Stefan Schorr
· 25.03.2023
Auf der „Lone Star” wird Segeln gelehrt und gelernt. Der Klassiker gehört seit über 40 Jahren zum Yacht Club Nürnberg, der ihn zur Ausbildung einsetzt
„Wir laufen nur noch 2,9 Knoten, jetzt sogar nur noch 2,5.“ Stefan Lieser starrt geradezu entsetzt auf die Logge der „Lone Star“. Seine Mitsegler zupfen an der Schot der 70 Quadratmeter großen Leichtwetter-Genua, verstellen den Traveller der Schot des Großsegels, das 31,8 Quadratmeter misst. „Das ist schließlich eine Regattayacht“, sagt Co-Skipper Lieser.
Ein sommerlicher Samstagmittag. Die Sonne strahlt vom blauen Himmel auf die Ostsee, die hier am Fehmarnsund einem Ententeich ähnelt. Der Wind macht sich rar, und vor der Marina Heiligenhafen herrscht Hochbetrieb. „So viele Schiffe laufen hier nur aus, wenn kein Wind ist“, sagt Jürgen Ruhl kopfschüttelnd mit Blick auf die unzähligen Segelyachten. Nahezu alle motoren.
„Wir versuchen schon, so oft wie möglich zu segeln“, erklärt Birger Gilson. Erwartungsfroh zeigt er auf eine etwas dunklere Wolke am Himmel. „Vielleicht bringt die ja a weng Wind.“ Was war das denn? Verfechter des wahren Segelns, scheinbar erfahrene Salzbuckel, und dann fränkischer Slang? Warum nicht. Ambitioniertes Seesegeln und die Herkunft der Segler aus der Region Franken im Bundesland Bayern schließen sich natürlich nicht aus. Willkommen auf dem Vereinsschiff des Yacht-Club Nürnberg (YCN).
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Der wurde 1961 als Yacht-Club Noris gegründet. Erfolgreichstes Vereinsmitglied ist bis heute Jörg Spengler (1938–2013), der mit dem Tornado bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal die Bronzemedaille gewann und 1975 in Kopenhagen und 1977 in Long Beach Weltmeister wurde. 2019 verschmolzen der Yacht-Club Noris und der am Großen Brombachsee ansässige Yachtclub Frankonia zum Yacht-Club Nürnberg. Mit über 600 Mitgliedern ist der YCN der größte Segelverein in Nordbayern, darunter rund 100 „Seesegler“. Die vereinseigene Ausbildung hat einen guten Ruf weit über Nürnberg hinaus. Daran haben die Ausbildungstörns auf der „Lone Star“, liebevoll „Old Lady des YCN“ genannt, maßgeblichen Anteil.
Ganz gemächlich dreht der Klassiker durch eine weitere Wende. Die große Genua wird dabei vom Crewmitglied Marcus Wildt um den Mast geführt – der Winddruck allein schafft das heute nicht.
Seit 45 Jahren läuft der Klassiker unter dem Stander des YCN, seit 40 Jahren als Vereinsyacht. In Auftrag gegeben wurde der gemäßigte Langkieler 1967 unter dem Namen „Suca“ vom Hamburger Immobilienkaufmann Willy Kuhrt. Die Werft Matthiessen & Paulsen in Arnis an der Schlei sollte ihm eine Regattayacht nach dem Entwurf des Schiffbauingenieurs Uwe Bartels bauen. Die Konstruktion erfolgte entsprechend der damals gültigen Formel des RORC (Royal Ocean Racing Club). Bootsbauer Willi Paulsen fertigte die Segelyacht mit dem klassischen S-Spant mit einer Beplankung in Diagonalkarweel-Bauweise aus Mahagoni. Die Baunummer 227 wurde im Frühjahr 1968 an Willy Kuhrt übergeben. Er fährt die 13 Meter lange Rennyacht bis 1976 unter dem Stander seines Segel-Vereins Wedel-Schulau (SVWS). 1969 belegt die „Suca“ beim Admiral’s Cup, der inoffiziellen Weltmeisterschaft der Hochseesegler, gemeinsam mit „Rubin“ und „Klar Kimming“ den fünften Platz.
Dann wird aus der RORC-Formel und der Formel des CCA (Cruising Club of America) die International Offshore Rule (IOR) entwickelt. Diese Umstellung bedingt einen Umbau der Yacht. Der Rumpf, der ursprünglich über der Wasserlinie naturbelassen ist, erhält in dem Zuge einen markanten gelben Anstrich. Da die Yacht jedoch nicht die erhofften Regattaerfolge bringt, gibt Kuhrt bei Dübbel & Jesse auf Norderney seine dritte „Suca“ in Auftrag, aus dem damals angesagten Werkstoff Aluminium. Das Interesse an seiner Mahagoni-Yacht verliert er und verkauft sie deshalb 1976 an Dietrich Krügel aus Stein bei Nürnberg. Krügel tauft die Regattayacht in „Lone Star“ um und segelt sie unter dem Stander des Yacht-Club Noris Nürnberg. Bis 1981 nimmt Dietrich Krügel an vielen Seeregatten und Fahrtenschiff-Wettbewerben wie Kieler Woche, Nordseewoche, Kiel–Sandham, Kiel–Korsør, Flensburger Woche, Rund Langeland und Rund Seeland teil.
Am 22. September 1981 verkauft Krügel seine Yacht an den YCN, den er schon häufig als Mäzen unterstützt hat. Diesmal spendet er den vereinbarten Kaufpreis an den Club. 1982 startet der in die erste Saison mit eigener Yacht. Der Dauerliegeplatz wurde dafür von Kiel nach Heiligenhafen verlegt. „Wir liegen schon so lange an diesem Holzsteg hier, dass wir sogar ein eigenes Namensschild daran haben“, erklärt Jürgen Ruhl, der amtierende Sportwart Seesegeln.
Das Amt hieß 1982 Schifferrat Fahrtensegeln. Der Amtsinhaber Georg Zimmermann war seinerzeit für die „Lone Star“ zuständig. Sein Credo ist im Club-Sonderheft „50 Jahre ‚Lone Star‘ 1968–2018“ nachzulesen: „Dem Yacht-Club ist mit der ‚Lone Star‘ ein wertvolles Gut anvertraut worden. Jeder Segler ist daher verpflichtet, Schiff und Gerät in Ordnung zu halten. Man kann mit Vorschriften einen gewissen Rahmen festlegen, aber viel wichtiger ist die moralische Verpflichtung jedes Einzelnen, den Mitseglern, dem Schiff und dem Club gegenüber.“
Die Yacht verfügte damals über insgesamt 17(!) Segel, einen verstellbaren Propeller, eine Trimmklappe hinter dem Kiel, ein Profilstag mit Doppel-Nut zum Setzen und Wechseln der Vorsegel und einen hydraulischen Achterstagspanner. Inzwischen ist die „Lone Star“ mit starrem Propeller und ohne Trimmklappe unterwegs. Das Profilstag musste einem einfachen Vorstag weichen, an dem Vorsegel mit Stagreitern gefahren werden. Statt hydraulischem Achterstag gibt es ein festes.
In diesen Jahren ist der Klassiker „Lone Star“ mehr als 20 Wochen pro Saison unterwegs, meist in Kettentörns mit bis zu sechs Etappen. Die Yacht, die seit der Saison 2000 ihre charakteristische blaue Rumpffarbe trägt, wird auf Nord- und Ostsee gesegelt. England, Shetlands, Haparanda, Lofoten, Helsinki, Riga, Tallinn, Göta-Kanal, Göteborg, Oslo, Stockholm und Limfjord stehen als Törnziele in den Logbüchern. Qualifizierte Clubmitglieder können die „Lone Star“ auch für Privattörns nutzen.
Im Winter 2004/05 führt die M & P Jachtwerft Paulsen – Nachfolgebetrieb der Bauwerft – umfangreiche Renovierungsarbeiten durch. Dazu gehört insbesondere die Sanierung des Holzdecks.
Während vor der Jahrtausendwende lediglich zwei bis drei Ausbildungstörns zu den Segelscheinen BR (Revier) und BK (Küste) pro Jahr im Törnplan standen, dienen mittlerweile über 70 Prozent der Törns der Ausbildung: Skippertrainings, Jugend-, Meilen- und Prüfungstörns, etwa für den Sportküstenschifferschein (SKS). Für Privattörns wird der Klassiker „Lone Star“ seltener genutzt; viele Vereinsmitglieder chartern doch lieber eine Yacht mit Rollsegeln am Mittelmeer. „Sie ist eben auch kein Familienschiff“, sagt Jürgen Ruhl mit Blick auf die Innenaufteilung. Und bittet mit einem Schmunzeln unter Deck: „Willkommen im Chic der siebziger Jahre.“
Die 1968 gebaute Yacht wirkt etwas aus der Zeit gefallen mit ihren acht Einzelkojen, dem eher dunklen Salon und einem Toilettenraum, durch den man in die Vorschiffskabine kommt. In puncto Seetauglichkeit ist sie jedoch den meisten modernen Serienyachten deutlich überlegen. So ist an Backbord neben der Niedergangsleiter ein Kartentisch untergebracht, der den Namen noch verdient. Neben viel Platz hat der Navigator hier auch relativ moderne Technik zur Verfügung. Bei Lage bieten senkrechte Stangen und ein Handlauf unter der Decke die Möglichkeit, sich ordentlich festzuhalten. Das ist sinnvoll auf dem Weg ins Vorschiff. Hinter der Vorschiffskammer mit zwei Kojen, unter denen Segelsäcke lagern, liegt die Toilette mit herausziehbarem Waschbecken.
Im Salon gibt es über den Sitzbänken (etwas knapp bemessene) Lotsenkojen. Diese sind – ebenso wie die Sitzbänke, die auch als Kojen genutzt werden – selbstverständlich mit Leesegeln ausgestattet. Im Achterschiff befindet sich an Steuerbord unter dem Cockpit die „Skipperkoje“. Noch akrobatischer muss sein, wer an Backbord in die „Hundekoje“ steigen möchte. „Nennen wir es den Komfort einer Berghütte“, erklärt Jürgen Ruhl dazu.
Die Vereinstörns auf der „Lone Star“ werden jeweils mit Skipper, Co-Skipper und bis zu sechs Crewmitgliedern gesegelt. Da Corona-bedingt aktuell immer zwei Kojen frei bleiben, erhöhen sich Platzangebot und Komfort etwas. „Um die ‚Lone Star‘ sportlich zu segeln, sind aber mindestens fünf Leute an Bord gut“, sagt Ruhl und steigt die Leiter wieder hinauf an Deck. Hinter dem Brückendeck folgt das zweigeteilte kleine Cockpit. Der Klassiker liegt ausgewogen auf dem kleinen Steuerrad. „Ab zehn Knoten Speed vibriert das Ruderblatt“, erklärt Ruhl. „Es wurden auch schon mal elf Knoten geloggt.“
Die „Lone Star“ ist noch immer eine schnelle Yacht mit Starkwindqualitäten. Drei verschieden große Genuas und drei Focks stehen zur Auswahl. Alle werden mit Stagreitern am Vorstag angeschlagen. „Auf einer Ausbildungsyacht macht nichts anderes Sinn“, sagt Ruhl. Zur Segelgarderobe gehören auch Trysegel, Blister und Spinnaker.
„Die Yacht hat sehr gute Segeleigenschaften und verkraftet viel Wind“, versichert Sportwart Ruhl. „Bei meinem ersten Törn hier an Bord kam eine dunkle Gewitterwolke auf uns zu. ‘Wir müssen jetzt mal reffen’, habe ich da gesagt“, erinnert er sich. „Da meinte Claus nur trocken: ‚Auf meiner Yacht würden wir das jetzt tun, aber auf diesem Schiff hier brauchen wir das nicht.‘“
Claus Wilhelm Behnkes Privatyacht vom Typ Hanseat liegt nur wenige Boxen neben der klassischen Yacht „Lone Star“ am Steg in Heiligenhafen. Der 75-Jährige war von 2012 bis 2019 als Sportwart Seesegeln für die Clubyacht zuständig. Der Industriekaufmann lernte Jürgen Ruhl bei einem Firmenevent des gemeinsamen ehemaligen Arbeitgebers Siemens kennen. Auf dem niederländischen Großsegler „Banjaard“ kamen beide über ihr Hobby Segeln ins Gespräch. Ruhl ist auf der Jolle in der Segelgemeinschaft seiner Heimatstadt Erlangen aktiv.
Seit nunmehr 15 Jahren segelt er aber auch häufig gemeinsam mit Behnke auf dessen Hanseat. Die wird immer an den gleichen Tagen wie die „Lone Star“ gekrant. Also hilft Jürgen Ruhl regelmäßig auf beiden Yachten mit. „Deshalb kenne ich den Mast oder auch die Elektrik der ‚Lone Star‘ schon deutlich länger als ihre Segeleigenschaften“, erklärt der 63-jährige Elektroingenieur. Die Segeleigenschaften überzeugen ihn schnell, als er erstmals auf der „Lone Star“ dabei ist. 2019 wird Ruhl Vereinsmitglied im YCN. 2020 übernimmt er das Amt des Sportwarts Seesegeln von Behnke.
Zunächst startet für den „Lone Star“- Skipper aber am nächsten Morgen ein 14-tägiger Ausbildungstörn. In der ersten Woche sammeln die Mitsegler die erforderlichen Seemeilen für die SKS-Praxisprüfung. In der zweiten Woche werden sie auf die Prüfung vorbereitet, die am Ende des Törns stattfindet. Ruhl, der auch die SKS-Theorie unterrichtet, hat große Freude an der Ausbildung.
Vermutlich wird auch die anreisende Crew wieder vom Charme der „Lone Star“ begeistert sein und sich über die Bewunderung der Yacht durch andere Segler in den Häfen freuen. So wie Marcus Wildt, der nach dem nun endenden Skippertraining abreist. Er stammt aus Jena, kam auf Empfehlung zum rund 250 Kilometer entfernten Nürnberger Verein und war von der Yacht und der gelebten Seemannschaft an Bord so angetan, dass er zum Wiederholungstäter wurde. Für den SKS-Praxistörn und zwei Skippertrainings war er bereits an Bord, diesmal gemeinsam mit seiner Partnerin Isabela Santos Valentim. Beide mögen das sportliche Segeln auf der ehemaligen Regattayacht. „Das ist ein toller Kontrast zu unserer eigenen Bavaria 37 mit Rollgroß und -genua, die in Barth am Bodden liegt.“
Am ersten Oktoberwochenende wird die Saison der „Lone Star“, die in der Regel Ende April beginnt, mit dem Auskranen zu Ende gehen. „Das ist immer der Abschluss des letzten SKS-Ausbildungstörns“, erklärt der Sportwart Seesegeln Jürgen Ruhl, „als interessante Ergänzung der Ausbildungsinhalte.“
Zu denen immer auch gehört, gute alte Seemannschaft zu lernen und zu leben – auf diesem Klassiker aus einer Zeit, als das vorschnelle Anwerfen des Einbaudiesels noch verpönt war.