Michael Rinck
· 03.05.2023
Wenn bei niedrigen Temperaturen eine Person aus dem Wasser gerettet wurde, fängt an Bord der Notfall manchmal erst richtig an. Was zu tun und was zu vermeiden ist
Segler lieben das Wasser, müssen ihm aber nicht unbedingt näher kommen als der Freibord zwischen Cockpit und der Oberfläche. Im Sommer bietet ein Sprung in die Fluten angenehme Erfrischung, im Frühjahr kann zu viel Kontakt gefährlich bis tödlich werden.
Wie gefährlich, zeigt sich im Fall des über Bord gegangenen Skippers der „Speedy Go“ in der Flensburger Förde Anfang April vergangenen Jahres. Das Ausbildungsschiff, eine Salona 44, war zu einem Schwerwettertörn gestartet, als sich auf Höhe der Marina Minde während einer Halse die Vorschot verhakte und der Skipper beim Klarieren außenbords fiel. Er trug keine Rettungsweste und war nicht angeleint.
Der Crew gelang ein MOB-Manöver, und es wurde eine Leinenverbindung mit dem im Wasser treibenden Skipper hergestellt, doch die mobile Badeleiter war nicht sofort klar. Als die Crew sie dann angebracht hatte, schaffte es der Skipper nicht, sie zu erklimmen. Ein zur Hilfestellung ins Wasser gestiegenes Crewmitglied war nicht in der Lage, den mittlerweile bewegungsunfähigen Skipper mit der Hilfe der an Bord befindlichen Crew ins Cockpit zu bringen.
Schon nach wenigen Minuten gelang es nur mit großer Anstrengung, die zweite Person im Wasser (mit Rettungsweste) wieder an Bord zu nehmen. Die nach etwa 30 Minuten eingetroffenen Rettungskräfte konnten den Skipper nur tot bergen und brachten den zuvor aus dem Wasser geretteten Mitsegler unterkühlt in ein Krankenhaus. Seine Körperkerntemperatur betrug da 32 Grad Celsius. Und das, obwohl seine Mitsegler ihm unter Deck die nasse Kleidung ausgezogen und ihn mit mehreren Decken gewärmt hatten – das Wasser in der Förde war mit fünf Grad Celsius noch sehr kalt. Er überlebte den tragischen Zwischenfall.
Das kalte Wasser ist extrem tückisch. Am Beispiel des Unglücks auf der „Speedy Go“ zeigen sich gleich zwei Dinge. Erstens: Die schnell nachlassende Bewegungsfähigkeit macht Schwimmen unmöglich, ohne Rettungsweste hat man kaum eine Chance. Und zweitens: Auch wenn ein Crewmitglied aus dem Wasser gerettet ist, kann sein Leben durch die Unterkühlung noch bedroht sein. Das MOB-Manöver ist somit nur der Beginn weiterer Rettungsmaßnahmen.
Fällt ein Crewmitglied ohne Überlebens- oder Trockenanzug ins kalte Wasser, beginnt eine Abfolge von Körperreaktionen, die zu kennen bei Vorbereitung und Rettung hilfreich sein kann. In fachlichen Fragen wurden wir von dem Mediziner und Seenotretter Jens Kohfahl unterstützt. Außerdem beziehen wir uns auf sein lesenswertes Buch „Medizin auf See“.
Seenotretter sehen Wassertemperaturen unter 15 Grad als kalt und unter 10 Grad Celsius als sehr kalt an. Wasser leitet Wärme 25-mal besser als Luft. Wer also ohne Schutzkleidung ins kalte Nass fällt, kühlt extrem viel schneller aus als im kalten Wind. Laut Experte Kohfahl gibt es vier Phasen, die der Organismus nach dem Sturz von Bord durchmacht: Die erste Phase ist die Kälteschockreaktion. Der Körper reagiert auf den Kältereiz mit einem tiefen Atemzug, gefolgt von hektischer Hyperventilation. Dabei besteht die größte Gefahr darin, Wasser einzuatmen und zu ertrinken. Diese Phase dauert nur kurz, zwischen einer und drei Minuten.
Danach folgt die zweite Phase. Die Kälte bewirkt ein Nachlassen der Nerven- und Muskelfunktion. Der Experte spricht von Schwimmversagen. Dies tritt nach etwa zehn Minuten ein. Feinmotorische Fähigkeiten fallen bereits vorher schwer, danach kann sich die Person nicht mehr aus eigener Kraft über Wasser halten und schon gar nicht eine Rettungsleiter erklimmen.
Die dritte Phase ist die Unterkühlung oder Hypothermie. Sie setzt je nach Wassertemperatur und körperlicher Verfassung der Person im Wasser nach etwa 30 Minuten ein. Zuerst kühlen Arme und Beine aus, die Blutgefäße ziehen sich durch Kältereiz und Stress zusammen, und die Extremitäten werden nicht mehr ausreichend durchblutet. Sinkt die Körperkerntemperatur unter 35 Grad, sprechen Experten von einer Hypothermie. Auch diese Phase lässt sich weiter untergliedern. Dazu später mehr. Die unterkühlte Person kann bei fünf Grad Wassertemperatur bis zu zwei Stunden überleben. Voraussetzung dafür ist eine ohnmachtssichere Rettungsweste mit Spraycap.
Die vierte Phase ist der sogenannte Rettungskollaps. Das unterkühlte Crewmitglied wird nur noch von einem Minimalkreislauf am Leben gehalten. Herzschlag und Blutdruck sind also stark reduziert. Äußere Einflüsse können diese fragile Kreislauffunktion stören, etwa wenn der Patient zu stark bewegt wird. Eine horizontale Lage ist ratsam, langsame Bewegungen zu bevorzugen. Das steht aber den Rettungsmaßnahmen im Weg. Es muss schnell gehen, eine horizontale Rettung ist nicht immer möglich. Und wie soll der MOB unter Deck ins Warme gebracht werden, wenn man ihn möglichst nicht bewegen soll?
Diesen Zwiespalt gilt es, in der Situation an Bord so gut es geht aufzulösen. Es ist unmöglich, alles richtig zu machen, „wenn man einen Mitsegler aber nass und unterkühlt an Deck liegen lässt, wird er es vermutlich auch nicht überleben“, so Jens Kohfahl. Jetzt heißt es, so behutsam, aber auch effektiv wie möglich zu handeln.
Der erste Schritt ist, einen Notruf abzusetzen, wenn das nicht schon vorher in der MOB-Situation geschehen ist.
Ein Crewmitglied, das 30 Minuten im kalten Wasser war, ist als unterkühlt anzusehen.“
Auch per funkärztlicher Beratung kann sich die an Bord verbliebene Crew helfen lassen. Dann geht es um eine schnelle Einschätzung der Situation. Ist die gerettete Person noch ansprechbar und zittert, ist das ein gutes Zeichen, die erste Phase der Unterkühlung hat erst begonnen. In der zweiten Phase sinkt die Körperkerntemperatur auf 32 bis 28 Grad. Der Patient erscheint bewusstseinsgetrübt und zittert nicht mehr.
In der dritten Phase ist der Patient noch kälter und bewusstlos, atmet aber noch. In der vierten Phase der Unterkühlung ist die Kerntemperatur auf unter 24 Grad gefallen. Der Patient ist bewusstlos und hat keinen Herzschlag. Aber auch Experten können den leichten Puls eines Unterkühlten nur schwer ertasten. Deswegen sollten Laien mit der Suche nach dem Puls keine Zeit verschwenden. Eine unterkühlte Person kann noch relativ lange gerettet werden. In Landnähe kann der Hafen angesteuert oder auf Rettungskräfte gewartet werden. Eine Rettungsfolie mit einer gold und einer silber glänzenden Seite hilft auch etwas über nasser Kleidung. Die durchweichten Klamotten sollten im Idealfall entfernt werden. Steht eine größere Crew zum Anpacken bereit, kann der Patient unter Deck gebracht werden. Wenn er sogar aus eigener Kraft mobil ist, sollte er beim Unterdeckgehen unterstützt werden. Überanstrengung kann zwar auch zum Kreislaufkollaps führen, bei kleiner Crew ist das aber vielleicht die einzige Möglichkeit. Hier muss schnell entschieden werden, denn das durchnässte Crewmitglied kühlt auch an Deck in der nassen Kleidung weiter aus.
Für eine bessere Beweglichkeit wird zuerst die Luft aus der aufgeblasenen Rettungsweste abgelassen. Dazu wird die längliche Ausbuchtung am Deckel des roten Mundstücks von oben in das Ventil gedrückt und gehalten. Mit aufgeblasener Weste schafft man es kaum ins Cockpit beziehungsweise durch den Niedergang.
Unter Deck gilt es dann, den unterkühlten Mitsegler auf die Salonbank oder bei starken Schiffsbewegungen auf den Boden zu legen. Das nasse Ölzeug sollte nicht zerschnitten werden, weit entfernt von Land wird die Funktionskleidung später noch gebraucht. Die Jacke kann unter dem Rücken hochgerollt, von hinten über den Kopf gestülpt und dann die Ärmel Richtung Füße abgezogen werden. Die Hose lässt sich mit etwas Mühe ebenfalls abstreifen. Die nasse Kleidung darunter ist schwieriger zu entfernen. Pullover und T-Shirts können schnell aufgeschnitten werden. Danach den Patienten mit dem Handtuch abtupfen. Nicht rubbeln! Aufgewärmt wird er in der sogenannten Hypothermia Wrap. Dazu wird eine warme Decke über den abgetrockneten Patienten gelegt. An den Seiten auch versuchen, diese unter ihn zu schieben. Darüber kommt eine Rettungsfolie und dann wieder ein Schlafsack oder weitere Decken. Den Abschluss bilden eine Plane, ein Segel oder eine weitere Rettungsfolie, damit alles vor Wasser geschützt ist, etwa wenn sich ein Mitsegler mit nassem Ölzeug über die eingepackte Person beugt.
Während dieser Zeit ist eine ständige Ansprache wichtig, die nicht beruhigen soll. Im Gegenteil soll der Stresslevel hoch gehalten werden. Kreislauferhaltende Stresshormone wie Adrenalin helfen. „Bleib bei mir! Nicht schlafen! Noch ist es nicht überstanden!“ Wenn sich die unterkühlte Person jetzt zu sehr entspannt, droht der nur noch schwache Kreislauf endgültig zu kollabieren. Ansprechen, wachhalten und beobachten ist sehr wichtig. Ist der Patient bei Bewusstsein, kann zudem heißer Tee helfen. Auch Wärmflaschen unterstützen beim Aufwärmen. Die heiße Flasche aber nicht auf die nackte Haut legen, es drohen Verbrennungen! Alkohol verbietet sich. Der Stoff weitet die Blutgefäße und lässt den Blutdruck gefährlich absacken. Es droht Lebensgefahr! Hört der Patient plötzlich auf zu atmen, ist direkt mit der Wiederbelebung zu beginnen. Je nach Schwere der Unterkühlung kann das auch noch einige Zeit nach der Rettung der Fall sein.
Eine weitere Gefahrenquelle ist inhaliertes Seewasser. Der osmotische Gradient des Salzes bewirkt, dass Flüssigkeit aus dem Lungengewebe austritt und die Lunge füllt. Das ist der Versuch des Organismus, den Salzgehalt zu verdünnen, kann aber zum Verhängnis werden. Denn es droht Ertrinken. Dieser Vorgang hat mit der Unterkühlung nicht direkt etwas zu tun, kann aber selbst 24 Stunden nach der Rettung noch lebensbedrohlich werden. Eine ärztliche Betreuung ist also auch in weniger schlimmen Fällen angeraten.
Im besten Fall hilft gute Vorbereitung, den Ernstfall mit einer Person im Wasser zu vermeiden. Im Fall der „Speedy Go“ zeigt der Untersuchungsbericht der BSU, dass es eine Verkettung vieler Probleme war, die zum Tod des Skippers geführt hat. Angefangen mit der fehlenden Manöverabsprache. Hätte sich die Schot nicht verhakt, hätte auch niemand aufs Vorschiff gemusst. Dennoch lässt sich ein Gang aufs Vorschiff nicht immer vermeiden und besteht mit der richtigen Ausrüstung auch keine Gefahr. Eine Sicherungsleine und Strecktaue verhindern das Überbordfallen.
Und wenn doch ein Crewmitglied ins Wasser fällt, kann bei niedrigen Temperaturen nur eine Rettungsweste helfen. Denn schon nach wenigen Minuten beginnt das Schwimmversagen, die zweite Phase der Unterkühlung. Dann ist noch genug Zeit, die Person zu retten. Trägt sie aber keine Rettungsweste, wird sie vorher ertrinken. Zudem muss die Rettungsweste ohnmachtssicher sein, dabei spielt auch eine wesentliche Rolle, dass sie richtig angelegt wurde. Also zu Törnbeginn einmal kurz Zeit nehmen und die Gurtbänder passend einstellen. Die Weste muss möglichst eng anliegen, Schrittgurte getragen werden.
Das nächste Problem an Bord der „Speedy Go“ war eine nicht sofort einsatzbereite Badeleiter. Muss diese erst aus der Backskiste geholt werden, vergehen wertvolle Augenblicke, in denen die Person im Wasser eventuell noch aus eigener Kraft in der Lage wäre, wieder an Bord zu gelangen. Hier hilft eine Notleiter, die schon am Heckkorb angebracht ist und schnell ausgeklappt werden kann. Kommt die Person nicht mehr aus eigener Kraft aus dem Wasser, können spezielle Bergesysteme helfen. Wir haben in früheren Artikeln schon diverse Rettungskragen, das System von Catch & Lift und Bergenetze ausprobiert. Diese Hilfsmittel müssen nicht alle an Bord sein, aber zumindest eins, mit dem die Crew dann im besten Fall schon geübt hat.
Nicht vergessen sollte man die Lift-Schlaufe an der Rettungsweste. In diese Gurtschlaufe (es muss „Lift“ draufstehen, nicht einfach in irgendein Gurtband einhaken) kann ein Fall eingeschäkelt und die Person ohne weitere Hilfsmittel an Deck gewinscht werden. Mit einem Helfer im Wasser, wie im beschriebenen Fall, geht das auch ohne die Mithilfe des MOB. Der Nachteil ist aber, dass die Position aufrecht und mit vom Gurtzeug gequetschten Brustkorb nicht ideal für eine Person mit Unterkühlung ist. Seenotretter und Mediziner Jens Kohfahl hat deswegen ein Rettungsnetz an Bord. Es ist auf dem Aufbaudach am Handlauf angeschlagen und führt ausgebreitet über die Reling ins Wasser. So bietet es Halt, und es taugt auch zur waagerechten Rettung.
Ein hilfreiches Manöver ist das Beiliegen, so verschafft man sich Zeit für die Versorgung der unterkühlten Person. Alternativ geht das auch mit einem Autopiloten und langsamer Fahrt.
In jeden Fall lohnt es sich, Hilfe zu holen, denn der Zustand eines Unterkühlten lässt sich schwer einschätzen. Und selbst wenn man bei der Rettung viele Fehler vermeiden kann, einige Widersprüche lassen sich nicht auflösen. Der größte Fehler ist aber, die Wirkung kalten Wassers zu unterschätzen.