punktuelle Lackerneuerungen können durch Polieren fast nahtlos angeglichen werden.

Beim Rigg gab es erwartungs­gemäß viel Stoff für Diskussionen: Der Eigner wollte ein Catrigg, weil er damit schon gute Erfahrungen gemacht hatte, außerdem hat die Chiemsee-Plätte ja auch nur einen weit vorn im Boot stehenden Mast. Dieser ist zudem unverstagt, was sich der Auftraggeber auch für seine Harlekin wünschte. Hier musste Bootsbaumeister Tamas viel Überzeugungsarbeit leisten, um seinem Kunden die Vor­züge von Wanten und einem Vor­stag nahezubringen; für beides verwendete er Dyneema. Der Mast hätte ohne diese Rigg-Komponenten angesichts des enormen Groß­segels viel zu stark werden müssen. Gegen die vom Bootsbau-Experten angeratenen Salinge entschied sich der Eigner mit dem Argument, das Auf- und Abriggen würde so leichter und schneller erfolgen.

Der Retroklassiker kann nicht kentern

Nicolaus Tamas verpasste der Harlekin noch einen Bugspriet, der 50 Zentimeter über den Steven ragt und als Anschlagpunkt für den Gennakerhals dient. Denn was wäre ein auf schnelles Segeln ausgerichtetes Boot ohne mächtiges Raumwindsegel?

Mittlerweile hat der Retroklassiker die Krumminer Wiek schon mehrfach von einem Ende zum anderen durchsegelt. Dabei ist Vertrauen in das große aufrichtende Moment der Har­lekin gewachsen – auch wenn sie so aussieht und sich anfühlt wie eine Jolle und anfangs der Drang groß war, durch Ausreiten Gewicht nach Luv zu bringen. Es scheint tatsächlich, als sei ein Kentern unmöglich.

Der Wind hat etwas abgenommen, besonders die Böen kommen seltener und deutlich schwächer; Zeit, den Gennaker hervorzuholen. Der erste Versuch endet in einem Knäuel, Tackline und Gennakerschot sind mehrfach vertörnt. Das bunte Raum­wind­­segel wurde bisher noch nicht gesetzt, deswegen ist die Wuhling aus Tuch und Leien noch niemandem aufgefallen. Alles wird nun erst einmal klariert und richtig geschoren. Dann geht der Gennaker so nach oben, wie er soll.

Der Gennaker macht die „Lia“ schnell

Sobald das Segel Wind bekommt, macht die Harlekin einen Satz nach vorn. Das ist keine Überraschung, denn die Segelfläche wurde durch den Wechsel mit einen Schlag mehr als verdoppelt. Das kleine Boot gleitet direkt an, und der Druck auf der Gennakerschot lässt merklich nach. Ab jetzt surft die „Lia“ nur noch über die gering ausgeprägte Boddenwelle, und am Bug spritzt das Wasser im hohen Bogen weg vom Rumpf. Mit einem Mal erscheint der Bodden als deutlich zu klein für dieses Boot. Und dann, von einem Moment auf den anderen, ist der Törn zu Ende: Mastbruch!

Topp und Gaffel klatschen ins Wasser, sind aber sogleich wieder herausgefischt. Zum Glück ist noch der Elektroaußenborder an Bord. Er wird schnell aus dem Stauraum gekramt und am Heck angebracht. Dann schiebt er die „Lia“ zurück in den Hafen, wo nach dem Klarieren der Wuhling die Ur­sachenforschung beginnt.

Am Ende bestätigt das Ergebnis nur die Warnung von Bootsbaumeister Nicolaus Tamas. Er schließt aus dem Verlauf des Bruchs, dass ein Salingspaar und Drahtwanten, wofür er von Anfang an plädiert hatte, die Last tatsächlich besser abgefangen hätten. Die Dyneemaverstagung hatte sich nämlich so stark gereckt, dass die Wantenspanner schon am Ende ihres Verstellweges angelangt waren. Das Ergebnis: zu wenig Spannung. Eigner und Bootsbauer verbuchen das Malheur als Lehrstunde.

Hochwertiges Finish hat seinen Preis

Was Tamas betrifft, werden die Konsequenzen gleich in seine nächste Renn-Plätte einfließen. Die soll eine Fock mit sieben Quadratmeter Segelfläche bekommen, und der Bugspriet soll länger werden und noch 50 Zentimeter mehr, also insgesamt einen Meter, vorn über den Steven ragen. Dann, so das Kalkül, kann der Gennaker sogar noch etwas größer werden.

Selbst der Mastbruch kann den positiven Gesamteindruck am Ende des Tages nicht trüben. Viel Arbeit steckt in den schönen Details oder im Verborgenen unter dem Plichtboden: die Knebel in der Plicht, die jede Gräting an Ort und Stelle halten, die Belederung dort, wo der Mast durch die Ducht geführt ist, die Hubkielmechanik mit dem doppelt genutzten Niederholer und das klappbare Ruder, das herrliche Lack-Finish. All das hat natürlich seinen Preis: 27 500 Euro kostet die Harlekin; segelfertig beläuft sich die Summe auf 30 200 Euro.

Nur wenige Wochen nach dem Probeschlag kommt die Nachricht: Der Retroklassiker hat wieder einen Mast. Er besteht jetzt nicht nur aus Holz, sondern wurde mit einem Kohlefaser-Inlet verstärkt. Zudem hat Tamas ein Paar Salinge ergänzt, es war doch die bessere Idee. Dem großen, ungezügelten Segelspaß dürfte nun nichts mehr im Wege stehen.


Technische Daten „Lia”

  • Konstrukteur: Nicolaus Tamas
  • Rumpflänge: 6,30 m
  • Lüa (Gesamtlänge): 6,80 m
  • Breite: 2,00 m
  • Tiefgang/aufgeholt: 1,20/0,35 m
  • Gewicht: 350 kg
  • Ballast: 125 kg
  • Großsegel: 16,0 m²
  • Gennaker: 20,0 m²

Dieser Artikel erschien zuerst in YACHT 19/2019 und wurde für diese Online-Version überarbeitet.