Nico Krauss
· 23.12.2022
Spektakuläre Boote für extreme Törns: Sven Yrvind ist auch mit 83 Jahren am Konstruieren, Bauen und Segeln seiner individuellen Kleinstkreuzer. Ein Werkstattbesuch in Ostschweden
Ein Gewerbegebiet im schwedischen Västervik. Lange Flure führen durch das Logistikzentrum, alle paar Meter eine Tür. Über einem Eingang steht „Yrvind“ – Wirbelwind –, und an der Tür baumelt ein Stück Holz mit der Aufschrift „Trägen Vinner“, was übersetzt bedeutet:
Beharrlichkeit führt zum Ziel“
Das bescheidene Entree führt in die Werkstatt des Großmeisters für Mikroboote: Sven Yrvind. Die lebende Legende ist mittlerweile 83 Jahre alt und baut schon seit Jahrzehnten sehr kleine seetüchtige Boote, die er bis heute in Personalunion plant, fertigt und auf den Weltmeeren segelt.
Yrvind öffnet die Tür, weißer Haarschopf und Rauschebart verdecken fast sein ganzes Gesicht, die Augen funkeln freundlich durch die Gläser der Nickelbrille. Er steckt in blauer Arbeitskleidung, ein Tampen trimmt die Hose auf Hüfthöhe. Für sein Baujahr 1938 ist der Autodidakt in Sachen Bootsbau erstaunlich gut in Form.
Nach kurzer Begrüßung ist der Weg in die Werkstatt frei. Taghell ausgeleuchtet und eher Künstleratelier als Kleinbootwerft, hängt hier an robusten Ketten sein aktuelles Projekt, das Segelkanu „Exlex“. Yrvind geht behände um den Rumpf, zeigt Details, erklärt Zusammenhänge und holt zum Verdeutlichen Material aus den Schränken. Dann hält er plötzlich inne, schweigt und denkt nach. „Ich habe gerade die Lösung für ein altes Problem gefunden“, sagt er lächelnd und erklärt weiter. Typisch Yrvind, in dessen Kopf immer eine multiple Problemlösungsmaschine zu laufen scheint.
Nachdem Yrvind bereits mit zahlreichen selbst gebauten Mikrobooten aus unterschiedlichen Materialien auf den Weltmeeren unterwegs war, arbeitet er seit August 2021 tagtäglich an dem 6,27 Meter kurzen und 1,40 Meter schmalen Neubau, der ihn von Irland nonstop nach Neuseeland bringen soll und von Dunedin auf direktem Kurs wieder zurück nach Europa. Für die rund 15.000 Seemeilen rechnet er 200 Tage, also ein Etmal von 80 Meilen.
Yrvind hatte bereits zwei Versuche in Richtung Neuseeland unternommen, beim letzten im Jahr 2018 nach einem Zwischenstopp in Madeira aber die Reise abgebrochen, nachdem er heftige Stürme auf der Biscaya abwettern musste.
Die aktuelle Kleinstkreuzer-Konstruktion in der Werkstatt Västervik ist mit 6,27 Meter etwas länger als die Vorgängermodelle und soll im Durchschnitt drei Knoten laufen. „Ein Doppelender ist die bessere Wahl, um ein ausgewogenes Verhältnis von Länge und Geschwindigkeit zu erreichen“, so Yrvind, der sich dabei auf die Froude-Zahl beruft, eine Kennzahl der Physik nach William Froude (1810–1879), die ein Maß für das Verhältnis von Trägheit zu Schwerkräften innerhalb eines hydrodynamischen Systems darstellt. Sie wird in der Hydrodynamik zur Beschreibung von Bugwellen von Schiffen benutzt.
Yrvind hat das Design jedes seiner Boote immer exakt an das jeweilige Vorhaben angepasst. „Ich habe während jedes Törns schon an der nächsten Konstruktion gearbeitet und nach Optimierung gesucht. Deshalb kann ich jetzt auf sehr viele Ideen zurückgreifen, um das optimale Boot zu entwickeln“, so der tatkräftige Tüftler. Und mit seinem spitzbübischen Lächeln fügt er hinzu:
Auch jetzt beschäftige ich mich bereits mit einem neuen Design für das nachfolgende Projekt.“
Dass bei dem Wirbelwind aus der Idee im Kopf tatsächlich ein realer Rumpf entsteht, den er dann auch noch selbst über die Weltmeere segelt, liegt neben seiner eisernen Disziplin an den vielseitigen Fertigkeiten, die er aus über 60 Jahren praktischer Erfahrung mitbringt. Der Kleinstbootsegler hat das nautische Fach und die vielfältigsten handwerklichen Fertigkeiten von der Pike auf gelernt.
Zu segeln begann Yrvind bereits als Jugendlicher, erste Einhandtörns führten ihn vom Göteborger Schärengarten durchs Kattegat nach Dänemark. Nach der Schule arbeitete er in einer Schlosserei, später ging er nach Deutschland und Österreich, verdingte sich auf Baustellen und hatte Holz und andere Baustoffe in den Händen. In England schließlich half er auf Werften und reparierte hölzerne Rümpfe und Riggs, in der chemischen Industrie lernte er Stahl und Aluminium zu schweißen.
Das effektive Selbststudium setzte er in den USA mit damals revolutionären Bautechniken fort, die er 1975 in der America’s-Cup-Schmiede von R. Newick in Newport kennenlernte. Sie experimentierten mit Kevlar, Epoxid und Carbon, und die ersten Multihulls in Kompositbauweise gingen von hier aus auf die Regattabahn. So verwundert es nicht, dass Yrvind mit einer Vielzahl von Baustoffen umgehen kann und diese für sein neuestes „Exlex“-Projekt zu nutzen weiß.
Auch bei kleinen Lösungen zeigt sich die große Erfahrung von Yrvind. Für die Schraubverbindung der Abdeckungen im Boot fräst er die Muttern aus einer Aluminium-Bronze-Legierung selbst, um Niro als Material sowohl für Schrauben als auch Muttern zu vermeiden. Solche Verbindungen seien anfällig dafür zu verkanten, was das Gewinde zerstöre.
Für den mit Epoxidharz laminierten Sandwich-Rumpf verwendet der Selbstbauer einen Kern aus PVC-Schaum (Divinycell H), den er in einer Dichte von 80 bis 400 kg/ m3 einsetzt. Das Material ist ideal für den Einsatz unter harten Bedingungen bei einem sehr günstigen Gewicht. Innenrumpfschale und Schotten sind mit Kohlefasermatten verstärkt.
Beim letzten Boot hatte das Kernmaterial nur die halbe Dichte, da hatte ich vor Island Probleme mit Kondenswasser. Das möchte ich jetzt vermeiden!“
Ösen und Klampen am Rumpf fertigt Yrvind aus einer Tauwerkschlaufe, die mit Epoxid gehärtet und in Form gebracht wird. Das ist nach seiner Erfahrung die beste Möglichkeit, in einer Sandwich-Bauweise Befestigungspunkte zu integrieren, ohne die Struktur und Festigkeit der Rumpfschale zu beeinträchtigen.
Material- und Kentertest führt er bei jedem Rumpf selbst durch. Dazu wird der Rumpf im Hafen mittels Helfer und eines Krans durchgekentert und richtet sich dann wieder auf. Der Skipper liegt währenddessen im Rumpf und überprüft die Dichtigkeit und die Passform seiner Sicherheitsgurte. Anstelle eines Kielgewichts wird der 350-Liter-Trinkwasservorrat als Wasserballast verwendet. Was er getrunken hat, will Yrvind mit Salzwasser wieder auffüllen.
Das Schwert der neuen „Exlex“ ist im Bug platziert, angefertigt aus extrem festem Epoxidlaminat (G 11). Es soll für eine bessere Amwind-Performance sorgen, auf der geplanten Route ist mit Abdrift durch Gegenwind und Strömung zu rechnen. Der Schwertkasten wird in der Bugsektion verbaut, das soll Platz sparen. Eine Variante, die Yrvind bereits bei zwei seiner Boote Mitte der achtziger Jahre erprobt hat, dem offenen Experimentierboot „Cykel-Bris“ und später der 4,80 Meter kurzen „Amfibie-Bris“, die er von Frankreich über Irland nach Neufundland segelte.
Anders als bei den „Exlex“-Vorgängern aus dem Jahr 2018 und 2020, bei denen es Probleme damit gab, das Boot von der Koje aus zu steuern, wird diesmal der Ruderschaft durch einen Koker in den Rumpf geführt und die Kräfte durch einen Doppelquadranten übersetzt. Dyneema-Tauwerk dient dann als Steuerseil, über Rollen in der achterlichen Sektion und mittschiffs kann die Ruderanlage nun bequem aus der Koje angesteuert werden. „Die Ruderstellung kann ich auf den Rollen ablesen. Es ist ein großer Vorteil, bei schwerem Wetter unter Deck bleiben zu können“, erklärt der erfahrene Offshore-Segler.
Das Ruderblatt wird aus Bronze gefertigt, und zwei kleine Finnen aus Epoxidlaminat sollen verhindern, dass Tauwerk das Spatenruder verklemmt. Einen Autopiloten wird die „Exlex“ nicht bekommen, der Kurs wird über den Trimm der Segel gehalten.
Der Schwede lebt und arbeitet zwar meist zurückgezogen, doch er hält mit seinem Fachwissen nicht hinter dem Berg. Vorträge und Seminare waren vor der Pandemie fester Bestandteil seiner Tätigkeit und ein gutes Zubrot – Yrvind versteht es, als Redner seine Erfahrungen unterhaltsam und praxisnah zu vermitteln.
Die ausgefallenen Einnahmen während der Corona-Zeit sind bis heute ein Problem für Yrvind, der mit sehr geringem Budget lebt und arbeitet und auf Sponsorengelder für seine Projekte verzichtet. Mehr als zuvor ist er daher auf Unterstützer angewiesen. Seine Gegenleistung liefert er bereits auf seinem Youtube-Kanal. Hier öffnet der Experte über 17.000 Followern die digitale Tür zu seiner Werkstatt und lässt sie täglich an den Baufortschritten und speziellen Problemlösungen teilhaben.
In diesem Forum wird dann auch diskutiert, gefachsimpelt und ein reger weltweiter Austausch gepflegt. „In den letzten Tagen habe ich mich mit meiner Community über E-Power ausgetauscht und bin zu dem Schluss gekommen, dass die neue ‚Exlex‘ einen Elektroantrieb bekommen wird. Natürlich nur für Hafenmanöver. Die Solar-Power ist mit 300 bis 600 Watt Leistung dafür ausreichend dimensioniert, gespeichert wird mit Lithium-Iron-Phosphat-Batterien.“
Als Hauptvortrieb soll aber weiterhin der Wind genutzt werden. Dazu stehen vorn zwei freistehende Masten nebeneinander mit je einem drei Quadratmeter großen Lugger-Segel. Ein dritter Mast mit einem zwei Quadratmeter großen Segel soll achtern hinter dem Ruder geriggt werden.
Die Tücher werden in Karlshamn im südschwedischen Blekinge von Hans Hamel gefertigt. Der Segelmacher mit deutschen Wurzeln ist Fahrtenseglern ein Begriff und hat schon so manches Mal mit fachmännisch gesetzter Naht einen Urlaubstörn gerettet. Hamel verfolgt die ehrgeizigen Projekte des Mikrobootkonstrukteurs schon seit Langem. Um seinen Beitrag zu leisten, stellt er Material und Arbeitszeit kostenlos zur Verfügung.
Durch die Luggertakelung wird nur ein Drittel der Segelfläche vor einem eher kurzen Mast gefahren – eine Lastenverteilung, die mehr Sicherheit vor Bruch gibt. Der Einsatz von zwei Masten bringt nach Yrvinds Einschätzung weitere Vorteile: eine bessere Kursstabilität auf Vorwind-Kursen und einen platzsparenden Einbau im Rumpf, ohne den Minimalplatz im Wohnbereich zu opfern. Der achtere Mast wird aus Fiberglas gebaut, in seinem Inneren ist die Funkantenne untergebracht.
Im Vergleich zu vorherigen Designs hat Yrvind das Boot innen großzügiger und wohnlicher gestaltet. Unterteilt in vier Sektionen und getrennt von Schotten mit runden Durchgängen, gibt es die Vorpiek mit Schwertkasten und einer Luke im Deck, eine sogenannte Kapitänskammer mit breiter Koje, den Salon oder Crewbereich, wo eine Person gerade mal sitzen kann, und das Achterschiff mit Ruderquadrant und Decksluke.
Stehhöhe gibt es auf der ‚Exlex‘ natürlich auch – wenn die Luke geöffnet ist“, sagt Yrvind schmunzelnd.
Achtern und im Vorschiff sind jeweils eine Bilge und Lenzpumpen verbaut, da beim Ein- und Ausstieg durch die Luken Wasser eindringen kann. In der Kapitänskammer befinden sich viele Stauräume an den Bordwänden, und die Aufbaufenster sollen einen Rundumblick ermöglichen.
„Bei diesem Segelkanu möchte ich keine störenden Elemente an Deck, sondern eine freie Fläche, um mich gut bewegen zu können. Auch wenn die Wege natürlich extrem kurz sind“, erklärt Yrvind. Zudem könne es dann weder durch große Brecher noch bei etwaigem Durchkentern zu dramatischen Schäden kommen.
Die Lukenabdeckungen will Yrvind in Kompositbauweise fertigen, auf dem Aufbaudach sollen mehrere Solarpaneele montiert werden, darunter werden die Riemen zum Wriggen verstaut.
Dass die massiven Materialstärken selbst fachkundigen Kritikern als übertrieben gelten, stört Yrvind nicht:
Ich möchte mich sicher fühlen, auch bei Sturm in schwerer See. Dann schnalle ich mich in der Koje fest, lese viele Bücher und notiere meine Gedanken über das nächste Projekt.“
Nicht nur auf den Seereisen umgibt sich der autodidaktische Genius mit Literatur wie Fachbüchern und wissenschaftlichen Abhandlungen. Sowohl in seiner Wohnung als auch in der Werkstatt in Västervik füllen mehr als 10.000 Bücher die sich biegenden Regale. Noch mal so viele Werke hat er in digitaler Form gespeichert. Thematisch sind alle akademischen Fachrichtungen vertreten: Physik,
Mathematik, Chemie, Medizin und Geisteswissenschaften. Und natürlich viele Bände über Schiffbau, Nautik, Ingenieurwesen und Meteorologie. Neben schwedischen Werken und Übersetzungen finden sich Originalausgaben in englischer, deutscher oder französischer Sprache in den Regalen. Alles Fremdsprachen, die Yrvind in Wort und Text beherrscht.
Was er nicht an Wissen zwischen den vielen Buchdeckeln hervorholt, erwirbt Yrvind über aktuelle Online-Recherche. Moderne Medien und digitale Inhalte sind für ihn, anders als für viele seiner Altersgenossen, eine Bereicherung – und nicht etwa Überforderung.
Dabei hatte es der jugendliche Schüler Sven aufgrund einer diagnostizierten Lernschwäche und eines ausgeprägten Eigensinns sehr schwer, ins Mainstream-Schulsystem zu finden.
Für einen staatlich anerkannten Legastheniker war ich eigentlich schon immer gut aufgestellt”
Yrvind weiter: “Ich brauche nur genug Zeit und möchte meinen eigenen Gedankenwegen folgen können, dann löse ich auch sehr komplexe Aufgaben.“
Für die ideale Antwort auf Material- oder Baufragen hat sich Yrvind tatsächlich seine gesamte Lebenszeit genehmigt. Deshalb sind für ihn Gesamtstundenzahl oder Kosten für ein solches Projekt nicht entscheidend. „Ich bin quasi 24 Stunden mit dem aktuellen oder schon dem nächsten Projekt beschäftigt. Wenn ich beim Einschlafen eine zündende Idee bekomme, stehe ich wieder auf und durchdenke alle Details bei einem nächtlichen Spaziergang.“
Boote zu bauen ist für ihn kein Beruf oder das Hobby eines Rentners, es ist sein Lebensmodell. Druck, schnell ein Bootsprojekt zu beenden, macht er sich dabei aber nicht. Auf die oft gestellte Frage, wann das Boot fertig sei, antwortet Yrvind freundlich:
Wenn es draußen auf dem Meer segelt!“
Auf jeden Fall möchte er in der Saison 2023 erste Testfahrten und Kenterversuche unternehmen. Und natürlich möchte der ruhelose Visionär keine Minute ungenutzt verstreichen lassen. In seiner Werkstatt hängen daher auch gleich sechs Uhren – die Ermahnung zum „Carpe Diem“ tickt im Sekundentakt.
Und so wundert es nicht, dass der ganze Tag des Tüftlers akribisch durchgeplant ist. Neben der Arbeit in der Werkstatt geht er joggen, fährt Fahrrad und schwimmt. Nur die Aushärtezeiten von Epoxid und die damit verbundenen Arbeiten bringen seinen Stundenplan durcheinander, dafür geht er nötigenfalls auch nachts sofort zum Boot.
„Viel Bewegung und ein fester Rhythmus sind feste Bedingungen dafür, meine Projekte realisieren zu können“, verrät der Mikroboot-Baumeister. „Und ein gesundes Leben mit wertvoller Ernährung, die gibt es bei mir mit nur einer Mahlzeit täglich.“
Typisch Yrvind, puristisch bis über den Tellerrand. Pünktlich um 11.30 Uhr nimmt er die Druckluftpistole und reinigt seine Kleidung vom Staub, der sich bereits nach Minuten über alles ausbreitet, löscht das Licht und verschließt die Tür.
„Beharrlichkeit führt zum Ziel“ – das Holzschild mit dem Sinnspruch mahnt hier noch immer, obwohl Yrvind diese Tugend längst in den Genen hat. Doch wirklich ankommen an einem Ziel möchte er eigentlich gar nicht, denn dann wäre ja alles vorbei. Und das ist es noch lange nicht für den alten Schweden.