Wer an dem unscheinbaren, beige verklinkerten Haus im Elmshorner Vorort Kölln-Reisiek in der Nähe von Hamburg vorbeifährt und im Blickwinkel das kleine Schild an der linken Hausseite wahrnimmt, der mag dort alles mögliche vermuten. Eine Kinder-Tagespflege vielleicht oder einen Hinterhof-Versandhandel? Kaum jemand jedoch würde in diesem unscheinbaren Gebäude einen der ältesten Bootsbaubetriebe der Republik erwarten. Den gibt es seit mittlerweile über hundert Jahren.
Eigentlich beginnt die Bootsbau-Geschichte der Familie Hein sogar schon im 19. Jahrhundert. Tischler Johann Hein arbeitete in Wewelsfleth am Bau von Elbkuttern und übertrug die Handwerkstradition später an seinen Sohn Gustav. Als am Ende des Ersten Weltkriegs das Essen und Geld knapp, dazu Arbeit schwer zu finden war, musste Gustav Hein einen Weg finden, seine Familie zu ernähren. Was lag da näher, als sein Geld wieder mit Bootsbau zu verdienen? Als erste eigene Werfthalle musste damals zunächst ein ehemaliger Schweinestall herhalten. Darin begann Gustav Hein mit dem Bau von hölzernen und handwerklich hochwertig gefertigten Ruderbooten. Boote, die sich die von den Nachwehen des Krieges gezeichneten Schleswig-Holsteiner leisten konnten.
Schon bald darauf, im Jahr 1923, erhielt Hein erstmalig den Auftrag für eine Segeljolle. Er sollte ein Boot fertigen, das sich ein Kunde aus Glückstadt ganz nach seinen Vorstellungen zeichnen ließ, um sich damit einen kleinen Traum zu erfüllen. Der Auftrag barg für Gustav Hein ein gewisses Risiko, denn durch die Inflation änderten sich die Materialbeschaffungskosten täglich. Deshalb musste der Bau schnell gehen, damit er sich auch wirtschaftlich rechnen würde. Als einziger Mitarbeiter half sein Sohn Gustav junior.
Die Segeljolle, als Baunummer 1 in den Werft-Aufzeichnungen vermerkt, gewann schon bald die ersten Regatten, sodass sich schnell an der Küste herumsprach, dass das Boot „von Hein“ gebaut wurde. Hein senior hatte bereits im Jahr 1908 das Haus in Kölln-Reisiek gekauft, wo sich heute noch die Werft befindet. Damals allerdings noch ohne die Absicht, dort Boote zu bauen, doch der Garten war groß genug, um darin eine Halle zu errichten. Ein Gewerbe wurde angemeldet, und so begann die Geschichte des Segelbootsbaus der Familie Hein vor genau hundert Jahren. Eine Erfolgsgeschichte, aus der bis heute über 2.000 Boote hervorgegangen sind.
Doch bis sich eine Werft etabliert, dauert es einige Jahre. Die Familie Hein war nicht wählerisch, was die Annahme von Aufträgen anging. „Übernahme von Dacharbeiten, Überkleben und Teeren“ steht auf einem 1928 datierten Foto auf der Tafel an der Hauswand. Mit der Zeit jedoch trudelten immer mehr Bootsbestellungen ein. Und heute hängt dort nach wie vor ein Schild, auf dem „Hein Bootswerft“ steht.
In fünfter Generation ist Jürgen Hein immer noch mit der Werft verbunden, obwohl er die Geschäftsführung bereits vor einigen Jahren an Steffen Radtke und Max Billerbeck abgegeben hat. Die beiden gehören zwar nicht zur Familie Hein, wissen aber die Tradition und das bootsbauerische Erbe dieses etablierten Familienbetriebs mit Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit weiterzuführen. Noch immer segeln die Jollen von Hein in den Ranglisten ganz vorn mit.
„Ich glaube, das Geheimnis des Erfolgs unserer Boote ist einfach die Liebe und Genauigkeit, mit denen wir unsere Jollen bauen“, sagt Steffen Radtke. Massenfertigung ist dem Traditionsbetrieb fremd. Jeder Rumpf wird Leiste für Leiste und Matte für Matte von Hand gebaut, die alte Bootsbaukunst zelebriert. Damit die Boote am Ende genau das richtige Gewicht besitzen, wog Jürgen Hein bei der Entwicklung und Konzipierung eines neuen Modells sogar alle Einzelteile, bevor er mit dem Bau begann. „Viele Leute machen das genau andersherum: Sie bauen erst und merken dann, dass das Boot zu schwer oder zu leicht ist“, sagt Radtke. Doch bei Hein Bootsbau war das schon immer anders. Jeder Beschlag, jede Schraube ist wohl bedacht. „Das macht den Unterschied zu anderen Booten aus“, sagt Radtke.
Das war bereits Gustav Hein wichtig, als er mit den Ruderbooten begann. „Vor vielen Jahren bekam ich mal einen Anruf von einem Hotel in Schleswig-Holstein, dass sie ein paar Ruderboote von Hein haben, die mal überholt werden müssten“, sagt Steffen Radtke. „Also bin ich hingefahren, und tatsächlich: Die müssen damals zehn oder zwölf Boote gekauft haben, die mehr als 50 Jahre dort auf einem See unterwegs waren.“
Als im Jahr 1938 der Jollenkonstrukteur Carl Martens ein Preisausschreiben in der YACHT gewann, begann der Boots- und speziell Jollenbau bei Hein richtig Fahrt aufzunehmen, denn die neue „10 m² Einheits Jugendjolle“ war sehr gefragt. An dem Namen musste zunächst noch gefeilt werden, doch nach einem weiteren YACHT-Preisausschreiben hieß das Boot „Pirat“. Bis heute ist es das meistgebaute Schiff bei Hein, das Boot, mit dem sich die Werft einen Namen gemacht hat.
„Als wir den ersten GFK-Piraten gebaut haben, gab es auf den Regatten erst mal Ärger“, erinnert sich Jürgen Hein und holt aus zu einer Anekdote, von denen es in einer hundertjährigen Werftgeschichte natürlich viele gibt. „Den ersten GFK-Piraten segelten Andreas Haubold und Harald Wefers auf der Travemünder Woche 1975“, erinnert sich Jürgen Hein. „Sie segelten allen anderen Booten förmlich davon und holten sogar noch die letzten Zugvögel ein.“ Auch die YACHT schreibt in Heft 17/75: „Ihre fünf Siege in fünf Wettfahrten ließen sie schon selbst an der Korrektheit des Schiffes zweifeln.“ Prompt reichten die anderen Piraten-Segler einen Vermessungs-Protest ein, denn man ging davon aus, dass dieser erste GFK-Pirat um ein Vielfaches leichter war als die Holz-Modelle. Zweimal wurde er nachvermessen. „Alles war in Ordnung, völlig im Rahmen“, sagt Jürgen Hein. „Der Erfolg lag nicht nur am gut gebauten Boot, sondern auch daran, dass die beiden Finn- und OK-Jollensegler Haubold und Wefers einfach viel fitter waren als die anderen Piraten-Segler.“ Viele Jahre wurde der Pirat dann aus GFK mit einem Sperrholzdeck gebaut, bis sich das pflegeleichte GFK schließlich auch für die Decks durchsetzte.
„Ohne die roten Piraten wäre ich nicht hier“, sagt Radtke. Als Leiter der Jugendabteilung des Wyker Yacht Clubs war Radtke im Jahr 2010 bei Hein gelandet und hatte zwei Piraten in Auftrag gegeben. „Es gab bereits einen roten Piraten, deshalb sollte der Verein noch zwei Boote mit rotem Deck bekommen. Seit einigen Jahren bereits war Hein von Sperrholz- auf GFK-Decks übergegangen. „Als ich in die Werft gekommen bin, um mir die Boote anzuschauen, wunderte ich mich über die drei weißen Streifen auf der Seite des Decks“, erinnert sich Radtke. Da sagte man ihm, dass es beim Ausformen des Decks ein kleines Problem gegeben habe und deshalb Zierstreifen darüber gemalt wurden. Weil alle Boote gleich aussehen sollten, hatten alle Streifen bekommen. „Die heißen heute noch Föhr-Streifen und können als Extra bestellt werden“, sagt Radtke.
Doch der Zwischenfall mit dem Deck hatte weitere Folgen. „Die Boote waren ja als Schulungsboote gedacht, und wenn wir Niedrigwasser hatten, dann mussten die Kinder von den Stegen sehr tief an Deck springen“, erklärt Radtke, „deshalb war meine Vorgabe, dass das Deck auch solchen Sprüngen standhalten musste.“ Steffen Radtke und Jürgen Hein entwickelten zusammen ein neues, etwas stärkeres Deck für die GFK-Piraten. Aus dem gemeinsamen Projekt wurde eine Partnerschaft, dann die Übernahme der Werft. Heute ist Jürgen Hein noch häufig als Berater in der Werft, hat aber den operativen Betrieb mittlerweile an Radtke und Bootsbaumeister Max Billerbeck abgegeben.
„Von den Piraten bauen wir heute noch etwa zehn Stück pro Jahr“, sagt Radtke. 250 Arbeitsstunden dauert ein Neubau im Schnitt, mit eingerechnet die Teile, die vorproduziert werden, wie Ruderanlagen und Scheuerleisten. Doch die Bootswerft hat längst nicht nur Piraten, sondern eine deutlich größere Palette im Angebot. „Europe, Korsar, Jeton, Vaurien, OK-Jolle und Seggerling“, zählt Radtke auf, „seit Neustem auch die Dyas, den Contender, die H-26, die Teenie und die alte Klepper Fam.“ Letztere wurde der Werft von der Fam-Klassenvereinigung zugetragen. „Die Formen lagen zuletzt bei Gruben Bootsbau, aber dort wurde schon länger nichts mehr produziert. Also fragte uns die Klassenvereinigung, ob sie nicht die Formen kaufen und uns zur Verfügung stellen könnten, damit gelegentlich noch eine Fam bestellt werden kann und die Klasse nicht ausstirbt“, erzählt Radtke. Wie groß die Nachfrage sein wird, vermag er noch nicht abzuschätzen. „Von den anderen Booten, deren Formen wir haben, bauen wir im Schnitt aber noch eines pro Jahr.“
Der ständige Kontakt mit Segelprofis hat uns sehr geholfen, gute Boote zu entwickeln. Denn wer kann besseren Input liefern?”
Gern erinnert sich Jürgen Hein an die Experimentierzeit der sechziger und siebziger Jahre. „Zu der Zeit waren Christian und Thomas Jungblut ständig hier, haben mit meinem Vater Kurt Ideen und Verbesserungen durchgesprochen und einfach mal Sachen ausprobiert“, beschreibt Hein. „Die Jungbluts hatten Sperrholz-OK-Jollen, wollten aber einen Rumpf aus GFK haben, also hat Kurt eine Form dafür gebaut“, sagt Jürgen Hein. „Das waren damals sogar schon Sandwich-Bauten mit Schaumkern, allerdings gab es noch keine Vakuumpumpen.“ Stattdessen befüllte Kurt Hein Plastiktüten mit Sand und presste damit den Schaum auf das Harz. „Die Jungbluts kamen dauernd mit neuen Ideen, die hier umgesetzt wurden“, sagt Hein, „Das hat uns natürlich sehr dabei geholfen, gute Boote zu entwickeln. Denn wer kann besseren Input liefern als solche Segel-Profis?“
Ungewöhnliche Aufträge hat es in all den Jahrzehnten natürlich auch gegeben. „Kurt hat mal einen Fischerkahn gebaut und einige OK-Jollen als Ruderboote“, erinnert sich Hein. „Die ließen sich wirklich ausgezeichnet als Ruderboot nutzen.“ Aber für allzu abstruse Projekte war keiner der Werftchefs offen. Man wusste um die Kernkompetenzen und konzentrierte sich darauf.
„In den fünfziger und sechziger Jahren bauten wir aber auch viele Jollenkreuzer“, sagt Hein, „erst 15er, dann 20er und sogar 30er. Auch einige Kiel- und große Motorboote.“ Die Werft wuchs mit den Aufgaben. „Anfangs war die Halle mit einer Plane bedeckt, dann kam eine mobile Halle aus dem Zweiten Weltkrieg hinten dran. Wir brauchten Platz.“ Nicht immer jedoch entstanden die Boote komplett bei Hein. „Eine Zeit lang wurden hier auch Rümpfe ausgebaut“, erinnert sich Jürgen Hein, „zum Beispiel von Sommerfeld.“ In den langen Listen von Projekten findet sich ein ganz besonderes Boot : Ein Delfin-Kreuzer aus Stahl, Auftraggeber: Ernst-Jürgen Koch. Mit der „Kairos“ segelte das Eignerpaar in den Jahren 1964 bis1967 von Hamburg aus um die Welt.
Während Steffen Radtke den kaufmännischen Teil des Betriebs übernimmt, kümmert sich Bootsbaumeister Max Billerbeck um das Technische. Mit seinen 37 Jahren ist er bereits seit 22 Jahren dabei und verkörpert zugleich die Zukunft der hundertjährigen Werfttradition. „Als ich das erste Mal in der Werft war, hatte ich eine alte Europe und wollte mir eigentlich nur zeigen lassen, wie man sie repariert“, sagt Billerbeck. Ein zweiwöchiges Praktikum sollte helfen. Doch der Funke sprang über, und fortan war Billerbeck häufig in der Werft. „Immer, wenn ich eigentlich nur mal was fragen wollte, hieß es: ‚Bleib mal hier, du musst uns mal kurz was helfen‘“, erinnert er sich. Als bald darauf ein reparaturbedürftiger Pirat zum Verkauf stand, bekam Max sogar die Erlaubnis, das Holzlager zu nutzen, um ihn privat für sich zu reparieren.
Als ich ein Praktikum in der Werft absolviert habe, wollte ich mir eigentlich nur zeigen lassen, wie ich meine Jolle reparieren kann”
Sowohl das erlernte Wissen im Bootsbau als auch die Praxis mit den eigenen Booten trug Früchte in Billerbecks Segelkarriere, der später Weltmeister im Contender wurde. „Im Jahr 2004 begann ich meine Lehre als Bootsbauer hier im Betrieb“, ergänzt er. Eine Ausbildung, die er als Landesbester abschloss, was ihm ermöglichte, bereits ein Jahr darauf seinen Meister zu machen. Seit 2010 verantwortet Billerbeck als zweiter Geschäftsführer den bootsbauerischen Teil der Werft.
„In der Spitze hatten wir mal 15 Angestellte“, sagt Jürgen Hein. Das war zu den Blütezeiten des Jollenbaus, Mitte der achtziger Jahre. Heute backt die Werft kleinere Brötchen. „Doch im Januar bekommen wir eine vierte Gesellin“, ergänzt Radtke. „Ebenfalls eine Piraten-Seglerin.“ Selbst Segler zu sein ist für Radtke ein unbedingtes Muss, um bei Hein zu arbeiten. „Wir sind ja hier kein Winterlagerbetrieb, sondern wir bauen und optimieren Jollen nach Kundenwünschen. Da muss man schon ein Verständnis dafür haben, warum ein Beschlag an eine bestimmte Stelle muss.“
Neben Neubauten gehören Reparaturen zum größten Arbeitsfeld der Werft. Dafür nehmen manche Kunden lange Anfahrten in Kauf. „Ein Ehepaar ist gerade mit seinen zwei Europes extra aus Düsseldorf hierher getrailert“, sagt Radtke. „Viele unserer Kunden sind froh, dass es noch eine Werft gibt, die Ahnung von traditionellem Bootsbau hat und in der sie ihre Schätzchen reparieren lassen können.“