Kristina Müller
· 20.07.2022
Eine Notsituation auf See möchte niemand erleben. Gefeit ist man jedoch nicht davor. Erfahrene Fahrtensegler berichten, wie sie sich auf den Ernstfall vorbereiten
September 2020. Die Crew einer deutschen Yacht stellt auf dem Weg von England zu den Azoren einen Wassereinbruch fest, der mit Bordmitteln offenbar nicht unter Kontrolle zu bekommen ist. Sie ruft Hilfe. Ein Hubschrauber nimmt die drei Segler auf, das Boot wird sich selbst überlassen.
November 2021. Ein Crewmitglied einer französischen Yacht wird auf dem Atlantik tödlich vom Großbaum getroffen. Ein weiterer Mitsegler verletzt sich. Auch diese Crew wird abgeborgen.
Derart dramatische Fälle sind glücklicherweise die Ausnahme. Immerhin sei „Yachtsport eine der sichersten Freizeitaktivitäten“, schreibt Keith Colwell in seinem Buch „Sicherheit auf See – im Notfall richtig reagieren“. Dennoch: „Wie in jedem Sport, der uns an die Grenzen unserer Fähigkeiten bringt, gibt es ein Restrisiko an Unfällen und Verletzungen. Gut vorbereitet, fällt es uns leichter, mit Notfällen umzugehen, und erhöht signifikant die Chance, zu überleben“, so Colwell weiter.
Wie aber sieht diese gute Vorbereitung aus? Und vor allem: Wie können sich kleine Crews, sprich Paare, die einen Großteil der Fahrtensegler bilden, für den Notfall wappnen? Inwiefern müssen sie sich und ihr Schiff anders präparieren als große Crews?
„Nach oben gibt es bei dem Thema keine Grenzen“, sagt Dr. Jens Kohfahl, Allgemeinmediziner im Ruhestand, Seenotarzt und Eigner einer Nicholson 31 mit Heimathafen Cuxhaven. „Wenn man auf See geht, muss man sich Gedanken machen. Man braucht Plan B, C oder auch D. Dann kann man sich im Ernstfall auch helfen und muss nicht gleich von Bord gehen.“
Zwar gibt es schönere Dinge, als sich auf lebensgefährliche Situationen vorzubereiten wie Feuer, Wassereinbruch, den über Bord gegangenen Partner oder einen kapitalen Schaden am Boot. Dennoch gehört es zur Törnvorbereitung dazu.
Egal was passiert, zunächst einmal gilt es, Ruhe zu bewahren. „In den meisten Fällen bleibt ausreichend Zeit, um kurz zu überlegen, was zu tun ist“, sagt der britische Profisegler Chris Tibbs in seinem Workshop „Notfälle auf See“. Natürlich gebe es aber Situationen wie Mann-über-Bord oder Feuer, in denen die ersten Handgriffe intuitiv und sofort erfolgen müssten.
Problematisch für Zweier-Crews ist, dass in bestimmten Fällen nur einer übrig bleibt, um Maßnahmen zu ergreifen. Etwa wenn sich der andere verletzt oder gar über Bord geht. Dann muss man allein das Schiff führen, Hilfe rufen und sich zugleich um die Rettungsmaßnahmen kümmern. Eine Situation, die sich niemand wünscht.
Umso wichtiger, dass sich gerade kleine Crews zumindest auf Notfallszenarien vorbereiten, wie sie auf dieser und den folgenden Seiten beschrieben sind. Am Boot können zum Teil schon simple Maßnahmen wie der Einbau einer UKW-Funkanlage mit Tochtergerät am Steuer sinnvoll sein, sodass derjenige, der auf einmal Rudergänger und Retter in einem ist, auch den Funk bedienen kann.
Ist man zu zweit an Bord, kommt es zudem auf routinierte Abläufe an. „Natürlich ist es ein Unterschied, ob ein Paar schon lange zusammen segelt oder einer oder beide Neulinge auf dem Wasser sind“, weiß Jens Kohfahl. Wenn beispielsweise ein junger Eigner mit der neuen Freundin zum ersten gemeinsamen Urlaubstörn aufbricht, ist es trotz aller Euphorie umso wichtiger, dem Anfänger die Basics zu erklären: Wie wird die Maschine gestartet, wie das Funkgerät bedient, wo ist der Feuerlöscher?
Seit Jahren aufeinander eingespielt sind Bert und Marlene Frisch. Das Paar aus Oberndorf an der Elbe hat mit seinem Motorsegler „Heimkehr VII“ schon viele ausgedehnte Fahrtentörns unternommen. Die Vorbereitung auf verschiedene Notfälle an Bord ist den beiden dabei besonders wichtig. „Sicherheit auf See ist unser Hobby“, sagt Bert Frisch. Mögliche Notfallszenarien spielen sie immer wieder durch, wenn sie unterwegs sind. „Wenn gerade nichts anderes anliegt, fragen wir uns ab. Das ist mentales Sicherheitstraining.“
Bewährt hat sich das etwa, als Marlene Frischs Daumen auf einem Törn über die Nordsee von der schweren Tür zum Maschinenraum gequetscht wurde. Vorbereitet auf medizinische Vorfälle, konnte das Paar die Verletzung mit Klammerpflastern versorgen und die Reise fortsetzen.
Auch, dass sie gelegentlich üben, das Beiboot möglichst schnell zu Wasser zu lassen – „bei gutem Wetter in weniger als drei Minuten“ –, habe sich bereits bewährt, wenn auch nicht bei einem Notfall auf dem eigenen Schiff. Doch so habe man nachts am Ankerplatz mal einem anderen Segler, der beim Muring-Manöver über Bord gegangen war, schnell zu Hilfe eilen können.
Notrollen sind sinnvoll, um in solchen und anderen Fällen den nötigen kühlen Kopf zu bewahren und das Richtige zu tun. Die Checklisten für sechs verschiedene Szenarien sind dafür eine gute Grundlage. Es ist jedoch ratsam, für das eigene Boot individuelle Notrollen zu erarbeiten und regelmäßig durchzugehen.
Bert und Marlene Frisch plädieren darüber hinaus dafür, einen Lehrgang zum Thema Medizin und Sicherheit auf See zu besuchen, wie sie etwa von Seefahrtsschulen, privaten Anbietern oder von Trans Ocean angeboten werden. Jens Kohfahl stimmt zu: „Man kann nur jedem, der auf See geht, empfehlen, mal einen Überleben-auf-See-Kurs zu absolvieren.“
Optimal ist es, mit dem frisch erworbenen Wissen dann zeitnah und mit wachen Augen übers Boot zu gehen und die Sicherheitsvorkehrungen an Bord an die eigene Crew und deren Fähigkeiten und Möglichkeiten anzupassen. Dazu gehört auch, die Mitsegler richtig einzuschätzen.
Auf der „Heimkehr“ bedeutet das etwa, dass „niemand über Bord gehen darf“, so Bert Frisch. Die Oberndorfer sorgen daher konsequent vor: Auf See wird noch über der Reling ein hoher orangefarbener Spanngurt montiert. „Wir nennen es den Hochseezaun. Über Bord zu gehen wird dadurch bei uns sehr schwierig“, erklärt der Skipper.
Eine Automatik-Rettungsweste tragen beide immer, „auch beim An- und Ablegen!“, betonen sie. Für den Fall der Fälle haben sie ihre 150-Newton-Modelle mit jeweils einem AIS-MOB-Sender und einem Handfunkgerät ausgestattet. „Mit dem Funkgerät könnte die Person im Wasser das Boot zurückdirigieren.“ Zusätzlich würde der AIS-Sender bei Wasserkontakt auslösen und die Position des Schwimmers übermitteln. Damit dessen Kopf im Wasser besser gesehen würde, tragen beide auf See gern neongelbe Mützen.
Um den anderen wieder an Bord zu bekommen, wurde das Spifall mit einem Karabiner versehen, der zum Schwimmer herabgelassen wird. „Wir gehen bei dem Szenario davon aus, dass derjenige im Wasser mithelfen kann“, so Frischs. Eine weitere Überlegung für die Bergung besteht darin, die Rettungsinsel zu Wasser zu lassen. „Da kommt eine Person im Wasser durchaus rein, und von dort bekommt man sie auch wieder an Bord.“
„Niemand darf über Bord gehen!“, lautet das oberste Gebot auch auf Jens Kohfahls Schiff. Oft ist der Mediziner mit größerer Crew Hochseeregatten gesegelt, aber auch Familientörns oder zu zweit mit seiner Frau. Für den Fall, dass doch jemand ins Wasser stürzt, und sei es er selbst, hat er ein Rettungsnetz einsatzbereit an der Bordwand montiert. „Das müsste meine Frau nur hinabwerfen, Segel runter, Motor an – das sind die Basics.“ Er betont zudem, wie elementar wichtig ein Schrittgurt an der Rettungsweste ist: „Der ist essenziell, ohne ist das Ding wertlos!“
Darüber hinaus gehört vor allem nachts und bei rauer See eine Lifeline zum Einpicken an die Weste. Weitere Präventionsmaßnahmen für ein Mann-über-Bord-Manöver sind einsatzbereite Badeleiter, Rettungsring und Suchscheinwerfer, aber auch die regelmäßige Wartung und Kontrolle all dieser Ausrüstungsgegenstände.
Gerade für medizinische Laien ist Vorsicht die beste Vorsorge gegen Verletzungen und Unfälle, die einen Törn böse enden lassen können. Chris Tibbs rät in seinem Vortrag dazu, gerade diesen Punkt ernst zu nehmen und beispielsweise konsequent Schuhe an Deck zu tragen.
Jens Kohfahl geht einen Schritt weiter. Auf seiner Bordtoilette gebe es sogar einen Gurt, der einen bei Seegang davor bewahren soll, von der Schüssel zu fliegen und sich zu verletzen. Das von ihm überarbeitete Buch „Medizin auf See“ sei zudem eine gute Hilfe für Laien. Damit die Anleitungen darin im Ernstfall auch etwas nützen, sollte man es hin und wieder in die Hand nehmen und sich damit beschäftigen.
Zudem sei es ratsam, den Erste-Hilfe-Kurs aufzufrischen. Jeder sollte aber nicht nur wissen, wie man eine Blutung stoppt, sondern auch, wie man das Schiff beidreht, um sich in Ruhe um einen Verletzten kümmern zu können und weitere Maßnahmen einzuleiten. Kohfahl macht Mut: „Wenn jemand gefordert ist, dann fällt er nicht gleich um. Dann kann man mehr, als man denkt, und auch mal Blut sehen.“
Um schlimmen Verletzungen vorzubeugen, plädiert der Arzt dafür, bei schwerem Wetter durchaus einen Helm an Bord zu tragen. „Falls mal was von oben kommt“, sagt er im Hinblick auf das Notfallszenario „Mastbruch“. Sollte ein Want brechen, weil ein Terminal bricht, müsse sofort auf den anderen Bug gegangen werden. Das verschaffe wertvolle Zeit, um den Mast mit einem Fall zu sichern.
Kommt es tatsächlich zum Bruch, kann eine Rolle Dyneema beim Spannen eines Notriggs helfen. Da sie klein und leicht ist, findet sich selbst in vollen Backskisten dafür noch ein Platz. Beim Trennen des Riggs vom Rumpf rät der Sicherheitsprofi dazu, genau zu überlegen, welche Riggteile wirklich aufgegeben werden müssen oder was womöglich gerettet werden kann und als Equipment für ein Notrigg dient. Zum Durchtrennen von Drähten setzt er auf eine Hydraulik-Schere, das Ehepaar Frisch auf eine Akku-Flex. Um es gar nicht erst zum Mastbruch kommen zu lassen, gehört ein Rigg-Check vor dem Auslaufen und bei langen Schlägen auf See dazu.
Die Orca-Angriffe vor Spanien haben zuletzt ein weiteres Havarie-Szenario in den Fokus gerückt: Ruderbruch oder -verlust, daraus resultierende Manövrierunfähigkeit und im schlimmsten Fall sogar Wassereinbruch. Oft genannt wird in diesem Zusammenhang die Tür oder ein Bodenbrett, das als Notruder an den Spibaum geschraubt werden soll, um damit zu steuern. In der Praxis hat sich gezeigt, dass das funktionieren kann – aber nicht muss. Eine Alternative stellt Tibbs vor: Der Spinnakerbaum wird quer über das Cockpit geführt, an den Endbeschlägen ist über lange Leinen ein Treibanker befestigt. Durch das Bewegen der Spibaum-Enden soll die Yacht damit im Notfall gesteuert werden können.
Kohfahl setzt auf ein ähnliches Patent: Die Leinen am Treibanker kontrolliert er dabei über die Winschen, der Spibaum entfällt. Für den Fall des Pinnenbruchs hat der 68-Jährige einen Ersatz an Bord.
Kommt es – etwa infolge eines Schadens am Ruderkoker – zum Wassereinbruch von außen, beginnt ein Wettrennen gegen die Zeit. Bei der letzten Atlantic Rally for Cruisers wurde deswegen eine Yacht aufgegeben. Eine sinnvolle Aufteilung für kleine Crews kann sein, dass sich einer sofort auf Lecksuche begibt, während der andere Lenzpumpe und Maschine startet und sich um Funk und Manöver kümmert.
Einfache Maßnahmen für diesen Fall der Fälle sind eine saubere Bilge, ein Plan aller Außenborddurchlässe sowie die regelmäßige Kontrolle aller Schlauchschellen und vor allem des Zustands der Seeventile. Jens Kohfahl hat sogar einige Alubleche in der Backskiste, um diese falls nötig zum Abdichten eines Lecks in die Bordwand schrauben zu können.
Fast noch schlimmer als Wasser im Schiff ist Feuer an Bord. Bert und Marlene Frisch haben daher nicht nur eine allgemeine Notrolle für dieses Szenario, sondern unterteilen sie in die verschiedenen Schiffsbereiche, in denen ein Brand wüten könnte. Darin sind die Positionen der Feuerlöscher – insgesamt vier Paare aus Schaum- und CO2-Löschern – sowie die dringlichsten Handgriffe vermerkt. Der richtige Umgang mit den Löschern wird in Sicherheit-auf-See-Kursen geübt.
Schließlich nützt die beste Sicherheitsausrüstung nichts, wenn die Crew damit nicht umgehen kann. Sinnvoll ist es daher, sich vor der Saison mit allen Rettungsmitteln vertraut zu machen. Sei es, dass man die Bergeschlaufe auspackt oder die Gebrauchsanweisung auf dem Dichtmittel liest. Vor allem muss die Crew wissen, wo die rettenden Mittel sind. Ein Übersichtsplan kann wertvolle Sekunden sparen. Im Notfall muss alles schnell greifbar sein.
Bei der Ausrüstung des Bootes mit Sicherheitsequipment gilt Qualität vor Quantität. Am besten überlegt man gezielt, was der Crew auch wirklich nutzen würde. Die YACHT-Ausrüstungstests können dabei helfen. Wichtig ist ferner die Überlegung, welche Bordmittel bei welcher Art Notfall zum Einsatz kommen.
Natürlich gilt, dass in vielen Fällen schon Schlimmeres verhindert werden kann, wenn Segler die Grundregeln guter Seemannschaft beachten: Nur ausgeruht, richtig gekleidet und verproviantiert auslaufen und bei schlechter oder unsicherer Wettervorhersage im Zweifel gar nicht. Ein stürmischer Hafentag kann dann schließlich auch eine gute Gelegenheit sein, endlich mal wieder die Notrollen hervorzukramen und sie gemeinsam mit dem Partner durchzugehen.