Zum Tode Wilfried Erdmanns„… und sie glaubten kein einziges Wort“ – die erste Weltumsegelung mit der „Kathena“

YACHT-Redaktion

 · 10.05.2023

Wilfried Erdmann, damals 27, trifft nach seiner Weltumsegelung am Abend des 7.5.1968 im Hafen von Helgoland ein
Foto: picture alliance/dpa

1968 beendet Wilfried Erdmann seine erste Weltumsegelung – damals eine derart unvorstellbare Tat, dass man ihn mit tiefstem Misstrauen empfängt. Die Presse schreibt ihn nieder, seine Leistung wird öffentlich kleingeredet. Zum 40. Jahrestag erinnerte die YACHT 2008 an das historische Datum. Anlässlich des Todes von Wilfried Erdmann blicken wir noch einmal zurück

von Uwe Janßen

Ein schwer geschundenes Vehikel läuft im letzten Licht des 7. Mai 1968 in Helgoland ein. Am Ruder des 7,60 Meter kurzen Boots ein junger Kerl, 27 Jahre, ganz allein, mehr tot als lebendig. Über 8.000 Meilen am Stück hat er in strapaziösen 131 Tagen im Kielwasser gelassen. Kein Mensch vor ihm war derart lange allein auf See. Seit mehr als zwei Tagen saß er ununterbrochen an der Pinne, aß Kaffeesatz zum Aufputschen, Hunger und Erschöpfung ließen ihn von Kuchen und Milch halluzinieren. Aber Qualen sind nicht das Schlimmste. Damit kann er leben.

Der Hafenmeister fragt nach dem Woher. Letzter Hafen? „Kapstadt.“ Der perplexe Herr hat gerade seinen Dienst angetreten, er über­lässt der ausgezehrten bärtigen Gestalt mitleidig seine Stulle. So unspektakulär endet, was in Wahrheit eine Sensation ist: Wil­fried Erdmann hat die Welt einhand umsegelt. Kein Deutscher zuvor hat das geschafft, keiner hat es nur gewagt.

Niemand glaubte Wilfried Erdmann

Überhaupt ist das mit Crew bloß vier seiner Landsleute zuvor gelungen. Erdmann wird an diesem Tag, bei aller gebotenen Vorsicht im Umgang mit dem Wort, zum Helden. Nichts Geringeres. Doch – das ist schlimmer als jede Schinderei – Deutschland empfängt ihn als Spinner, als eine Art Felix Krull zur See. Sein Willkommen nach 20 Monaten auf See besteht aus einer Mauer des Misstrauens. Sie glaubten ihm nicht. Kein Wort.

Wie sehnsüchtig hat er sich gefreut auf die Heimkehr! Bis er zu Hause ankommt. Ein Abgesandter des Deutschen Segler-Verbands erklärt den Reportern, es sei „fast lügnerisch zu er­zählen“, dass eine Weltumsegelung mit solch einem kleinen Boot möglich sei. Erdmann will am liebsten auf der Stelle umkehren, weit weg, zurück aufs Meer, in seine geliebte Einsamkeit.

Heute zieht es Segler in Scharen um die Welt. Sie haben feine, schnelle Yachten, eine üppige Auswahl in der Bordbar, sie tragen warme, dichte Hightech-Klamotten, atmungs­aktiv, ein Automat entsalzt das Seewasser, sie plaudern via Satellitenhandy von jedem Ort der Erde, und das GPS verrät die Position auf Dezimalstellen genau. 1968, das mutet im Ver­gleich an wie die Steinzeit des Segelns. Unter archai­schen Bedingungen, mit einem winzigen Boot, „weder konstruiert noch gebaut für so eine Reise“, einmal rundum, über alle Ozeane, durch Stürme und Flauten – das verdient seinerzeit wahrhaftig nur ein Attribut: unglaublich.

Video: Wilfried Erdmann berichtet von seiner ersten Weltumsegelung

Ein Abenteuer jenseits aller Vorstellungskraft

Dieses Abenteuer liegt jenseits aller Vorstellungskraft. „Es hatte ja keiner eine Ahnung, wann ich eintreffen würde, es gab keine Kommunikation. Ich kam also an und sagte: ‚Hier bin ich.‘ Ich war glücklich, aber nicht lange. Am nächsten Tag stand in der Zeitung: ‚Der hat das gar nicht gemacht!‘“

Kurz zuvor hatte Francis Chichester Ähnliches geleistet. Das Ende seiner Einhand-Um­segelung glich einem Triumphzug, 400000 Begeisterte umjubelten ihn in England. Erdmann hingegen: „Keine Presse, keine Familie, keine Freunde zum Empfang. Ich hatte nur mich, das war nicht das Übelste.“ Überhaupt reagiert Deutschland weit weniger euphorisch. Der Zoll legt seine „Ka­thena“ an die Kette. Er soll 200 D-Mark Einfuhr­steuer für das Schiff bezahlen, nach heu­ti­gem Wert 320 Euro. So viel hat er nicht.

Ich hatte nur mich, das war nicht das Übelste.“

Erdmann, im Kriegsjahr 1940 im pommerschen Scharnikau geboren, stammt aus bescheidenen Verhältnissen. „Ich wusste nur, was Hunger, aber nicht, was Segeln ist.“ Die Familie flieht in die DDR und kommt im mecklenburgischen Karstädt unter. Erdmann absolviert eine Tischlerlehre. Fernweh packt ihn. Mit 17 besucht er eine Tante auf der anderen Seite der Zonengrenze, in Büchen. Er hat nicht die Absicht, jemals in sein Elternhaus zurückzukehren. Auch in Büchen bleibt er nur, bis er bundesdeutsche Papiere erhält. Der Pass ist seine Eintrittskarte für die Welt, jetzt, endlich, steht sie ihm offen.

Als Zimmermann hat er 1000 D-Mark im Monat verdient. Aber er, dessen einziger Bezug zum Wasser bis dato in der Nachbarschaft zu Karpfenteichen besteht, will um jeden Preis auf See, Geld ist da nachrangig. Er verdingt sich für gerade mal 200 Mark Heu­er als Jungmann auf einem Berufsschiff.

Erdmann stößt bei einem Kneipenbesuch auf die „Kathena“

Segelboote faszinieren und verstören ihn gleichermaßen. Er hat überhaupt keine Ahnung vom Segeln. Und keine Ahnung, wie er es lernen könnte – manche Dinge nämlich waren vor 40 Jahren ganz wie heute. „Wenn ich in den Prospekten sah, was eine Stunde Unterricht in der Segelschule kostete und wie viele Stunden man braucht, um endlich zum ersten Mal selbstständig zu einer Nachmittagsausfahrt bei Sonntagswetter starten zu können, dann tat mir mein schönes, mein schwerverdientes Geld leid.“

Am 2. November 1965 macht der „Habenichts“ (Erdmann) im spanischen Alicante eine folgenreiche Kneipenbekanntschaft. An der Theke einer Bodega kommt er beim Tinto mit einem Herrn ins Gespräch, „gegen 60, mit weißem Haar, Pfeife und Schnauzbart unschwer als Englän­der zu erkennen“. Erdmann erzählt ihm von seinen Sehnsüchten. „Suchen Sie denn ein Boot?“, fragt jener Mr. Nuttall. „Ja, aber ich kann mir keines leisten.“

Nuttall macht ihm einen akzeptablen Preis für sein 14 Jahre altes Schiff, 8600 Mark. Allerdings befindet sich die Lady in erbarmungswürdigem Zustand, sie ist, so Erdmann, „trostlos anzusehen. Überall abgeplatzter Lack, blätternder Rost, lose Wanten, verrottete Taue, Risse in den Planken.“ Ihre Segel­eigenschaften vermag der neue Eigner nicht zu beurteilen: „Vom Segeln verstand ich ja nichts.“ Also verzichtet er auf eine Pro­be­fahrt. Sie hätte ihm zumindest verraten, dass die Maschine defekt ist.

Erster Eintrag im Logbuch: „Was bin ich glücklich!“

Erdmann opfert für die „Kathena“ die Hälfte seiner Ersparnisse, und er gibt an diesem Tag noch zweimal Geld aus. Zunächst begleicht er seine Hotelrechnung – er ahnt nicht, dass die vorige Nacht für Jahre die letz­te war, die er in einem festen Bett verbringt. Und er kauft ein Logbuch, ein gewöhnliches Kassenbuch. Seine dort festgehaltenen Reisenotizen werden in der Folgezeit die Seglerwelt rühren, beeindrucken, verzaubern – die Destillate in Buchform verkaufen sich glänzend, allein sein späterer Haus­verlag Delius Klasing versorgt die Fans mit hunderttausenden Exempla­ren. An jenem Tag schreibt Erdmann den ersten von Abertausenden Sätzen in ein Logbuch: „Was bin ich glücklich!“

Glücklich? Mit diesem Gefährt? „Die Kajüte war nicht länger als die Koje, und die war für mich gerade lang genug, um darin liegen zu können.“ In der Vertikalen sieht’s kaum besser aus, von wegen Stehhöhe: Bewegung unter Deck ist nur gebückt möglich. „Stets spürte ich in der Magengrube die Kante des Tisches.“ Kein Spind, kein Schrank an Bord, „es wäre auch gar kein Platz mehr dafür gewesen.“ Erdmann lebt jahrelang aus dem Seesack. Es ist in vielerlei Hinsicht eine Reise ins Ungewisse. Erdmann weiß nicht, wann er je wieder Geld verdienen wird, an eine finanzielle Absicherung verschwendet er keinen Gedanken.

Wilfried Erdmanns erster Törn wird zum Desaster

In Alicante lernt er andere Segler kennen, es ist eine kleine, überschaubare, eingeschworene Gesellschaft. Zu ihr zählt Bernard Moitessier, der große Franzose, der ein paar Jahre darauf zu Weltruhm gelangen wird, als er die erste Einhand-Weltregatta Golden Globe in Führung liegend abbricht und in die Südsee verschwindet. In der Steinzeit des Segelns spielen Namen wie Moitessier, Robin Knox-Johnston oder Bobby Schenk noch gar keine Rolle. Es gibt weder nennenswerten Serienbootsbau noch Einrichtungen wie die Blauwasser-Selbst­hilfe-Organisation Trans-Ocean. Und die Möglichkeiten zur Kommunikation – wesentlich zur Vorbereitung und Durch­führung jeden Törns – erschöpfen sich vornehmlich im Ver­fassen von Briefen, adressiert an den vermeintlich nächs­ten Hafen.

Erdmann fuchst sich langsam in die Materie ein, lernt von Moitessier „theoretisch die Grundbegriffe der Navigation“, macht sich auf kurzen Ausfahrten mit dem Boot ver­traut und startet am 13. Mai 1966 zu seiner ersten Seereise. 20 Meilen nach Benidorm, „das kam mir schon wahnsinnig weit vor“. Der Törn beginnt mit einer Kollision mit der Kaimauer und endet mit zerfetzter Fock auf der Mole des Zielhafens. Eine katas­trophale Premiere, aber Erdmann zieht seine Lehren: „Ich erkannte, dass ich viel zu un­erfahren war und verlangte mir doppelte Disziplin ab.“

Er muss weg, bevor es zu spät ist

Erdmann bereitet sein Schiff vor. Es benötigt unter anderem Lenzrohre fürs Cockpit und einen Seezaun. Er beschafft sich Gasrohre und biegt sich von Hand eine Reling daraus. Fast ein Jahr, sagt er, hat er in Süd­spanien auf diese Art „herumgegammelt“, bis er am Schicksal anderer Langfahrtaspiranten erkennt, dass ihn dasselbe ereilen könnte: Planen, wünschen, träumen – und doch nie loskommen. Er muss weg, bevor es zu spät ist. Tatsächlich hat er sich in dem Moment „nicht die Weltumsegelung vorgenommen, sondern lediglich den Absprung vom faulen Leben in Alicante“. Am Morgen des 25. Juli 1966 legt er ab. Mit diesem Datum beginnt Erdmanns grandiose Karriere.

Leider hat das alles nach damaligem Verständnis mit Segelsport nichts zu tun. Segeln ist feinen Herrschaften vorbehalten, in „isolierten Clubs“, wie Erdmann sagt. Ein bunter Vogel wie er, nahezu mittellos, hätte niemals die notwendigen Bürgen für eine Aufnah­me in den erlauchten Kreis gefunden, selbst wenn er gewollt hätte. Nicht allein des Standes wegen – die Vereine legten seinerzeit größ­ten Wert auf die Einhaltung von Kriterien, die er sämtlich nicht erfüllte: Kompetenz und Qualifikation, vor allem akribische Törnplanung, sichere Navigation und gute Seemannschaft.

Erdmann nennt sich selbst ein „Greenhorn zur See“

Kompetenz? Nahe null. Ein „Greenhorn zur See“ nennt Erdmann sich selbst. Qualifikation? Einen Segelschein hat er nicht, Erfahrung kaum. „Das Ungeheuerliche“ seiner Reise wird ihm erst bewusst, als der Zeitpunkt für eine Umkehr verpasst ist.

„Im Rückblick war das natürlich schon leichtsinnig, aber ich war jung, und junge Leute wissen nicht immer genau, was Gefahr bedeutet. Der wenige Schlaf, der Schiffsverkehr, schwe­res Wetter. Ich bin da relativ unbekümmert herangegangen. Etwas blauäugig. Und am Ende kam da einer an, der hatte das trotzdem ohne Havarie geschafft. Das machte mich nicht un­bedingt beliebt in den Vereinen.“ Deren Problem: Es ist keiner von ihnen, kein Etablierter, der zum Segelpionier aufsteigt, sondern ein Nobody. Unglaublich.

Ich bin da relativ unbekümmert herangegangen. Etwas blauäugig.“

Erdmann navigiert sich irgendwie um den Globus, er zeichnet sich zuweilen die See­­karten ab, die er braucht. Seine Uhr streikt nach einem unfreiwilligen Bad bereits im Hafen von Alicante, das Radio, das ihm noch ein Zeitzeichen liefert („Ich muss voraus­ahnen, wann das letzte ,Piep!‘ ertönt“), wird von einem Einsteiger im Salon zerstört. Und dann ist auch noch der Sextant hinüber. Erdmann notiert: „Seit Uhr und Radio kaputt sind und ich keine genaue Zeit mehr habe, beobachte ich den Bogen der Sonne genau, um zur Zeit ihres Höchststandes mit dem Sextanten den Winkel zu messen und danach die Breite zu errechnen. Doch eines Tages hantiere ich zu unvorsichtig mit dem teuren Gerät, und dabei verschiebt sich die Grundeinstellung an dem geeichten Prä­zi­sionsinstrument. Scheibenkleister! Den Län­gengrad peile ich schon längst über den Daumen. Künftig kann ich auch die Breite nicht mehr genau errechnen. Und so fahre ich jetzt wirklich wie Kolumbus über den Atlantik.“

2879 Meilen im Blindflug über den Atlantik

Erdmann orientiert sich lediglich an Kom­­pass, Sternen, Segelanweisungen und Strömungsbeschreibungen. Er verpasst Barbados, aber trifft am 12. Dezember 1966 in Kingstown ein, der Hauptstadt der Kari­bik­insel St. Vincent. Nach 47 Tagen auf See. Nach 2879 Meilen fast im Blindflug. Unglaub­lich. Die italienische Kapitänsgesellschaft ver­leiht ihm später den Titel „Mutigster Seemann des Jahres“.

In Deutschland wird erst zögerlich klar, was der in Helgoland eingetroffene Zausel vollbracht hat. Eine Prüfung nach der an­deren bestätigt seine Angaben. „Die haben kontrolliert“, sagt Erdmann, „das glaubt man gar nicht!“ Er wundert sich zunächst, als Bio­logen Bewuchs von seinem Unterwasserschiff kratzen. Der kommt zur Analyse ins Labor. Die Echtheit seiner Logbücher muss ein Gutachter bescheinigen. Ein Einhandsegler hat selten Zeugen. Erst die Bestätigung zweier Schiffsbegegnungen und die Inspektion der Post aus aller Welt, die er seiner Freundin Astrid von Heister geschickt hat, räumen die Bedenken aus.

Von nun an schwenkt die Stimmung um. Was hat dieser Kerl nur angestellt!

Streichhölzer halten die „Kathena“ dicht

Welch einen Kampf hat er geliefert! Die „Kathena“ macht permanent Wasser, einen Gutteil der Reise verbringt Erdmann damit, die Bilge auszupumpen. Seine Kalfaterung bleibt wirkungslos, weil sich tropische Würmer durch das Mahagoni bohren. Aus den etwa drei Millimeter starken Kanälen sprudeln kleine Fontänen. Mitten auf dem Pazifik. Erdmann spickt das Boot mit Streichhölzern und fährt wochenlang problemlos weiter.

Er hungert sich nach Tahiti. Aus unerfind­lichen Gründen ist früh auf dem Törn die Gasflasche leer. Nudeln und Reis sind nun unbrauchbar als Proviant, das heißt: 43 Tage lang, fast anderthalb Monate, kein warmes Essen, stattdessen rohe Zwiebeln, „kalte Bohnen aus der Dose und getrocknetes Obst. Wenn ich doch wenigstens mal eine heiße Tasse Kaffee trinken könnte.“ Am 5. April 1967 erreicht er Tahiti.

Erdmann segelt permanent am Rand der Pleite. Anders als bei Chichester ist sein Aben­teuer keineswegs durchfinanziert. Das Schiff müsste dringend aufgeslippt werden, 52 Dollar, zu teuer. In Panama werden 2,50 Dollar Liegegeld verlangt „gleich so sündhaft viel!“ Immer wieder muss er auf seinen Zwischenstopps irgendwelche Jobs annehmen, die wenigstens etwas einbringen, genug für die nächste Etappe.

Er stellt bei Flauten „Rekorde im Langsamsegeln“ auf, keine Maschine, die ihn schie­ben könnte, er hat nach dem Defekt die Schraube abgebaut, sie bremst nur. Zermürbende Tage. Und Nächte. In der Karibik muss er im Sturm in den Masttopp aufentern, um das gebrochene Fall zu ersetzen. Ein Wahnsinn auf dem tanzenden Schiff in völliger Dun­kelheit, „die geringste Schwäche bedeutet das Ende“. Er weiß nicht wie, aber er schafft es, kommt völlig zerschlagen in den Salon und stellt fest, dass das Wasser im Schiff bis zu den Bodenbrettern steht. Er lenzt bis zur Erschöpfung. Seen steigen ein, das Wasser läuft „eimerweise in den Kragen des Ölzeugs hinein und aus den Stiefeln wieder heraus“. Erdmann erreicht Cristobal am 4. Januar 1967.

Die Medienmaschine läuft an

Er hat außer seiner neuen Freundin und späteren Frau Astrid niemanden in das Vorhaben eingeweiht, nicht einmal die Verwand­ten in Büchen, erst recht nicht die Medien. Als „Bild“-Reporter von Erdmanns Eintreffen auf Helgoland Wind bekommen, wittern sie instinktsicher die Story. Während er an den Zweiflern verzweifelt, erkennen die Profis sofort, dass ihnen diese Diskussion Schlag­zeilen für Tage beschert. Erdmann ist fortan Titel-Thema. Er bittet vergeblich: „Machen Sie nicht so viel Aufhebens.“ Die Medien-Maschine läuft an.

Er segelt von Helgoland nach Cuxhaven, wo die alten Schwimmstege die Last der 90 Neugierigen kaum tragen können. Ein Reporter vom „Stern“ kommt an Bord, verfrachtet ihn in die Hamburger Zentrale, wo ihm Chefredakteur Henri Nannen höchstselbst die Geschichte exklusiv ab­kauft. Erdmann ist wie vom Schlag gerührt, als ihm 12000 D-Mark in die Hand gedrückt werden, bar. Das ist über die Hälfte seiner gesamten Reise­kosten – inklusive Schiff – von 21000 Mark. Mehr als der Rest seiner Aus­gaben kommt durch weitere Honora­re und den Verkauf seiner „Kathena“ zusammen.

Nun ist er wohl wer. Doch der plötzliche „Seeheld“ („Süddeutsche Zeitung“) wird nicht allerorten gebührend gefeiert. Der Schlimbachpreis, ausgeschrieben für „die beste deutsche hochseeseglerische Leistung jeden Jahres“, bleibt Erdmann verwehrt. Das Bremer Jury-Mitglied Rolf Schmidt begründet das so: „Erstens war er weder vorher noch nachher in einem Club, zweitens hatte er kein Patent, drittens keine Vorbereitung in unserem Sinne.“ Unglaublich.

Chichester wird geadelt, Erdmann bekommt zehn Kilo Mettwurst

Francis Chichester hatte im Jahr zuvor in der mehr als doppelt so großen „Gipsy Moth IV“ seine Einhand-Umsegelung vollendet, mit fast viermal so viel Segelfläche, Komplett-Ausstattung einschließlich funktio­nierender Maschine und dem 24fachen Etat. England huldigte ihm wie einem Heiligen: Adelstitel, Ritterschlag, Staatspension ehrenhalber, Orden des Britischen Empire.

Die Verehrung des „deutschen Chichester“ („Bild“) hingegen hält sich trotz seiner medialen Präsenz in Print und Fernsehen in engen Grenzen. Der „Stern“ listet süffisant auf, was Wilfried Erdmann als hiesiges Pendant zu Adelsstand und lebenslangem Einkommen an Zuwendungen erhält: „1 Buch vom Gemeindeoberinspektor von Helgoland; 1 Sessel von der Fa. Möbel-Lemke, Büchen; 1 Uhr von der Gemeinde Büchen; 1000-DM-Spende der Maschinenfabrik Tuchenhagen, Büchen; vergoldete Promi­nenten­medaille der Fernsehsendung ‚Goldener Schuss‘; 10-Kilo-Mettwurst der Stadt Schwar­zenbek.“ Scheint ganz so, als habe sich während der vergangenen 40 Jahre im Grundsatz nicht gar so viel verändert.


Die Ur-„Kathena“

Wilfried Erdmann auf der “Kathena” bei seiner Ankunft auf HelgolandFoto: picture alliance / dpa
Wilfried Erdmann auf der “Kathena” bei seiner Ankunft auf Helgoland

Erdmanns erstes eigenes Boot überhaupt wurde 1952 bei John A. Ley im englischen Scarborough gebaut. Es war 7,62 Meter lang und 2,32 Meter breit. Der Kielschwer­ter ging 0,90 beziehungsweise 1,50 Meter tief, verdrängte 4 Tonnen und führte 24 Quadratmeter Segel am Wind. Der Was­­ser­tank hatte eine Kapazität von 60 Litern, das Auffangen von Regenwasser gehörte zum Bordalltag. Erdmann zahlte für die Yacht 8600 D-Mark und verkaufte sie 1969 mit 500 Mark Aufschlag an einen Hamburger Schiffbau­ingenieur. Zwischen­zeitlich hatte er etwa 5000 Mark in Aus­rüstung investiert.


Die erste Reise von Wilfried Erdmann

(10. 9. 1966–7. 5. 1968)

  • Alicante–Las Palmas, 17 Tage, 768 Seemeilen
  • Las Palmas–Kingstown/St. Vincent, 47 Tage, 2879 Seemeilen
  • Kingstown–Cristobal/Panama, 13 Tage, 1173 Seemeilen
  • Cristobal–Balboa/Panama (Kanalfahrt), 1 Tag, 46 Meilen
  • Balboa–Tahiti, 69 Tage, 4792 Seemeilen
  • Tahiti–Port Moresby/Papua-Neuguinea, 46 Tage, 4004 Seemeilen
  • Port Moresby–Kapstadt/Südafrika, 98 Tage, 8026 Seemeilen
  • Kapstadt–Helgoland, 131 Tage, 8062 Seemeilen

Die wichtigsten Törns von Wilfried Erdmann

Nur anderthalb Jahre nach seiner Ankunft segelt Erdmann erneut um die Welt (1969–1972), diesmal mit Ehefrau Astrid. 1979 un­ternehmen beide mit ihrem anfangs dreijährigen Sohn eine lange Südseereise. 1984/85 segelt Erdmann als erster Deutscher allein und nonstop rundum, danach, auch mit Crew, auf Atlantik, Nord- und Ost­see. 2000/01 vollbringt er abermals Historisches mit seiner Nonstop-Weltumsegelung gegen die vorherrschende Windrichtung – auch das eine deutsche Erstleistung. Er war einer der wichtigsten und besten Segler der Geschichte.

Alle großen Reisen von Wilfried Ermann in einer KarteFoto: Delius Klasing
Alle großen Reisen von Wilfried Ermann in einer Karte

Erdmann lebte fürs und vom Segeln, er hielt Hunderte Vorträge, seine Bücher wurden Bestseller. Am 8. Mai 2023 verstarb Wilfried Erdmann nach schwerer Krankheit im Alter von 83 Jahren.


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