Wilfried Erdmann
· 12.05.2023
Sie ist die erste Deutsche, die einhand den Atlantik bezwang – und das in beide Richtungen und noch dazu auf drei Rümpfen. Ingeborg von Heister stellte mit ihrer Atlantikrunde im Jahr 1969 die festgefügte Welt des segelnden Establishments gründlich auf den Kopf. In seinem letzten Buch „Ingeborg und das Meer“ zeichnet ihr Schwiegersohn Wilfried Erdmann das Bord- und Seelenleben der leidenschaftlichen Seglerin während der Reise nach. Es entstanden tiefe Einblicke in Log- und Tagebücher und eine sehr persönliche Verneigung des großen deutschen Hochseeseglers. Die Auszüge aus dem 3. Kapitel beschreiben von Heisters Aufbruch – den Start zur ersten Atlantiküberquerung
Zum Auftakt weht der Wind schwach aus Nord bis Nordost. Genau das richtige Wetter für meine Abfahrt. So habe ich noch Zeit, mich zu sammeln und Dinge, die in der Kajüte rumliegen, zu sortieren. Alle Bedenken sind weit weg, einfach abgefallen. Ich ziehe mir eine frische Bluse über und schenke mir ein Glas roten Wein der Kanaren ein. Dabei erlebe ich ein Gefühl des Stolzes. Nun sind wir wirklich für die nächsten Wochen alleine auf dem Meer. „Ultima Ratio“ kommt mir vor wie ein lebendiges Wesen, und ich verspreche ihr, sie nicht zu ärgern. Ein Zitat von Joseph Conrad geht mir nicht aus dem Kopf:
Ein Schiff ist kein Sklave. Nie darfst du vergessen, dass du ihm den vollsten Anteil deiner Gedanken, deines Könnens und deiner Selbstliebe schuldig bist.“
Sonne, Wind, die Helligkeit tagsüber und das ständige Am-Ruder-Sein schwächen Ingeborg jedoch bald. Schon bei Sonnenuntergang ist sie todmüde. Der Abbau ihrer Kraft geht viel zu schnell. Sie will und muss unbedingt ein gewisses Gleichmaß in ihr Leben bringen. Zwar will sie eine schnelle Überfahrt machen – Trimaran eben –, aber nicht auf Kosten der Sicherheit. Dazu braucht sie ihre volle Leistungsfähigkeit. Zu Beginn nimmt sie sich fest vor, sehr auf ihre Gesundheit zu achten, vor allem regelmäßig zu essen, auch täglich zu kochen, wenn es möglich ist. Also für längere Zeit eine gewisse Ausgewogenheit in ihr Leben zu bringen. Sie macht sich wegen eventuellen Schlafmangels noch keine großen Sorgen. Doch genau das passiert, denn in der Nähe der Kanaren werden die Nächte unruhig bleiben, da Ingeborg auf den Frachterverkehr achten muss. Dort verlaufen alle Schifffahrtswege von Nord nach Süd und umgekehrt.
Morgens bin ich recht kaputt nach Nächten im Sitzen und Stehen. Noch bin ich das Die-ganze-Nacht-an-Deck-Sein nicht gewohnt. Außerdem döse ich wiederholt im Cockpit auf der schmalen Sitzbank oder auf dem nackten Boden in der Kajüte, eben um immer schnell bereit zu sein. Bereit, die Segel zu trimmen, den Kurs zu ändern oder an den Schoten zu reißen. Tief darf der Schlaf nicht sein. Trotz meiner wundervollen Laterne im Rigg bin ich bei dem Schiffsverkehr sehr unruhig. 40 Jahre Landleben kann man nicht einfach so ablegen.
Ingeborg schreibt nicht, dass sie der Verkehr auch ängstigt. Im Morgengrauen setzt sie üblicherweise wieder alle Segel. Fock zuerst, Groß steht noch, Besan ist mit drei Griffen in der Höhe. Wieder am Ruder, bedient sie von dort die Schoten, sie holt sie mit der Winde dicht, denn der Wind steht halb. Alles ohne Frühstück, die Zeit dafür wird sich schon wenige Stunden später ergeben. Wenn Flaute herrscht, hat sie Zeit dafür und für ihren Körper. Sie fängt sogar an, an Deck mit einem Schrubber den letzten Las-Palmas-Dreck wegzuwaschen.
Am östlichen Horizont sehe ich kurz ein Segel, es könnten die beiden Berliner Ärzte mit der „Lotus“ sein. Sie segelten kurz nach mir in Las Palmas ab. Und halten erstaunlich weit nach Osten. Ich schätze, sie werden nicht schneller drüben sein, ihr Boot ist kaum größer als „Kathena“. Ich halte mich dagegen dicht an der Küste Gran Canarias und drehe am Südende Richtung Westen ab.
Ich muss mir das Vergleichen von Bootsgröße und Schnelligkeit abgewöhnen. Ich bin auf See und zufrieden. Das sollte meine Einstellung sein – und bleiben. Ich will eine schnelle Überfahrt, und deshalb griff ich beim Trimaran sofort zu. Die Bootsmesse in London kommt mir in den Sinn, eine Stunde Besichtigung, ein Guinness, und schon war die Bestellung unterschrieben. Blödsinn. Aber als Kauffrau machte man das so mit einem schnellen Ja oder Nein.
Im Osten und Süden brauen sich dicke Wolkenwände zusammen. Dazwischen ist der Himmel von unwahrscheinlicher Bläue. Ich bin nervös und hoffe, dass uns nicht allzu schlechtes Wetter erwischt. Vor dem ersten Starkwind hat man immer ein dumpfes Gefühl. Man muss sich erst wieder einleben.
Ich bekomme heute nicht einmal eine Mittagsbreite zustande, so zapplig bin ich plötzlich. Entweder ist der Sextant kaputt oder ich zu dämlich. Ich muss mich entschieden zusammenreißen. Was ist denn nur los? So schlimm ist es doch nicht, nur weil sich am Himmel alles pechschwarz ballt und dazu die Dunkelheit aufzieht. – Heute bin ich praktisch keine Meile weitergekommen.
Ruhe vor dem Sturm. Sie hat Zeit: Segel festlaschen, Bändsel verteilen, vieles sicher verstauen. Kochen und essen. Letzteres sogar entspannt am Ruder. Später, als alles völlig finster ist, hängt sie noch eine zweite Laterne ans Heck. So oder so ist die Beleuchtung nicht vorschriftsmäßig, aber jedenfalls bedeutend sichtbarer als die unzweckmäßigen Positionslaternen, die meistens an Yachten viel zu tief am Bugkorb montiert sind, so auch an „Ultima“ und „Kathena“.
Setze bei schralendem Wind Vollzeug. Mittags zieht eine schwere Regenbö durch, anschließend Dauerregen. Also raus an Deck. Mutig sein, sage ich und stülpe mir einen Südwester über. Gerade auf den Anfang kommt es an. Wegkommen ist das Wichtigste.
Wegkommen vom Land. Noch sehe ich in Nord den Pico del Teide auf Teneriffa. Er hat eine Höhe von 3.300 Meter und ist, schätze ich, 40 Meilen entfernt. Man glaubt es nicht. Ich bringe „Ultima“ am Tag darauf zum Selbststeuern und laufe dabei 220 Grad Kompasskurs. Der Wind wechselt zwischen ein und drei Beaufort. Abends hänge ich wieder beide Lampen raus, verteile sie diesmal so, dass sie von allen Seiten sichtbar sind.
Ein Kreuz mit dem Wetter. Es ist scheußlich. Morgens, mittags, abends. Ich schieße die Sonne bei kurzem Aufklaren morgens und mittags. So habe ich die Werte für zwei Höhenstandlinien. Das Ergebnis ist zufriedenstellend. Das freut mich besonders.
Man wird die Zeiten und Meilen vergleichen. Heute. Morgen. Nächstes Jahr.
Kurs 180 Grad. Das ist Süd und hart am Wind. Wo komme ich damit wohl hin? Es regnet in Strömen. Zwischendurch kein Wind. Die Segel klatschen hin und her. Ich muss sie bergen. Das Schiff schaukelt, was selten passiert.
Irgendwann ist Schluss mit Regen, und der Wind dreht. Ich pendele zügig zwischen Vorschiff und Cockpit. Reiße an den Fallen, zerre an den Schoten. Der Kurs zum ersten Mal fast West. Das macht mich glücklich. Es gibt keine Sorgen, kein nichts. Alles schwebt, nur wegen einer Viertelstunde Wind. Wir segeln auf Kurs und machen keine Kompromisse. Alles ist plötzlich schön. Das Meer glänzt in der Sonne.
Im Laufe des Tages wechsele ich noch mehrfach die Tücher. Böen halten mich in Bewegung. Nur: Das Problem beim Alleinsegeln ist, dass man selbst sein Gegner ist. Trotzdem liebe ich es. Macht das einsam? Nein. Gott ist bei mir. Das reicht.
Im Salon baut Ingeborg auf der Backbordkoje mithilfe einer Platte einen großen Kartentisch, groß genug, um die englischen Admiralitätskarten komplett aufzufalten. Dort liegt nun alles griffbereit: Zirkel, Bleistifte, Radiergummi, Logbuch, nautische Tafeln. Den Sextanten befestigt sie sicherheitshalber dennoch mit einem dünnen Tau. Alles bleibt liegen, denn Lage schiebt der Tri kaum. Sie fühlt sich wie auf der Brücke eines Dampfers. Für die Navigation kann ein Tisch nicht groß genug sein, meint sie. Natürlich ist sie die Nacht über alle zehn Minuten an Deck. Bald hat sie die Sache raus. Ein Rundumblick und ein zweiter hinters Segel. Und schon liegt sie wieder. „Ultima“ läuft derweil ruhig ihren Kurs, sogar nur unter Genua. Tagsüber herrscht wenig Wind mit einer Wolkendecke, aber nicht einheitlich grau, sondern stark strukturiert. Die See spiegelt, trotz kleiner Wellen, die Düsterkeit des Himmels wider. Eine große Einsamkeit liegt über allem. So reiht sich Tag auf Tag.
2 Uhr nachts. Wind drei bis vier Beaufort aus Südwest. Totale Finsternis ringsum. Ich setze die Fock. Sie steuert das Schiff allein. Ich bändsele die Genua an der Reling fest, zu meinem Unglück nicht gut genug, aber das sehe ich erst beim Hellwerden. Mist, verdammt. Ich fluche laut, denn die Genua hat sich durch die überkommenden Seen losgearbeitet und ist über Bord gerutscht, die Schot nachziehend, die sich dann im Propeller der Maschine verfangen hat. Herrjeh! Einen Moment steht mir das Herz still. Es ist unmöglich, die gute Schot zu zerschneiden, damit wäre sie immer noch im Propeller. Also, das geht gar nicht.
Die See ist weiter unruhig. Es hat jetzt keinen Sinn, sich selbst Vorwürfe zu machen, dazu ist später Zeit. Der Wind könnte aufbrisen und die ganze Aktion noch schwieriger machen. Aber auf keinen Fall kann ich ins Wasser springen und abtauchen, um die Schot zu lösen. Jetzt, wo die Segel an Deck liegen, schlingert „Ultima“ stark.
Der Wind hat zugelegt auf vier bis fünf. Aber wo kommt nur diese See her? Die ganze Situation ist reichlich verfahren, und letztlich bleibt nur, das Dingi zu Wasser zu lassen. Ich löse die Haltetaue, die es backbord über dem Netz festhalten. Es wiegt 40 Kilogramm. Im Wasser wird es gleich dreifach gesichert. Es ist notwendig, es von achtern zwischen die Rümpfe zu bringen, und so arbeite ich kopfüber unter Wasser mehr als eine halbe Stunde mit Pausen zum Luftholen. Die Schot hat sich zirka zehn Mal um den Propeller vertörnt. Ich versuche es immer wieder, beiße auf die Zähne, denn um den Propeller herum sitzt der Rumpf schon voller Seepocken, die mir Hände und Arme aufritzen.
Endlich ist auch die letzte Schlinge gelöst und ich wie der Blitz an Bord, damit ich die Genua komplett aus dem Wasser fischen kann. Natürlich bin ich klatschnass und total erschöpft. Meine Arme sehen übel aus. Dabei hat man mich gewarnt vor Wunden, die auf See schlecht heilen. Vor Erschöpfung kullern mir ein paar Tränen übers Gesicht. Niemand da, der mich tröstet und meine Befriedigung versteht.
Eigentlich hätte ich den Genuss einer Flasche Bier nicht verdient, weil mir allein diese Nachlässigkeit und die damit verbundene gefährliche, anstrengende Arbeit zuzuschreiben ist.
Zusätzlich stellt Ingeborg fest, dass sich am Großsegel einige Rutscher gelöst haben. Garn und Nadel sind schnell bereit, doch dafür muss das Groß fallen und anschließend wieder gesetzt werden. Sie hält sich länger an Deck auf und ist nicht überrascht, zwei Frachter mit Nord-Süd-Kurs zu sehen. Um diese Zeit kämpft sie tagelang mit schlechtem Wetter und angsterregenden, dicken Wolkenballen, abgelöst von tropischen Regengüssen und Windstillen.
Ich setze mich mit einer Flasche aufs Vorschiff und rufe mich für die Zukunft energisch zu größerer Aufmerksamkeit auf. Dreifache und nicht nur doppelte Kontrolle muss meine Devise sein, wenn ich etwas Seemännisches tue. Bin total deprimiert. Wenn ich ertrinke, will ich wenigstens anständig aussehen. Habe meine Haare gefärbt und Creme im Gesicht aufgelegt. Hat schon immer als Stimmungsaufheller funktioniert.
Glücklicherweise reißt in dieser Stimmung irgendwann die Wolkendecke leicht auf, sodass es reicht, die Sonne zu schießen. Nun weiß die Tapfere wenigstens, wo sie sich befindet. Sie notiert:
Das Ergebnis der ersten Woche auf See ist nahezu katastrophal, nur 350 Seemeilen in die richtige Richtung. Der Wind spielt einfach nicht mit. Er weht immer noch aus Südwest, mal zu schwach, mal zu stark.
Ich will nicht nach Südamerika – ich will in die Karibik.
Die Solo-Skipperin, die neue Zweifel befallen, revoltiert und notiert ergänzend:
Ich muss im Logbuch neben den seemännischen Fakten mehr Empfindungen notieren. Habe gleich eine: Frauen sind schwache Geschöpfe und im Vergleich zu Männern zu sehr ein Opfer ihrer wechselnden, schwankenden Empfindungen, die von äußeren Einflüssen geprägt werden. Und hier liegt das Problem bei derartigen Unternehmen. Körperlich ist eine Anstrengung durchzustehen, psychisch hapert es – jedenfalls bei mir.
Nach einer Woche beginnt die Atlantikseglerin sich langsam besser einzurichten. Faules Obst kommt über Bord. Und es kommt der große Kochtopf auf die Flamme für eine Spaghetti Bolognese. Das will sie sich nun öfter gönnen. Auch entdeckt sie, dass Lesen eines Krimis der Nervenberuhigung hilft. Sie hält sich strikt an die Anweisung ihrer Tochter: „Wenn nichts geht, einfach regelmäßig lesen. Du hast doch genug Bücher eingepackt.“
Es weht aus Nordost! Dazu mit herrlichen drei bis vier Beaufort. Bin wie elektrisiert. Der Kurs 230 Grad. Endlich goldrichtig. Jetzt noch Selbststeuerung. Ich experimentiere mit zwei ausgebaumten Vorsegeln, deren Schoten zum Ruder gehen. Erst als ich die Schoten über Kreuz belege, funktioniert es. Hurra, die beiden gelben Vorsegel, extra von Beilken für mich genäht, arbeiten. Kann daneben sitzen und Däumchen drehen. Ein Trimaran auf Autopilot 1969, kaum zu glauben. Ich brause mit acht und neun Knoten in die Dunkelheit. Keine Verkehrsampeln, keine Polizei, keine hupenden Autos. Weit und bereit nur Wasser. Ich bin frei! Stolz darauf, den Mut aufgebracht zu haben, abzulegen.
Bald sollte das Kreuz des Südens zu sehen sein. Ich kann vor Begeisterung nicht schlafen, sitze draußen im Cockpit, bin fasziniert und beobachte die Welt um mich herum.
Kein Einsamkeitsgefühl mehr. Im Gegenteil, alles ist wundervoll. Zuversicht kehrt an Bord zurück, ja regelrecht Euphorie. Es kommt noch besser. Im Passat segele ich mich geradezu in einen Rausch – begeistert über die Geschwindigkeit des Tri, und das, ohne Tuch wegnehmen zu müssen.
Das kann nicht stimmen. Habe ich die Sonnenbeobachtung verpatzt? Ich mache eine weitere. Rechne, kontrolliere. Kein Zweifel. Von gestern bis heute habe ich ein 220er-Etmal hingelegt. Kinder, ich hole auf. Wenn das so weitergeht, bin ich in zehn Tagen da. Es ist allerdings nicht wichtig, wann ich ankomme, sondern lediglich, dass ich ankomme. Ob Astrid und Wilfried mich schon eingeholt haben? Ihr Boot, Stahl und 8,90 Meter, ist auch nicht besonders schnell. Mit Gischt und Schaum nehme ich die Verfolgung auf!
„Ultima“ rauscht zeitweise mit beängstigender Geschwindigkeit über die drei und vier Meter hohen Wellen. Angehoben, getragen, weitergeschoben, kommt sie oft ins Gleiten. Das ganze Schiff vibriert wie unter einer starken Maschine. Sie hofft, dass das nicht ins Auge geht. Die zwei Vorsegel, die sie Twins nennt, sind gleich groß, haben zusammen 26 Quadratmeter und lassen sich nicht reffen.
Die See ist äußerst rau und wirft den Tri hin und her. Aber er fängt sich immer wieder und läuft seinen Kurs. Später dreht der Wind ein wenig auf Ost, bleibt jedoch bei Stärke sieben bis acht. Es ist für Ingeborg das erste rauschhafte Erlebnis im Passat. Auch wenn das Surfen höllisch gefährlich sein kann: Wer es einmal erlebt hat, will es immer wieder.
Ingeborg zuckt nicht mehr zusammen, wenn irgendwo an Bord etwas knackt. Ihr Leben reduziert sich auf zwei gelbe Vorsegel, die Steuerbord und Backbord an zwei Vorstagen gesetzt und mit stabilen Bäumen aus Holz ausgebaumt sind.
Irgendwie ist es mir doch unheimlich. Ich mache eine nahezu spektakuläre Fahrt. Das ganze Schiff zittert und brummt von Zeit zu Zeit. Hoffentlich geht das nicht ins Auge, wenn es plötzlich aus dem Ruder läuft.
Es geht in eine sehr unruhige Nacht. Ich bin im Cockpit, mache mir ein Glas Zitronensaft mit einem rohen Ei. Müde? Nein, müde bin ich nicht – nur aufgeregt. Kabbelig wie das Meer. Aber „Ultima“ hält Kurs.
Diese Nacht werde ich nicht vergessen. Alles in mir ist aktiviert. So weit das Auge reicht, weiße Wellenkämme. Ich fürchte mich. Der Speed im Boot, die hohen Seen, die sich im Kielwasser brechen, und diese entsetzliche Dunkelheit.
Ich bin ein Mensch für Licht. Jetzt in den Tropen 12 Stunden Dunkelheit am Stück. Ich sehne das erste Morgenlicht herbei. Ich werde den Göttern danken, wenn alles an Bord heil bleibt.
Es bleibt. Und wieder geht ein Tag vorüber. Sie notiert im Logbuch am 1. Dezember:
Einfach sensationell, mein Navigationsergebnis. Ein Etmal von 270 Seemeilen. Somit ein Schnitt von 10,9 Knoten. Das reicht fast an „Pen Duick“ heran, den Tri von Éric Tabarly. Und das mit meinen braven Sperrholzrümpfen und ausgewehten Segeln.
Die Fliegenden Fische, die ich morgens an Deck aufsammle, kommen in die Pfanne. Die Bratlinge bringen Abwechslung in mein Einerlei. Dazu ein Bier. Ich spüre, wie meine Lebensgeister zurückkehren. Etwas muss der Mensch sich gönnen.
Wirklich 270 Meilen! Segeln gibt mir das Gefühl, zu leben.
Meine Schwiegermutter greift sich die Fotokamera und macht sicherlich wundervolle Aufnahmen von diesem Tag. Mal vom Bug, mal von achtern, mal krabbelt sie irgendwo ein Stück hoch. Dann wieder auf dem Bauch liegend, die Kamera weit außenbords haltend. Dann die Segel und den Himmel. Die Seen achteraus, der Schaum fliegt. Doch – sie bekommt nichts davon auf den Film. Sie hat keinen eingelegt. Sie flucht schlimmer als jemals zuvor. Da hilft nur essen. Sie holt die zweite Hälfte vom vorgebratenen Steak aus dem Kühlschrank, dazu gibt es gedünstete Artischocken aus der Dose. Nach so vielen Tagen noch Fleisch im Kühlschrank? Ja, er funktioniert und kühlt sehr gut. Vor dem Essen ein Glas Sherry und danach einen Pudding. Auf See nur von Konserven zu leben war nicht ihr Ding.
Der Gedanke kommt mir gar nicht, dass es nicht so weitergeht mit dem Wind. Endlich habe ich den mir zustehenden Passat. Das Wasser. Die Luft. Mein Boot. Am Morgen habe ich noch große Wäsche gemacht, und nun flattert alles im Wind – im Passat!
Ich will nicht leichtsinnig sein, so habe ich für das erste und zweite Ausspülen Seewasser genommen und zum Schluss nur drei Liter Süßwasser. Selbstredend spüle ich Geschirr mit Salzwasser – wie auch das Wasser für meine Körperwäsche aus dieser Unendlichkeit kommt. Leider klebt alles ein wenig.
Langsam beginnt eine leichte Aversion gegen das ständige Seewasser, dazu ist meine Haut verbrannt und empfindlich. Wie hat Wilfried das bloß gemacht? 130 Seetage und nur 60 Liter im Tank. Das muss er mir erklären.
Fünf Tage später folgt Ernüchterung. Ingeborg schießt viermal die Sonne und rechnet sich schier zu Tode. Die Ergebnisse sind kurios. Erst nach langen Bemühungen findet sie die Fehler. Sie haben ihre Ursache in der komplizierten Rechnerei der Semiversus-Formel, nach der sie navigiert, aber auch in ihrer Erschöpfung. Sie schafft es nur wenige Male, „Ultima“ zum Selbststeuern zu bringen. In den langen Sitzungen am Ruderrad greift sie zu Büchern. Lesen kann sie beim Kurshalten.
Stolz wandere ich an Deck herum, ich werde nicht in zehn Tagen, nein, in sieben bis acht Tagen werde ich ankommen. Alle anderen werde ich weit hinter mir lassen. Mein Herz hüpft vor Freude. Ich frühstücke bei Sonne.
Träume sind herrlich, doch was ist los am nächsten Tag? Nur 100 Meilen. Hochmut kommt vor dem Fall. Da habe ich den Salat. Was nutzt mir die beste Windkarte der Welt, auf der für diesen Monat Nordost vorherrscht. Was bietet die Gegenwart mir? Süd mit einem Kurs von 270 bis 300 Grad bei kabbeliger See. Und ziemlich hoch. Ab und an brist es auf mit sechs, sieben und acht, wenn auch nur kurz.
Der Wind muss drehen und stabil werden. Ich muss es einfach erzwingen, oder nicht. Außerdem schüttet es vom Himmel, als wolle die Nässe niemals aufhören. Schwarz ringsum. Die arme „Ultima“ arbeitet schwer in den Seen. Um 17 Uhr ist das Wetter wie in Deutschland, alles grau in grau, kalt und Regen, Regen, Regen. In dieser Finsternis habe ich das Gefühl, dass ich etwas ramme. Gibt es nicht unbeleuchtete Segelboote? Schließlich sind allein von den Kanaren 20 und mehr Boote gestartet. Ich setze vorsichtshalber mein Monstrum von Ankerlaterne, denn von allen anderen Meeresfahrern passt bestimmt nicht jeder auf.
Für den Rest der Reise baue ich mir ein Matratzenlager auf dem Boden. Ich brauche meine 20 bis 25 Minuten Schlaf, und der kommt schneller in einem richtigen „Bett“.
Heute hatte ich nur kurz die Möglichkeit, die Sonne zu schießen. Die Twins stehen bei fallendem Luftdruck und schwachem Wind. Die See dagegen ist unruhig. 14 Tage bin ich nun auf See, davon nur sechs Tage Sonne, ansonsten Starkwind, Wolkenballen und Regen. Mit der Abenddämmerung zieht erneut eine schwarze Wolkenbank auf, mir wird Angst und Bange.
Jahrgang 1940, lernte seine spätere Schwiegermutter Ingeborg von Heister und deren Tochter Astrid im Jahr 1967 in Alicante kennen, kurz bevor er den Ort mit seiner ersten „Kathena“ verließ, eine Reise, von der er 1968 als erster deutscher Einhand-Weltumsegler zurückkehrte. Nach der Hochzeit brach das Paar zeitgleich mit von Heister auf, sie zu der im Buch beschriebenen Atlantikrunde, die Erdmanns zur Hochzeitsreise um die Welt. Wilfried Erdmann hielt die auf den Reisen gesammelten Eindrücke in zahlreichen Büchern fest – denn es folgten viele weitere, teils spektakuläre Fahrten. Die biografische Reisenachzeichnung „Ingeborg und das Meer“ ist sein letztes Buch.