Es ist der 28. September 1920, als bei Abeking & Rasmussen in Lemwerder an der Unterweser die Leinen zur Jungfernreise der „Talisman“ losgeworfen werden. Werftchef Henry Rasmussen ist selbst an Bord. Für seinen Freund und Auftraggeber Rudolf Schröder hatte er im Vorjahr die Konstruktion der Kreuzeryacht angefertigt, die nun bei ihm entstand. Die 37 Tonnen schwere Gaffelketsch ist damals 18,60 Meter lang, trägt 189,70 Quadratmeter Segelfläche am Wind und hat zusätzlich Breitfock, Ballon und Spinnaker an Bord.
„Talisman“ ist der erste Bau, der bei A&R aus Stahl entsteht – und Schröder ist begeistert von seiner Yacht. Dennoch trennt er sich schon 1923 von ihr. In den ersten rund 80 Jahren ihres bewegten Lebens wird sie insgesamt zehn verschiedenen Eignern aus Deutschland, Dänemark und Schweden gehören und die Namen „Latona“, „Nairana“ und „Capricho“ tragen. Sie wird zwischen Ostsee und Mittelmeer gesegelt, ihr Rumpf um 1,40 Meter verlängert und das Gaffel- gegen ein Bermudarigg getauscht. Sie übersteht einige Rammings ebenso wie eine schwere Explosion an Bord und entkommt nur knapp einem Ende im Hochofen.
Sie überstand eine Explosion und entkam nur knapp dem Hochofen
1999 erwerben zwei Schweden die Stahlketsch auf Mallorca. Auch sie stecken noch mal viel Geld und Arbeit in eine Sanierung der Yacht und segeln sie unter ihrem Taufnamen mehrere Jahre auf dem Mittelmeer. Im Juli 2014 setzt ein Blitzschlag das Schiff in Stockholm in Brand. Doch die Versicherung weigert sich standhaft, den Schaden zu bezahlen, und so kommt „Talisman“ 2019 schließlich in die Hände des heutigen Eigners. Der Hamburger IT-Unternehmer wählt für die fällige Totalsanierung die HCC Bådeværft von Monica Fabricius in Marstal auf der dänischen Insel Ærø aus.
Grundlage des Auftrags ist es, die Historie der Yacht zu bewahren und dabei zu zeigen, wie sinnvoll eingesetzte Technologie helfen kann, vorhandene Ressourcen neu zu entwickeln.
Die wichtigsten Eckdaten sind schnell festgelegt: ein Elektromotor mit einer Leistung von 100 kW als Antrieb und ein elektrischer Bugstrahler mit 25 kW Leistung für bessere Manövrierfähigkeit. Beides gespeist aus einer Lithium-Ionen-Batteriebank, die durch einen Hydrogenerator und Solarpaneele mit erneuerbarer Energie aufgeladen wird. Alle verwendeten Materialien sollen möglichst nachhaltig sein.
Im Dezember 2019 kommt die Yacht auf eigenem Kiel nach Marstal. Zum Jahreswechsel wird sie von einem Mobilkran an Land gestellt, wo ein großes Zelt drum herum errichtet wird. Per CAD-Software erstellt die Kopenhagener Firma Hauschildt Marine 3D-Pläne der 20-Meter-Yacht, in denen am Rechner nun alle kommenden Arbeiten simuliert werden können.
Doch zunächst wird der Rumpf komplett entkernt. Alle historisch bedeutsamen Teile werden beschriftet, katalogisiert und eingelagert, wie es bereits mit den Riggteilen geschah. Aus dem Kiel wird der gesamte Ballast entnommen und gewogen, um möglichst genaue Informationen für den späteren Gewichtstrimm zu erhalten. „Als der Kiel leer war, waren wir positiv überrascht. Wir hatten hier einen deutlich schlechteren Zustand befürchtet“, erinnert sich Ole Jonge von der HCC-Werft, der gemeinsam mit Monica Fabricius die Sanierung leitet.
Im Unterwasserbereich besteht der Rumpf noch aus alten genieteten Blechen. Oberhalb der Wasserlinie befinden sich ausschließlich neuere Stahlplatten, die verschweißt wurden. Nur wenige der Bleche müssen ersetzt und einige ungenutzte Borddurchlässe verschlossen werden. Am Ende werden 1.700 „Nietköpfe“ aus Stahl auf die neuen Stahlbleche des Schanzkleides geklebt, um die Nieten-Optik von 1920 zu simulieren.
Als sich der Stapellauf der Yacht am 28. September 2020 zum 100. Mal jährt, macht Corona eine größere Feier unmöglich. Die Maßnahmen gegen die Pandemie werden zur größten Herausforderung der dreijährigen Sanierung. Sie sorgen bei nahezu allen benötigten Komponenten für Lieferengpässe und Preissteigerungen und bescheren darüber hinaus immer wieder Reisebeschränkungen.
„Da ‚Talisman‘ sehr kompakt ist, haben wir außerdem viel Zeit investiert, um alle benötigten Ausrüstungsteile in möglichst kleinen Abmessungen zu finden“, erklärt Projektleiter Jonge. „Als wir mit den Arbeiten begannen, gab es keinen Elektromotor auf dem Markt, der klein genug war und dabei die richtige Leistung hatte.“ Den elektrischen Antrieb wünscht sich der Eigner, da er dem motorlosen Originalzustand der Yacht am nächsten kommt.
Das stimmigste Antriebskonzept kann schließlich der deutsche Hersteller Torqeedo liefern. Dessen Deep Blue Hybridsystem bietet für große Segelyachten bis 120 Fuß Länge Antrieb und Energiemanagement mit perfekt aufeinander abgestimmten Komponenten aus einer Hand. Der Hochvolt-Elektromotor liefert eine kontinuierliche Eingangsleistung von 100 kW bei 360 Volt. Für den Betrieb des Motors steht das 360-V-Lithium-Batteriesystem zur Verfügung. Drei Deep-Blue-BMW-i3-Batterien werden dafür in der Schiffsmitte eingebaut; aufwändig gedämpft, um Erschütterungen zu vermeiden. Jede von ihnen hat eine Kapazität von 42,2 kWh. Eine der rund 1,7 x 1 Meter großen und 17 Zentimeter hohen Batterien allein wiegt 284 Kilogramm.
Da „Talisman“ von der internationalen Klassifikationsgesellschaft DNV klassifiziert wird, darf sie jedoch keinen rein elektrischen, sondern muss einen Hybrid-Antrieb haben. Dabei ermöglicht ein Dieselgenerator, dass die Batterien jederzeit nachgeladen werden können. Ein 50-kW-Generator im Vorschiff speist ins 360-V-Hochvoltsystem ein.
Wann immer möglich, sollen die Batterien aber direkt an Bord regenerativ aufgeladen werden. Dazu liefert ein Hydrogenerator Ladestrom. Ferner kommen Solarpaneele zum Einsatz, die an den Masten gehisst werden, wenn die Yacht vor Anker oder auf See in einer Flaute liegt.
Nachdem „Talisman“ frisch gesandstrahlt und mit einem weißen Primer-Anstrich versehen ist, beginnt im Frühjahr 2021 der Bau der neuen Inneneinrichtung. Sie wird nicht dem Originallayout von 1920 entsprechen, aber dennoch klassisch anmuten.
Im Vorschiff entsteht eine Crewkammer mit zwei Etagenkojen und eigenem kleinen Bad. Nach achtern schließen sich zwei Gästekabinen an Backbord und Steuerbord mit gemeinsamem Bad an. Mittschiffs sind an Steuerbord U-Sofa und Salontisch vorgesehen. An Backbord verstecken sich hinter Türen der hochwertigen Schränke ein Flachbildschirm und die Navigationsgeräte. Ebenfalls an Backbord folgt die modern ausgestattete Pantry. Im Achterschiff befindet sich die großzügige Eignerkabine mit eigenem Bad.
Das für den Innenausbau verwendete Red-Khaya-Mahagoni ist überwiegend weiß lackiert und mit Leisten im dunklen, rot-braunen Naturholzton abgesetzt. Einzelne Flächen im Naturholzton sorgen für Kontrast.
Der Rumpf wird aufwändig gespachtelt: glatt, aber doch so, dass der Baustoff Stahl noch zu erkennen ist. Anfang 2022 wird das neue Deck aus massiven Teakplanken verlegt. Die als Decke im Schiffsinneren sichtbaren Unterseiten sind vorab weiß lackiert worden.
Für das Deck und den Innenausbau der Stahlketsch werden große Mengen Edelholz verwendet. Teak und Mahagoni stammen aus zertifiziertem Plantagenanbau. Jede einzelne Planke, die in der Werft verarbeitet wird, ist nummeriert und ihre Herkunft nachvollziehbar. „Das scheint mir ein vertretbarer Kompromiss zu sein, auch wenn einheimische Hölzer natürlich noch nachhaltiger wären“, sagt der Eigner.
Im Sommer 2022 kommt der Hauptantrieb der „Talisman“ an Bord – die klassisch anmutenden Segel stammen aus der Ekko-Line von Elvstrøm. Der dänische Segelmacher stellt als Erster weltweit Segel aus Polyester her, das zu 100 Prozent aus recycelten PET-Flaschen gewonnen wird. Auch das Tauwerk an Bord besteht aus wiederverwerteten PET-Flaschen. Der Hamburger Ausrüster für Traditionsschiffe Toplicht brachte es 2019 unter dem Namen Greenline erstmals auf den Markt. Das lehnige und geschmeidige Doppelgeflecht in Naturfaser-Optik mit feinem grünen Kennfaden wird auf „Talisman“ für das gesamte laufende Gut verwendet.
Auch die Garne der 26-Millimeter-Festmacherleinen stellt der österreichische Tauwerkhersteller Teufelberger aus wiederverwertetem PET her. Für die Backstagen und Fallen wird hochfestes Tauwerk aus „GreenDyneema“ von Gleistein verwendet. Es stammt aus natürlich nachwachsenden Rohstoffen. Die Erdölkomponente Naphtha wird dabei im streng kontrollierten Massenausgleichs-Verfahren durch Bio-Naphtha aus nachhaltiger, zertifizierter Forstwirtschaft ersetzt. Auch beim Antifouling und dem Überwasseranstrich wird auf Umweltverträglichkeit der genutzten Produkte geachtet.
Ein gestecktes Ziel des Nachhaltigkeitskonzepts lässt sich allerdings nicht umsetzen. Der Markt bietet noch keine zufriedenstellende Biokläranlage für das Schwarzwasser auf einer Yacht dieser Größe, wie Eigner und Werft feststellen müssen. Deshalb erhält „Talisman“ – notgedrungen – einen Fäkalientank, der regelmäßig in Häfen abgepumpt werden muss. Trotz dieses „Rückschlags“ blickt Skipper Ingo Martens optimistisch in die Zukunft: „Ich habe den Eindruck, dass wir uns an einer Schwelle befinden. Das Thema Nachhaltigkeit im Yachtbau ist kurz davor, noch stärker an Gewicht zu gewinnen.“
Das Thema Nachhaltigkeit im Yachtbau ist kurz davor, noch stärker an Gewicht zu gewinnen.“ (Skipper Ingo Martens)
Ende August 2022 geht „Talisman“ das erste Mal wieder unter Segel. Sie trägt rund 190 Quadratmeter Segelfläche am Wind in ihrer Bermuda-Takelung, die 1959 erstmals zum Einsatz kam. Die von den schwedischen Voreignern vorhandenen Masten und Bäume aus Oregon Pine wurden aufgearbeitet, der massive Großbaum dabei deutlich filigraner gestaltet. Mit Klüverbaum hat „Talisman“ eine Gesamtlänge von 23,72 Metern. Ein 240-Quadratmeter-Gennaker wird die Segelgarderobe komplettieren.
Skipper Ingo Martens ist von den Segeleigenschaften der „Talisman“ auf Anhieb sehr angetan. „Sie segelt angenehm steif und verhältnismäßig trocken. Sie verhält sich auch sehr komfortabel und marschiert auf Halbwindkurs schnell mit sieben Knoten los.“
Und so steigt nach nur einer Handvoll Segeltagen schon die Vorfreude auf den Sommer 2023, in dem „Talisman“ zu einem ausgedehnten Ostseetörn aufbrechen soll. Doch vorher soll noch der Innenausbau fertiggestellt werden. Die Holzbootsbaukunst der Extraklasse wird um viele kleine liebevolle Details ergänzt: Die Lampen mit Porzellanlichtschaltern stammen ebenso aus dem Jugendstil wie die Griffe an den Schranktüren und Schubladen. Die verwendeten Stoffe für die gesamte Polsterung und die Kissen sind dem Art-déco-Stil der 1920er Jahre nachempfunden.
Für Wärme im Schiff sorgt eine elektrische Fußbodenheizung. Der Eigner kann sich nämlich auch Törns in die hohen nördlichen Breiten vorstellen. Über die Teilnahme an Klassikerregatten wird ebenfalls nachgedacht, wofür das ursprüngliche Gaffelrigg wieder an Bord kommen könnte. Eventuell wird „Talisman“ künftig auch mit Skipper zu chartern sein. Die nächste spannende Epoche in der faszinierenden Geschichte der Yacht beginnt gerade erst.
Mehr unter talisman-yacht.com