von Eva-Maria Delfs
“Aloha heja he“ ertönt es aus den Boxen, eine Riege von dreißig Feiernden sitzen auf dem Boden, sie rudern zum Refrain des Songs von Achim Reichel, während noch einmal so viele um sie herumtanzen. Diskolichter erhellen den Raum im Takt. Die Stimmung ist ausgelassen und fröhlich – erstaunlich, denn es ist Mitte November und bei den Teilnehmern der Party handelt es sich um Segler, jene Spezies, die eigentlich nur dann richtig glücklich ist, wenn sie auf dem Wasser sein kann. Doch das „Ankerwochenende“ der Segelcommunity Soul Sailing Crew, an dem rund sechzig Segler aus ganz Deutschland das Ende der Saison 2022 feiern, findet in Brandenburg an der Havel bei bester Laune statt.
Wenige Wochen zuvor in Berlin: Mit der „After Sail Party“ steigt das Pendant einer anderen Segelcommunity namens Join The Crew. Schon zur Eröffnung am Freitagabend und der gemeinschaftlichen Bootsfahrt am Samstag kommen rund dreihundert Mitsegler, bei der Feier am Samstagabend sind es dann sogar über tausend. Wer nicht dabei sein kann, schaut sich später das Video auf dem Youtube-Kanal der Gemeinschaft an und erfährt im Abspann auch schon den Termin für die nächste Veranstaltung – die „Pre Sail Party“ im Mai.
Segelcommunitys wie diese gibt es noch nicht lange. Sie sind eine Mischung aus Yachtclub, Kojencharter-Agentur, Segelschule und nicht zuletzt Freundeskreis und Lifestyleanbieter. Ihr Angebot besteht in Mitsegelgelegenheiten auf gecharterten Yachten, richtet sich an junge Erwachsene, der seglerische Erfahrungshorizont ist Nebensache. Gemeinsam ist allen eine stetig wachsende Fangemeinde.
Auch die Saison-Abschlussveranstaltungen in Brandenburg und Berlin werden von Menschen zwischen Anfang zwanzig und Mitte vierzig besucht. Menschen, die sich vor ihrem ersten Segeltörn meist noch gar nicht kannten und die nach einer gemeinsamen Woche an Bord trotzdem bereits als Freunde fürs Leben an Land gehen.
Angebote wie die von Join The Crew und Soul Sailing Crew ermöglichen es, segeln zu gehen, ohne vorher einem Verein beizutreten oder eine Segelschule zu besuchen. Sie sprechen damit all jene an, die hohe Kurs oder Mitgliedsgebühren scheuen, weil sie noch gar nicht wissen, ob ihnen das Segeln überhaupt gefällt. Auch wer regelmäßige Verpflichtungen fürchtet oder das Segeln nicht zum Freizeitthema Nummer eins machen möchte, ist bei beiden Segelcommunitys gut aufgehoben.
Die Vorteile dieser neuen Art zu segeln sind vielfältig. Auf dem Urlaubstörn werden Segelhandgriffe und -begriffe eher spielend gelernt, sodass sich Novizen langsam an die verschiedensten Herausforderungen herantasten können, ohne gleich an einem Ausbildungstörn teilzunehmen, auf dem sie ganze Tage damit verbringen würden, Mann-über-Bord-Manöver zu üben.
Wird Neulingen etwa zu Beginn der Woche noch der Unterschied zwischen Wende und Halse erklärt, so gehen sie doch nach sieben Tagen mit soliden Segelgrundkenntnissen von Bord. Knoten, Abfendern und das Bedienen der Ankerwinsch gehören ebenso dazu wie die Erkenntnis, ob man fürs Bordleben gemacht ist oder nicht.
Und viele packt nach den Törns sogar der seglerische Ehrgeiz. Nicht selten wird anschließend nach den Voraussetzungen für den Sportküstenschifferschein gegoogelt oder danach, wo und wie man auch daheim wieder segeln gehen kann. Die Konzepte der neuen Segelcommunitys sind bei genauem Hinschauen unterschiedlich. Join The Crew beispielsweise ist ein reiner Reiseveranstalter, bei dem man sich auf der Homepage mit wenigen Klicks auf einen Törn einbuchen kann.
Bei der Soul Sailing Crew hingegen handelt es sich um eine Plattform, die private Segeltörns vermittelt. Interessenten durchlaufen vor dem ersten Törn ein Gespräch mit dem Skipper. Stellen sie gegenseitige Sympathie fest, kann gebucht werden. Mitsegler zahlen pro Törn dann 50 Euro als Verwaltungsgebühr. In den meisten Fällen werden die Yachten von den Segelcommunitys gleich für mehrere aufeinanderfolgende Crews – mithin für längere Zeiträume – gechartert, was einen Preisvorteil bedeutet, der an die Mitsegler weitergegeben werden kann.
Reiseveranstalter Join The Crew zahlt den Skippern ein reguläres Gehalt, sie sind somit gewerblich tätig. Bei der privaten Soul Sailing Crew hingegen werden lediglich die den Skippern entstehenden Kosten von der Bordkasse getragen, sie erhalten aber keine Gegenleistung für ihren Job. Gemeinsam ist den Segelcommunitys der Grundsatz Segeln mit Freunden. Im Kern geht es immer um die Liebe zum Meer und zum Segeln sowie um den Anspruch, an Bord eine entspannte und gelassene Art des Segelns zu vermitteln.
Populär sind Törns entlang der klassischen Routen im Mittelmeer beispielsweise in den Gewässern Griechenlands, in Kroatien oder Sardinien. Doch das Angebot ist noch weitaus vielfältiger. Im Hochsommer sind auch Törns in Skandinavien sehr beliebt. Und selbst so ausgefallene Reiseziele wie die Färöer und die Bretagne sind schon im Programm gewesen.
Veranstalter Join The Crew bietet inzwischen weltweit Törns an. Selbst das Fernweh nach Polynesien oder Thailand kann dabei gestillt werden. Die Angebote sind auf den jeweiligen Homepages zu finden. Dort kann dann auch entweder direkt gebucht oder Kontakt für die vorbereitenden Kennenlerngespräche am Telefon geknüpft werden.
Join The Crew wurde bereits 2007 von dem Soziologen Dominik Grotowski gegründet. Seine Idee entstand aus Mitseglermangel für eigene Törns und der Erkenntnis, dass es keine Plattform für junge Menschen gibt, die auf eine entspannte Art segeln gehen möchten, ohne an Vereine gebunden zu sein. So tingelte er zwei Wochen durch ganz Deutschland, um Werbung für Join The Crew zu machen, und hing Plakate an den Universitäten auf.
Heute beschäftigt er 14 festangestellte Mitarbeiter. Das Team arbeitet remote, also von wo auch immer sich die Mitarbeiter gerade aufhalten. Das Motto war von Anfang an „Mit vieeel Lieeebe“. Laut Grotowski steht das für ein „ehrliches, gelassenes und respektvolles Verhältnis an Bord, zu den Nachbarn in den Buchten und Häfen und zu Einheimischen und der Natur“. „Diese Werte haben mein Leben von früh an geprägt“, sagt Grotowski, der die Liebe zum Segeln und zur Natur durch den Vater gelernt hat.
Als Kind wurde er von seinen Eltern in den Ferien auf Segel- oder Naturfreizeiten geschickt, und als Praktikant in einer sozialen Einrichtung erfuhr er später, wie schwer das Leben für Jugendliche ist, denen Liebe und ein respektvoller Umgang fehlt. Das, so Grotowski, seien die Gründe für das Werte-Fundament von Join The Crew.
Die Soul Sailing Crew wurde von Victor Dominiak und Uwe Dierks gegründet. Der Diplom-Physiker Dierks leitet seither die Community. Auch wenn schon der Großvater zur See fuhr, hat ihn die Liebe zum Segeln erst 2014 richtig gepackt. Innerhalb kürzester Zeit macht er fortan bis zum Sportseeschifferschein alle Segelpatente und ist auch schnell als Skipper für Join The Crew tätig. „Aber“, so Dierks, „das reichte mir schon bald nicht mehr, ich wollte mein Leben ganz auf das Segeln ausrichten.“
Über Facebook sucht er 2015 Interessenten für seinen ersten eigenen Törn. Er kündigt seinen gut bezahlten Job, zieht nach Berlin und gründet 2017 die Soul Sailing Crew – eine Plattform für private Segeltörns mit neuen und alten Freunden.
Die Inspiration für den Namen Soul Sailing kam durch die Bekanntschaft mit einem Frankokanadier, der die Abende auf dem Boot mit einer Gitarre begleitete. Aus diesen Soul-Musik-Abenden an Bord und der Liebe zum Film „Soul Kitchen“ entstand der Name Soul Sailing Crew. Eine Gemeinschaft, die durch die Menschen zum Leben erweckt wird. Das spiegelt sich auch in der Struktur von Soul Sailing Crew wider. Bringen Skipper die erforderlichen seglerischen Fähigkeiten und eine passende Einstellung mit, dann gestalten und planen sie die Törns ohne große Vorgaben eigenverantwortlich.
Vor drei Jahren wurde das Angebot noch um die Soul Sailing Charter Agentur ausgebaut. Crews, die über die Agentur eine Segelyacht bareboat chartern, haben dann Anschluss an die Soul Sailing Crew.
Wer die Anhänger der neuen Bordgemeinschaften danach fragt, was diese besondere Form des Segelns ausmacht, bekommt Antworten wie die, dass der Umgang miteinander hier besonders entspannt sei. Dass sich etwa niemand verstellen müsse, um zur Besatzung zu gehören, sondern die Mitsegler so geschätzt würden, wie sie sind. Jeder könne seine Talente an Bord einbringen und trage so zum Gelingen des Törns bei. Der eine koche eben lieber, der andere sei an der Routenplanung interessiert, und umgekehrt könne nicht jeder gut reparieren.
Durch die räumliche Nähe auf dem Schiff entstünden außerdem innerhalb kürzester Zeit Freundschaften fürs Leben. Dazu trage bei, dass vom ersten Abend an Gespräche über die persönlichsten Themen des Lebens stattfinden. Und so ist auch diese Antwort auf die Frage danach, was so besonders sei, stets zu hören: die Menschen.
Damit ihre Mitsegler auch nach dem Törn von der ausgelassenen Stimmung und den neuen Freunden etwas haben, bieten die Communitys in vielen Städten regelmäßige Stammtische und andere Aktivitäten an. Join The Crew beispielsweise sponsert Jollen-Segelevents auf der Hamburger Außenalster, Mitglieder der Soul Sailing Crew organisieren private Wanderungen oder Segelevents, wie zum Beispiel ein Wochenende Katamaran-Segeln in Greifswald.
So wird jeder Mitsegler automatisch Teil eines Netzwerks im gesamten deutschsprachigen Raum. Wer in eine neue Stadt zieht, hat dort meist schon Segelfreunde, wie eine der Skipperinnen berichtet, die aus Norddeutschland nach München umsiedelte und dort spontan mit einem Willkommens-Grillabend empfangen wurde.
Denn die Freude am Feiern ist ein weiteres Merkmal der Segelcommunitys. Egal ob an Land oder an Bord. Begünstigt wird das dadurch, dass die meisten Törns als Flottillen stattfinden. Liegen die Boote abends nicht in einem Hafen, wird im Päckchen festgemacht. Alle können dann von Boot zu Boot steigen. Musikboxen und Diskobeleuchtung sind oft an Bord, Lichterketten sind Standard in jeder Skippertasche. So selbstverständlich, wie tagsüber gesegelt wird, ist das nächtliche Feiern im Cockpit, wenn nicht gerade der Wunsch nach einem ruhigen Abend dominiert, der mit Gitarrenmusik und Unterhaltungen im Schein der Sterne ausklingt.
Das Gefühl von Freiheit und das Naturerlebnis auf dem Wasser werden auch an Bord der Segelcommunitys als etwas ganz Besonderes erfahren. Spätestens in dem Moment, in dem der Wind die Segel füllt, der Motor ausgeschaltet ist und Ruhe einkehrt, ist der Alltag vergessen und niemand liest mehr E-Mails.
„In diesem Moment ist das Leben einfach nur schön, es gibt nichts Schlechtes“, sagt Jasmin, die schon seit vielen Jahren mit der Soul Sailing Crew segeln geht. Ein Gefühl, das besonders bei denjenigen, die zum ersten Mal an Bord sind, den gleichen starken Eindruck hinterlässt wie die großen Gänsehautmomente, wenn sie das erste Mal frei lebende Delphine oder exotische Destinationen zu sehen bekommen.
Typisch für die neuen Segelgemeinschaften ist, was dort mit Crewlove bezeichnet wird. Gemeint ist, dass der freundschaftliche Umgang miteinander an erster Stelle steht. Daraus folgt eine Art zu segeln, die auf den ersten Blick vielleicht nicht hundertprozentig dem entspricht, was in Deutschland Seemannschaft genannt wird.
Da sie von Umsicht und Fürsorge für die Crew geprägt sei, so die Anhänger, gehe diese neue Form des Segelns jedoch sogar weit über die herkömmliche Seemannschaft hinaus. Denn wer seine Mitsegler wirklich möge, der achte auch stets auf das Wohlergehen aller. Sie fühlen sich bestätigt durch Erfahrungen in Sicherheitstrainings wie dem World Sailing Offshore Training in Elsfleth, das auf dem Winterprogramm stand. Die Fürsorge untereinander hätte dazu geführt, dass alle Gruppen die Übungen effizient und mit größter Ruhe ausführten, wenngleich auch auf unkonventionelle Art.
So konnten zum Beispiel der Wellen und Unwettersimulator die Stimmung einer Soul-Sailing-Crew in der Rettungsinsel nicht trüben, weil, wie Mitseglerin Kathrin berichtet, gesungen wurde: „Um nicht seekrank zu werden, haben wir ‚Lemon Tree‘ angestimmt – wobei es etwas anderes ist, ob man wirklich in einer Notsituation ist oder im sicheren Wellenbad. Aber die Erkenntnis, dass Singen hilft und die Stimmung hebt, kann in einem Unglücksfall den Unterschied ausmachen.“
Natürlich gibt es auch bei Segelcommunitys Mindestanforderungen an ihre verantwortlichen Schiffsführer wie zum Beispiel den Sportküstenschifferschein und Segelerfahrung. Hinzu kommt in vielen Fällen das Erfordernis, eine hauseigene Skipper-Akademie zu durchlaufen. Einige setzen darüber hinaus auf Probetörns, bei denen neben dem Können auch Durchsetzungsvermögen, Konfliktlösungspotenzial und Charaktereigenschaften wie Ruhe und Ausgeglichenheit genauer angeschaut werden.
Zur Vorbereitung auf den Theorieteil dieser Prüfung werden Online-Kurse angeboten. Insgesamt gehe das Training weit über die Inhalte der Ausbildung zum Erwerb des Sportküstenschifferscheins hinaus. Insbesondere der Fokus darauf, in stressigen Situationen ruhig zu bleiben, führe dazu, dass es etwa das berühmte Hafenkino nicht gebe. Denn Skipper und Crewmitglieder kommunizierten auf eine ruhige, respektvolle, fast lautlose Art miteinander. Ein Manöver wird nach dieser Schule eher abgebrochen und in Ruhe neu gestartet, als mit aller Gewalt durchgeführt. Ernsthafte Unfälle gab es etwa bei Join The Crew und Soul Sailing Crew bisher keine.
Schon vor dem Törn beginnt die Kommunikation zwischen dem Skipper und seiner Besatzung. Nach der Buchung bekommen die Mitsegler Einladungen zu virtuellen Meetings und Zugang zum internen Crew-Chat, können sich hier austauschen und beispielsweise die gemeinsame Anreise organisieren. Neue Mitsegler finden die Segelcommunitys vor allem über die sozialen Medien und Stammtische.
Instagram wird typischerweise aktiv dafür genutzt, Bilder von den Törns zu verbreiten. Dadurch, dass die Crewmitglieder solche Beiträge teilen, wird das Angebot auch in ihrem Freundeskreis bekannt. Einige Gemeinschaften, wie Join The Crew, unterhalten daneben einen eigenen Youtube-Kanal. Oder sie bedienen sich anderer Medien, wie etwa die Soul Sailing Crew, deren Mitglieder regelmäßig von besonderen Törns in einem Podcast berichten. Schließlich können Interessenten ganz real Mitsegler der Communitys bei einem der zahlreichen Stammtische kennenlernen.
Führten die Segelcommunitys anfangs noch ein Nischendasein, darf heute getrost von einer neuen Form des Segelns gesprochen werden – beim Pionier Join The Crew sind über die Jahre bereits mehr als 30.000 Personen mitgesegelt. Eine hohe Frauenquote unter den Skippern zeichnet die Gemeinschaften ebenso aus wie die Tatsache, dass beim Alter auf Homogenität gesetzt wird. Join The Crew zieht derzeit eine Grenze bei Mitte vierzig, bei der Soul Sailing Crew achtet man darauf, dass die Mitsegler nicht wesentlich älter als fünfzig sind. Dadurch werden Konflikte, die, insbesondere bei der Abendgestaltung, durch unterschiedliche Interessen entstehen können, von Anfang an vermieden. Dass die Konzepte auf ihre jeweilige Weise funktionieren, belegen Wiederholer-Quoten von über fünfzig Prozent.
Weltweiter Anbieter von Segeltörns für „junge, aufgeschlossene Leute im Alter von 20–39 Jahren“
Professionell organisiertes Netzwerk zur Vermittlung privater Segeltörns für junge Erwachsene
Anbieter von Segelurlauben unterschiedlichster Art, in diversen Revieren und für unterschiedliche Zielgruppen
Kojenchartertörns im Mittelmeer und in der Karibik unter dem Motto „Aktiv-Reisen als Balsam für die Seele“
Reine Party-Flottillen-Törns mit internationalen Teilnehmern und Festival-Charakter
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Die Autorin Eva-Maria Delfs (Instagram) ist Juristin aus Berlin und segelt seit 2011. In ihrer Freizeit ist sie oft mit ihrer Varianta 65 auf den Brandenburger Gewässern unterwegs und nimmt regelmäßig als Skipperin oder Crewmitglied an Törns von Segel-Communitys teil, auf die sie vor vier Jahren durch einen Segel-Podcast aufmerksam geworden ist.