Jan Zier
, Hauke Schmidt
· 31.03.2023
2021 verunglückte die Yacht „Silja“ zwischen Baltrum und Langeoog, ein Segler starb. Laut Untersuchungsbericht waren die Ausbildung der Crew und deren Törnplanung unzureichend. Doch auch die Rettungsmittel rückten in den Fokus der Analysten
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Der 26. August 2021 ist ein warmer Sommertag. Die Sonne scheint, und spätnachmittags sind es an der Nordseeküste noch angenehme 20 bis 22 Grad Celsius. Die Sicht ist gut. Drei junge Segler, alle Anfang 20, sind auf der „Silja“ von Juist unterwegs nach Langeoog. Eine ganze Woche lang segelt das Trio gemeinsam entlang der Küste Ostfrieslands. Die Windfinder-App hatte für den Tag nördliche Winde mit 6, in Böen 7 Beaufort vorhergesagt, der sieben Meter lange GFK-Kielschwerter gleitet mit gut sechs Knoten Fahrt durchs Wasser. Man segelt im ersten Reff, das Vorsegel ist nicht ganz ausgerollt. „Wir hatten Spaß“, erinnert sich die Seglerin. Und der Skipper sagt später, dass er sich „durchaus sicher“ gefühlt habe. Er sei ja nicht zum ersten Mal hier im Wattenmeer unterwegs gewesen. Und den Sportbootführerschein (SBF) See hatte er doch auch.
Dennoch wird einer der drei diesen Törn nicht überleben. Sein Leichnam ist bis heute nicht gefunden. Es ist kurz vor 18 Uhr, als die Yacht bei Niedrigwasser an der Barre südlich der Ansteuerung zum Seegatt Accumer Ee kentert. Alle drei gehen über Bord. Eine halbe Stunde danach ist die „Silja“ gesunken. Erst danach kann der Skipper mit seinem wasserdichten Smartphone einen Notruf absetzen, mit der allerletzten Reserve des Telefonakkus. Ein Funkgerät war nicht an Bord, Seenotsignalmittel auch nicht, ebenso wenig Lifelines.
Ein aufwändiger Rettungseinsatz startet, vier Schiffe der DGzRS und mehrere Hubschrauber sind daran beteiligt. Dennoch werden zwei der drei Crewmitglieder erst vier Stunden später, kurz nach Sonnenuntergang, von einem Hubschrauber entdeckt und geborgen. Für den dritten Segler kommt jede Hilfe zu spät: Beim Versuch, ihn in ein Boot zu ziehen, sinkt er, so berichten es die Seenotretter, vor ihren Augen „wie ein Stein“ auf den Meeresgrund. Wahrscheinlich war er da schon ertrunken – und das trotz seiner Rettungsweste.
Die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU) hat die Tragödie intensiv untersucht und jetzt einen fast 140 Seiten starken Bericht veröffentlicht. Dabei werden Seeunfälle mit privaten Sportbooten normalerweise gar nicht von der BSU bearbeitet – auch dann nicht, wenn dabei Menschen sterben. Es sei denn, die Erkenntnisse, die sich daraus ergeben, können voraussichtlich etwas zur allgemeinen Sicherheit der Schifffahrt beitragen.
„Das Boot kenterte aufgrund kurzer steiler Wellen“, heißt es in dem Bericht. An der Barre hatten sich durch den ablaufenden Gezeitenstrom und den starken, in Böen stürmischen und vor allem auflandigen Wind gegenläufige Windseen von bis zweieinhalb Meter Höhe gebildet. Sehr wahrscheinlich gab es auch Grundseen, also Wasserwellen, die bei starkem Seegang in seichten Küstengewässern entstehen. Sie bilden sich vor allem, wenn, so wie hier, der Wind gegen den Strom steht. Die Gefahr zu kentern ist dann besonders groß. „Was machen wir, wenn das Boot kentert?“, hatte die Mitseglerin vorher noch gefragt. „Das kentert nicht“, hatte der Skipper ihr geantwortet, erinnert sie sich.
„Die Wellen waren schneller als das Boot“, heißt es weiter in dem Untersuchungsbericht der BSU. Die Yacht surfte eine kurze Weile auf den Wellen, doch im Wellental blieb „Silja“ fast stehen. „Das Boot war in diesem Moment kaum zu steuern.“ In der vierten Welle luvte das Schiff nach Backbord an und geriet außer Kontrolle. Es kentert mit der brechenden Welle, der Mast bricht, und das Boot läuft voll Wasser. Einige Wrackteile des Schiffes landen später in den Netzen eines Fischers und auch an der Insel Baltrum an.
Um 17.49 Uhr war das Boot laut BSU gekentert, um 18.27 Uhr erreicht ein „nicht verständlicher“ Notruf die Kooperative Regionalleitstelle Ostfriesland, um 18.54 Uhr läuft in Baltrum das erste Seenotrettungsboot aus, weil „möglicherweise ‚Accumer Ee‘ aus dem Notruf herauszuhören war“.
Doch die Verunglückten sind bei dem stürmischen Wetter am Abend nur sehr schwer zu finden: „Wir bekommen so viel Wasser auf die Fenster, dass wir Beobachtungsstopps einlegen müssen“, ist später im Einsatzbericht der „Secretarius“ nachzulesen. „Wir arbeiten uns so im Zickzackkurs die Accumer Ee bis zur Tonne A2 vor. Können nur mutmaßen, wo es sinnvoll ist zu suchen, weil der Havarieort nicht bekannt ist. Die Dämmerung beginnt, und bei der Wellenhöhe wird es immer schwieriger, etwas zu sehen.“
Nach Auffassung der BSU hatten am Ende weder die Fahrmanöver noch die Bootsgröße einen maßgeblichen Einfluss auf das Unglück. Wohl aber schlechte Planung, mangelnde Erfahrung und fehlende Ausrüstung.
Schon von der Kenterung seines Bootes war der Skipper „überrascht“, von den Gefahren der Seegatten hatte er keine Ahnung. Und sich deswegen auch nicht darauf vorbereitet. Im Nachhinein, sagt er später, war er „erstaunt“, dass Grundseen und Seegatten nicht Ausbildungsthemen waren, als er 2017 seinen SFB See machte. Im Jahr darauf segelte er erstmals mit der „Silja“ von Emden nach Langeoog, arbeitete auf der Insel sogar als Segellehrer und wohnte derweil auf dem Schiff.
Auch das Accumer Ee hatte er 2018 schon befahren. Seehandbücher und Revierführer hatte er bei seiner Planung am Unglückstag trotzdem ignoriert. Ja, er hatte nicht einmal seinen rechtweisenden Kartenkurs in einen Magnetkompasskurs umgerechnet – die NV Charts App war ja auf dem Handy und eine Seekarte aus Papier an Bord. In seiner Planung spielten nur zwei Fragen eine Rolle: Komme ich bei Tageslicht an? Habe ich immer ausreichend Wasser unter dem Kielschwert?
Was die Windgeschwindigkeit anging, so hatte er sich 30 Knoten – also 7 Beaufort – als Grenze gesetzt. Eine fatale Selbstüberschätzung im Seegatt. Dass er im Accumer Ee gegen den Strom segeln musste, wusste er zwar, doch glaubte er, das mit dem nördlichen Wind kompensieren zu können. Noch ein vermeidbarer Fehler, der sich tragisch rächen sollte. Und er war der Einzige an Bord, der wirklich segeln konnte: ein weiteres Problem.
„Bereits die Kriterien ‚Wind gegen Strom‘ und ‚mehr als zwei Stunden nach Hochwasser‘ hätten bei entsprechender Kenntnis dazu führen müssen, diese Planung als nicht geeignet zu verwerfen“, bilanziert die BSU. Die Planung des Skippers ging hingegen davon aus, das Accumer Ee nur eine Stunde vor Niedrigwasser zu durchfahren. Die BSU empfiehlt nun, die Prüfungsanforderungen für den SBF See zu ändern, um die Segler besser auf solche Situationen vorzubereiten.
Hätten der Skipper und seine Mitseglerin keine Rettungsweste getragen, wären sie wohl ebenfalls ertrunken, so die BSU. So aber hatten sie Glück. Viel Glück sogar. Denn die Westen, die sie trugen, erwiesen sich als nicht verlässlich.
Vor allem aber: Hätten sie wenigstens Pyrotechnik an Bord gehabt, eine Notfunkbake oder gar ein UKW-Funkgerät, dann wären sie von den Rettern vermutlich wesentlich früher gefunden worden. Was den verstorbenen Mitsegler angeht, so war der laut eines rechtsmedizinischen Gutachtens „mit höchster Wahrscheinlichkeit“ durch Unterkühlung so geschwächt, dass er ertrank. Er war schon vor der Kenterung infolge überkommenden Wassers nass geworden, fror mangels geeigneter wind- und wasserdichter Segelbekleidung „und hatte dadurch möglicherweise geringere Überlebenschancen“.
Die „Silja“-Crew trug Westen, doch im Seegang hielten diese den Belastungen nicht stand
Neben den seemännischen Versäumnissen der Crew geht der Bericht der Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung auch auf die Funktion der Rettungswesten ein. Denn die drei vom Skipper und den Crewmitgliedern getragenen Westen wurden im Zuge der Kenterung und Rettung so stark beschädigt, dass sie ihre Funktion nicht mehr erfüllen konnten. Ob dies ursächlich für den Tod eines der Segler war, konnte auch die Untersuchung nicht abschließend klären, lebensverlängernd war die beschädigte Weste sicherlich nicht.
Bei der Kenterung gingen alle drei Segler über Bord, und ihre Automatikwesten lösten aus. Während die männlichen Segler schnell das Heck der kieloben treibenden „Silja“ erreichen und sich dort festklammern konnten, kämpfte die Seglerin mit dem Seegang und über Bord gewaschenen Leinen. Laut ihrer Aussage drückte der Auftriebskörper ihrer Weste bereits zu diesem Zeitpunkt gegen ihren Kopf, kurz darauf schwamm die Blase daneben. Trotzdem gelang es ihr dann, das havarierte Boot zu erreichen, und sie konnte sich ebenfalls im Heckbereich festhalten. Im weiteren Verlauf der Havarie wurden die drei mehrfach von großen Seen überspült, welche die „Silja“ sogar wieder aufrichteten, bevor die Yacht endgültig sank. Wie der Skipper zu Protokoll gab, befanden sich die Auftriebskörper aller drei Westen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der korrekten Position vor der Brust, sondern hingen neben den Köpfen der im Wasser treibenden Crew.
Die Seglerin legte schließlich beide Arme über die lose an der Weste hängende Blase und klammerte sich daran fest, was ihr vermutlich das Leben rettete. Das zweite Besatzungsmitglied hatte weniger Glück, der Mann hatte bereits das Bewusstsein verloren und konnte später nicht geborgen werden.
Eineinhalb Stunden kämpften die Segler mit den Elementen und den Westen, bevor die ersten Retter eintrafen, die sie aber aufgrund der vagen Positionsangaben und der Wetterbedingungen nicht bemerkten, sodass bis zur tatsächlichen Rettung weitere Zeit verstrich. Fast drei Stunden vergingen zwischen dem verstümmelten Handy-Notruf und der Ortung der ersten Person durch die Besatzung des Seenotrettungskreuzers „Eugen“.
Die Seenotretter protokollierten, dass sich der Auftriebskörper der Rettungsweste bei der als leblos beschriebenen Person bereits über dem Kopf befand und im Verlauf des Bergeversuchs komplett von der Weste riss. Der Körper des Seglers versank daraufhin im Meer, lediglich der abgerissene Auftriebskörper konnte geborgen werden. Laut BSU-Bericht haben die Segler Automatikwesten vom Typ Secumar Ultra getragen, die Schrittgurte waren angelegt. Die Westen entsprechen der 150-Newton-Klasse und haben allem Anschein nach korrekt ausgelöst. Im Unglücksverlauf riss die untere Befestigung des Auftriebskörpers bei allen drei Westen ab. Bei der Weste des Schiffsführers war nach der Rettung zumindest noch eine der beiden Verbindungen intakt.
Derart beschädigt, klappt der Auftriebskörper im Wasser nach oben und kann seine Funktion nicht mehr erfüllen. Die Westen beziehungsweise der geborgene Auftriebskörper wurden von der Wasserschutzpolizei sichergestellt und im Zuge der BSU-Untersuchung bei Secumar geprüft. Das Problem dabei: Obwohl alle drei Rettungswesten in gleicher Weise betroffen waren, ließ sich das Schadensbild beim Hersteller kaum reproduzieren.
Laut Untersuchungsbericht riss die Verbindung nur ab, wenn so an der Weste gezogen wurde, als ob der Auftriebskörper im Nackenbereich gefasst und eine Person daran aus dem Wasser gezogen wird. Ein Szenario, das, wie die BSU selbst anmerkt, kaum zu den von den Verunglückten und Rettern geschilderten Vorkommnissen passt. Alle anderen Versuche führten zu abweichenden Schadensbildern. Die Frage, weshalb die Westen genau versagt haben, bleibt von der BSU-Untersuchung unbeantwortet.
In einer schriftlichen Stellungnahme vermutet Secumar-Geschäftsführer Benjamin Bernhardt, dass die Schäden entstanden sind, als sich die drei Segler am Heck der „Silja“ festklammerten und von den bis zu drei Meter hohen Wellen mehrfach unter den Rumpf gedrückt wurden, wobei sich die Auftriebskörper möglicherweise am Heck verhakten. Dazu passt die Schilderung des Skippers: „Es fühlte sich an, als ob mein ganzes Körpergewicht an der Hand hing.“ Eine Belastung der Weste von 0,82 Kilonewton ist dabei wie beim Abriss im Labortest durchaus realistisch.
Zu möglichen Veränderungen an der Konstruktion der Westen schreibt Bernhardt: „Wir haben inzwischen über 40 Zugversuche mit verschiedenen Kombinationen aus Material, Gurtführung, Kauschen, Befestigungen und Verstärkungen durchgeführt. Fakt ist, dass die Verbindungen mit Kauschen bereits heute mehr aushalten als teils das textile Gewebe in der Fläche. Wenn zum Beispiel die Zugrichtung nur leicht verändert wird, können die Haltebänder an der Verbindung zur Schutzhülle abreißen.“ Dies könne auch passieren, wenn eine Schlaufe um den Schwimmkörper herumgeführt werde, und das schon bei deutlich geringerer Kraft als nötig sei, um eine Kausch aus dem Material zu reißen. Bernhardt weiter: „Wir haben auch alternative Formen der Schwimmkörperbefestigung überprüft. Hierbei wurde teilweise sogar der Auftrieb beschädigt und undicht.“
Tatsächlich ist die Konstruktion der Westen seit vielen Jahren erprobt, sie entspricht den gültigen Normen. Mehr noch, sie kommt auch bei Solas-konformen Modellen zum Einsatz. Diese Berufsschifffahrts-Westen müssen im Zulassungsprozess einen Fußsprung aus drei Meter Höhe bestehen, und zwar mit aufgeblasenem Auftrieb. Bei diesem Schocktest wird die Konstruktion derart belastet, dass mitunter die Blase undicht wird. Nach Aussage von Bernhardt sind dabei aber noch nie die Haltegurte gebrochen oder aus dem Auftriebskörper gerissen.
So bleibt festzuhalten: Ohne die Rettungswesten hätte höchstwahrscheinlich keiner der drei Segler überlebt. Eine hundertprozentige Sicherheit können jedoch selbst hochwertige Westen nicht bieten. Zumal sich kaum alle im Seenotfall möglichen Belastungsszenarien vorhersehen lassen. Zusatzausstattungen wie Signalleuchten erhöhen aber die Chancen auf die Ortung und eine erfolgreiche Rettung.
Die Seegatten zwischen den Ostfriesischen Inseln, die in der Karte gut zu erkennen sind, können sich als äußerst tückisch erweisen. Jedes hat zudem seine Besonderheiten. Derzeit ist es für Wassersportler laut der BSU allerdings „nur mit erheblichem Aufwand möglich, verlässliche Informationen für die Befahrung von Seegatten zu finden“. Daher empfiehlt die Behörde das Folgende: