Jan Zier
· 22.10.2022
Die älteste J-Jolle „Woge“ wurde 100 Jahre alt. Vor über 25 Jahren rettete sie Eigner Manfred Jacob vor der Kettensäge. Dennoch wird sie seither nicht geschont. Porträt einer Unbeugsamen
Gekauft hat Manfred Jacob die „Woge“ seinerzeit eigentlich nur, damit sie nicht gleich verbrannt wird. Und, ja: Damals, 1996, war das schon eine recht naheliegende Idee. In der Bilge stand der Torf, Planken, Spanten und Bodenwrangen waren lose, obendrein auch vermodert, der Kielbalken gebrochen, das Leichentuch aus Polyester hatte sich lange schon vom Boot gelöst. Viele Jahre hatte die J-Jolle nicht mehr im Wasser gelegen. Die „Woge“, sie war ein Wrack. Doch Manfred Jacob hat sie gekauft und – inklusive Trailer – sogar noch 1.000 D-Mark dafür bezahlt. Über die Jahre restaurierte der studierte Physiker und heute frisch verrentete Programmierer die 1922 in Hamburg gebaute „Woge“ von Grund auf. Bis am Ende auch das Mahagonideck wieder glänzte.
Es ist nicht das erste Boot in einem „jämmerlichen Zustand“, das er rettet. Zuvor hatte er schon die „Fram“ aufwändig und preisgekrönt saniert, auch sie eine J-Jolle. Wobei: Man spricht stets von I-Jolle, auch wenn sie sich anders schreibt. Die „Fram“ ist sein hochgezüchtetes Regattaschiff. Dass er auch die „Woge“ immer noch hat, war zunächst gar nicht vorgesehen: „Ich gab ihr damals noch vier Jahre“, sagt Jacob – „ich wollte sie als Daysailer auf der Elbe segeln, zusammen mit meinem Sohn.“
Keine wirklich naheliegende Idee, wenn man ehrlich ist, nicht nur, weil jener Sohn, Marek, damals gerade fünf Jahre alt war. Von Schiffen, die heute üblicherweise als Daysailer gehandelt werden, ist eine J-Jolle denkbar weit entfernt. Selbst ortsübliche Wanderboote wie die Elb-H-Jolle sind deutlich komfortabler und auch leichter zu segeln. Denn die J-Jolle ist eine übertakelte Rennmaschine mit 22 Quadratmeter Segelfläche; hat man die Genua draußen, kommen noch mal vier dazu. Wenn die Elb-H-Jolle mit 15 Quadratmeter Segelfläche ein „Ackergaul“ wäre, sei die J-Jolle ein „Vollblüter“, hat mal jemand gesagt.
Mit der „Fram“ schaffte es Manfred Jacob schon auf Geschwindigkeiten von mehr als 18 Knoten. Dabei war die J-Jolle damals, als sie 1909 die erste nationale Jollenklasse bildete, ganz anders konzipiert. Es sollte dies nach dem Willen Hamburger und Berliner Segler eine Klasse „kleiner, halbgedeckter Boote sein, mit mäßigen Segeln und von derber Bauart, sodass sie Anfängern im Segelsport als gute Schulungsboote in die Hände gegeben werden können“.
Die J-Jolle sollte damals ein billiges Ausbildungsboot werden, entwickelte sich dann aber rasch zur Hightech-Maschine
Ein billiges Ausbildungsboot also sollte sie werden, und schon bis 1915 wurden 300 Exemplare gebaut. Doch die Konstruktionsklasse lockte bekannte Konstrukteure wie Reinhard Drewitz, Carl Martens, Willy von Hacht und Manfred Curry an und entwickelte sich schon bald in eine ganz andere Richtung. Vorgegeben war im Wesentlichen die Formel, wonach Länge und Breite zusammen 7,80 Meter ergeben müssen, das Boot aber mindestens 1,70 Meter breit sein muss. Die Takelung war völlig freigestellt, Hochtakelungen aber konnten sich gegen das Steilgaffelrigg nie wirklich durchsetzen.
„Sie entwickelte sich zur Hightech-Maschine“, sagt Manfred Jacob, der nun schon seit über 20 Jahren Klassenpräsident ist. „Die 22-qm-Rennjolle stellt an die Mannschaft die höchsten Anforderungen. Aber das gerade reizt den Rennsegler, er liebt die hohe Schule des Jollensegelns“, heißt es in einer 1941 veröffentlichten Lobrede. Vor dem Zweiten Weltkrieg führten denn auch prominente Starboot-Segler die Ergebnislisten an. Der Weltmeister von 1938 etwa, Walter „Pimm“ von Hütschler, oder der Olympiasieger von 1936, Peter Bischoff. Bis 1945 galt sie als anspruchsvollste mitteleuropäische Jollenklasse. Heute wird die J-Jolle manchmal als „FD der Vorkriegszeit“ bezeichnet, weil sie ähnlich hohe Ansprüche wie die einstige Olympiajolle Flying Dutchman stellt.
Bis 3 Beaufort kann man sie auch noch gut zu zweit segeln. Als die YACHT zu Besuch ist, weht Windstärke sechs über die Elbe. Da braucht es durchaus die dreiköpfige Rennbesatzung, schon wegen des stetigen Gewichtstrimms auf diesem sehr sensiblen Boot. Wie auf einem Star hängt die Crew dann möglichst weit außenbords übers Deck, die Füße in einen Gurt geklammert, der freilich nicht original ist und einstmals gar nicht vorgesehen war.
In das schon gut 60 Jahre alte, durchgelattete Großsegel ist heute das dritte Reff gebunden – viel weniger geht jetzt nicht mehr, ohne dass die Steilgaffel sich am Baum stößt. Als Vorsegel dient eine kleine Fock, die sonst eigentlich einem Pirat gehört. Es ist Vatertag, doch die meisten Crews hier sind an Land geblieben; auch die der Motorboote. Nur ein paar ganz wenige Segler haben sich hinaus auf die Elbe und vor die Kulisse des edlen Hamburger Vorortes Blankenese getraut, zwei Laser kurven durchs Mühlenberger Hafenbecken.
Die Crew ist im Nu durchnässt
Die „Woge“ fegt auch ohne allzu viel Tuch in wilder Rauschefahrt über die Elbe, am Wind schwappt bei jeder Welle Wasser in hohem Bogen übers Deck hinein ins Cockpit. Das ist zum Glück schon selbstlenzend, wild gurgelnd wird das Wasser deshalb gleich wieder nach draußen gesogen. Die Pütz liegt trotzdem stets griffbereit. Zwar gibt es einen Wellenbrecher auf dem Vordeck. Aber der dient heute nur der Zierde; früher war er mal größer, aber das fand Jacob „hässlich“, deswegen hat er ihn mit der Säge halbiert, sagt er. Die Crew also ist im Nu durchnässt. Für eine Rennjolle ist das von Willy von Hacht konstruierte Schiff trotzdem „gutmütig“, sagt Jacob, und inzwischen „eher langsam“. Sie soll ja ein Daysailer sein, also darf sie auch 80 Kilogramm mehr wiegen als ihre Schwesterschiffe.
Anno 1937 gewann die „Woge“ gegen 45 Konkurrenten ihren wichtigsten Preis – das prestigeträchtige „Blaue Band der Niederelbe“, damals ein Nachtrennen über 60 Seemeilen, das am späten Nachmittag vor Oevelgönne startete, wo man heute sein Bierchen in der „Strandperle“ trinkt. Durch die Nacht ging es bei leichten Winden vorbei an Stade, Glückstadt und Brunsbüttel, im ersten Morgenlicht nahm man die Abkürzung über die Sände nach Cuxhaven. Zieleinlauf war morgens um fünf, nach knapp elf Stunden Fahrt.
Soll also keiner sagen, so eine Rennjolle sei nicht langstreckentauglich. Schon 1924 war in der YACHT zu lesen, wie die Woge an einem Wochenende mal eben von Kiel über Fehmarn nach Travemünde gesegelt wurde. Am Abend blieb bei leichtem Wind die Kieler Förde achteraus, und die dreiköpfige Crew „drehte der ersten Flasche Portwein den Hals ab“ – man genoss den sternenklaren Himmel, und der Vollmond erleichterte die noch ganz und gar analoge Navigation.
Doch dann briste es auf, immer größer wurden die Seen, die von der dänischen Küste herüberrollten. „Ein Zurück gab es für uns nicht mehr. Es hieß also durchhalten oder untergehen.“ Als Fehmarn näher kam, erreichten die Wellen „teilweise eine weit über mannshohe Höhe und die Lage wurde immer brenzliger, als plötzlich auf einer großen, besonders starken Welle das Boot aus dem Steuer lief und sich ins Wasser einwühlte. An beiden Seiten standen die Wasserberge neben dem Boote hoch. Das einzige, was noch zu tun war: lebhaft beten und auf unser Glück vertrauen; denn falls nur einer der Berge über uns zusammengebrochen wäre, hätte das Schiff voraussichtlich die Oberfläche nie wiedergesehen.
Jede andere Jolle wäre wahrscheinlich als ziemlich zersplitterter Sarg, wenn überhaupt, in Fehmarn angekommen.
Wir wären voraussichtlich so weit vom Boot weggeschleudert, dass wir es nie wieder erreicht hätten, umso mehr, da es sich voraussichtlich nicht auf die Seite gelegt hätte, sondern ganz umgeschlagen wäre. Da wir uns etwa zehn Meilen von der Küste entfernt befanden, wäre damit unser Schicksal besiegelt gewesen, denn weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen.“ Doch die „Woge“ richtete sich wieder auf, ohne allzu viel Wasser übergenommen zu haben, und schaffte es in den rettenden Hafen. „Das Boot hatte die Anstrengung glänzend überstanden, ein Zeugnis für die Hacht’sche Arbeit. Jede andere Jolle wäre wahrscheinlich als ziemlich zersplitterter Sarg, wenn überhaupt, in Fehmarn angekommen.“ Am nächsten Tag ging es dann entspannter weiter. Bis zum Sonntagabend war man in zwölf Stunden von Kiel bis Travemünde gekommen.
An einen Außenborder ist bei einem flachbordigen Klassiker wie der „Woge“ selbstverständlich nicht zu denken. Dafür kann man sie wriggen. Ganz original ist das zwar nicht, auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag – die Wrigg-Dolle am Heck, die im Hafen als Klampe für die Achterspring dient, ist nachträglich eingebaut. Der Wrigg-Riemen liegt einfach im Cockpit, Manfred Jacob steuert damit routiniert durch den schmalen Hafen an den Liegeplatz der „Woge“. Dass er manchmal milde Blicke motorisierter Bootsfahrer erntet, es stört ihn nicht. Anderswo wriggt er auch mal durch eine Schleuse.
Im Laufe der Jahre hat Manfred Jacob nicht nur neue eicherne Bodenwrangen und einen neuen Mastfuß, sondern auch einen neuen Schwertkasten eingebaut – unten Eiche, oben bestes Mahagoni aus dem Osten von Berlin, das die Jahre der DDR auf dem Dachboden eines Bootsbauers überdauert hat. Den Steven, der in den Sechzigern mal schräg abgesägt wurde, hat er begradigt, sodass er wieder aussieht wie früher. Die Gaffel kommt mittlerweile von einer anderen J-Jolle – Jacob hat sie gegen einen Spinnaker getauscht, nachdem die seine einer holländischen Brücke zum Opfer gefallen war. „Ich gebe mir auch alle Mühe, die ‚Woge‘ klassisch erscheinen zu lassen“, sagt Jacob, und so hat er bei eBay alte Holzblöcke mit Bügeln aus verzinktem Eisen gekauft. Trotzdem wurde da und dort schon etwas modernisiert, weswegen es nun neben Ausreitgurten auch eine Rollfock mit einem Furler aus Plastik gibt. Nur Elektronik ist bis heute nicht an Bord zu finden.
Die Klassenvereinigung der J-Jollen zählt heute über 40 durchrestaurierte Boote, sagt Manfred Jacob. Dabei entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch sehr wenige von ihnen. Viele Segler wechselten zur deutlich billigeren H-Jolle oder zum schnelleren, noch dazu olympischen Flying Dutchman. Der Deutsche Segler-Verband degradierte die 22er Rennjolle daraufhin zur „Altersklasse“, sie geriet in Vergessenheit. Oder eben auch ins Feuer. 1978 restaurierten dann zwei Herren vom Bodensee eine berühmte J-Jolle, andere folgten ihnen, und 1981 wurde die Klassenvereinigung wiederbelebt, mit zwölf Schiffen. „Insgesamt waren damals wohl noch etwa 100 J-Jollen unterwegs“, sagt Jacob, der ein paar Jahre später dazukam.
Auch Manfred Jacob besaß zu jener Zeit aber schon mal eine J-Jolle, er hatte sie 1979 auf einem Acker hinterm Nordseedeich entdeckt. Sie war innen vermoost, das Rigg fehlte ebenso wie Spiegel, Deck und Schwert, die Bodenbretter auch. Der Legende zufolge gehörte die 1924 gebaute „Sir Willi von Ottensen“ einmal seinem Vater; richtig belegt ist diese schöne Geschichte allerdings nicht.
Gleichwohl hat mit diesem Schiff das J-Jollen-Virus dauerhaft von Manfred Jacob Besitz ergriffen. Er hat es als Tourenboot restauriert und damit in den achtziger Jahren mehrwöchige Sommerreisen über die Ostsee nach Dänemark oder durchs holländische Wattenmeer unternommen. Inzwischen liegt „Sir Willi“ am Rottachsee im Allgäu.
Als Jacob „Sir Willi“ 1991 verkauft, hat er sich mit der „Fram“ gerade eben das nächste Restaurierungsobjekt an Land gezogen, drei Jahre und 1.000 Stunden Arbeit wird er in sie investieren, nur um wenige Jahre später noch die „Woge“ dazu zu kaufen. Nebenbei wird sein Sohn Marek geboren, heute Meteorologe und immer noch ein „Woge“-Segler – im Sommer war er mit ihr und seiner Freundin in Holland segeln. 1998 entstand dann ein Foto, das Marek Jacob in Ölzeug und Schwimmweste im Großsegel liegend zeigt, da ist der Junge gerade mal sechs Jahre alt. „Wir segelten damals die erste Tour, zehn Tage auf der Müritz, durch die Kanäle in den Plauer See und zurück.“
Geschlafen wird auf den Bodenbrettern, nachts die Persenning als Zelt darüber gespannt, und gekocht wird wie beim Camping auch. Beim Reffen oder Fockwechsel steuert das zum „Superleichtmatrosen“ ernannte Kind, das immerhin schon schwimmen kann. Später segeln beide zusammen auf der Schlei, den Friesischen Seen, der Havel oder den Boddengewässern der Ostsee. Als Marek zwölf ist, geht es das erste Mal zu den Åland-Inseln – zu einer familienfreundlichen Regatta für kleine offene, traditionelle Boote, der „Raid Finnland“. Jeden Tag fanden zwei Wettfahrten statt, bei denen auch Rudern erlaubt war. „Die Rallye zog sogar Leute aus Hawaii an“, erzählt Manfred Jacob: „Dreimal haben wir uns das geleistet. Das schweißt zusammen.“
2012 schließlich segeln Vater und Sohn auf der „Woge“ zusammen 400 Kilometer die Elbe runter, vom tschechischen Lovosice bis nach Magdeburg. Die Geschichte schafft es seinerzeit sogar auf die Titelseite der YACHT.
Wenn ich das erste Mal kentere, wird sie verkauft
Zum 100. Geburtstag bekam die „Woge“ im vergangenen Frühjahr von ihrem Eigner eine neue Lackierung ihres aus Gabun und Eiche gefertigten Rumpfes spendiert, dazu eine gülden glänzende Plakette am Bug sowie einen Festakt mit geladenen Gästen und Laudatio im Mühlenberger Yachthafen; an der Gaffelnock zeigten Signalflaggen das Wort „hundert“.
Sie ist damit die älteste noch segelnde J-Jolle in Deutschland. Sie sei „unsterblich“, sagt Manfred Jacob heute über seine „Woge“. Wie lange er sie noch segeln will, dazu hat der eingefleischte Jollensegler aber auch eine klare Vorstellung: „Wenn ich das erste Mal kentere, dann wird sie verkauft“.
Weitere Infos unter www.j-jolle.org