Die Große Bodstedter Zeesboot-Regatta. An der Kaimauer des Traditionshafens am Südufer des Bodstedter Boddens liegt ein besonders langes Zeesboot, das den Namen der Glücks- und Schicksalsgöttin der römischen Mythologie trägt. „Fortunas“ Rumpf zeigt einen hübschen Deckssprung und hebt sich mit seinem rustikalen schwarzen Anstrich von der weit verbreiteten Klavierlack-Optik ab.
„Früher wurden die Holzboote mit Firnis behandelt. Wenn der Rumpf dann mit der Zeit trotzdem grau und unansehnlich wurde, kam halt schwarze oder graue Farbe drauf“, erklärt Eigner Uwe Grünberg. Der Mann kennt sich aus mit Zeesbooten und setzt bei seinem auf Authentizität.
Die nussschalenförmigen, flachen Boote verdanken ihren Namen den sackförmigen Schleppnetzen, mit denen sie ehemals gefischt haben. Bei der sogenannten Treibzeesenfischerei trieben die Holzboote mit aufgeholtem Schwert unter back gesetzten Segeln quer zum Wind. Auf der Luvseite wurde während der Drift die Zeese über den Grund geschleppt. Lange Driftbäume an Bug und Heck der Boote hielten das Netz auf, an dem Auftriebskörper an der Oberseite und Gewichte an der Unterseite befestigt waren.
Als ältestes erhaltenes Zeesboot gilt die „Old Lady“, die von Fachleuten auf das Baujahr 1876 datiert wird. Sie ist heute ebenso in Bodstedt wie „Rerik“. Das weitestgehend original erhalten gebliebene Boot gehörte Fischer Reinhard Techel aus Rerik am Salzhaff. Techel zeeste damit noch bis 1990 gelegentlich. Dann verlängerte auch er seinen Erlaubnisschein nicht mehr. Zum Ende der 1970er-Jahre war das uralte Fischereigewerbe bereits bis auf wenige Ausnahmen, wie eben Techel, ausgestorben. Einige der gut segelnden Fischerboote wurden deshalb 1990 längst als Freizeitboote genutzt. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden die Fischereiproduktionsgenossenschaften (FPG) der DDR aufgelöst und zusätzlich Zeesboote aus der Fischerei durch modernere Boote ersetzt. Dadurch wuchs die Flotte der privat genutzten Traditionsboote weiter.
Zu jener Zeit traten die Zeesboote auch in das Leben von Uwe Grünberg. 1967 in Thüringen geboren, begeisterte ihn schon als Kind bei Ostseebesuchen der Geruch von Seeluft, Fisch, imprägniertem Holz, Tang und Teer. Er interessierte sich brennend für die Fischerei und die dafür genutzten Holzboote. Zur Dienstzeit als Funker bei der Marine kommt Grünberg 1986 nach Rostock. Er verliebt sich in Heike aus Stralsund und bleibt ganz an der Küste hängen. Das Ehepaar lebt heute im Rostocker Umland. Uwe Grünberg, der in der Mobilfunkplanung tätig ist, entdeckte damals die pommersche Boddenlandschaft und deren typische Boote für sich. „Die Boote, deren Rümpfe aus dem Naturmaterial Holz und deren Segel früher aus Baumwolle waren, fügen sich so perfekt in diese Landschaft ein.“
Auf der Insel Hiddensee fällt ihm das Buch „Zeesboote – Fischersegler zwischen Strom und Haff“ von Hermann Winkler in die Hände – das Standardwerk über Zeesboote. Aber warum ist die Liste der noch existierenden Boote nicht vollständig? Lassen sich zu den teilweise weit über hundert Jahre alten Booten nicht noch mehr Informationen und historische Fotos finden? Grünbergs Sammelleidenschaft ist entfacht.
Da dauert es natürlich gar nicht lange, bis er die Bodstedter Zeesboot-Familie Rammin kennenlernt. Nils Rammin, seines Zeichens Bootsbaumeister und Inhaber der Holzbootswerft Rammin in Barth, sammelt seit seiner Kindheit Daten von Zeesbooten. Grünberg und Rammin sichern fortan gemeinsam das noch verfügbare Material. „Wir müssen die interessanten Geschichten der Fischer, die selbst noch aktiv mit Zeesbooten unter Segeln gefischt haben, doch aufschreiben, bevor sie uns alle wegsterben.“ Grünberg führt Interviews, sichtet Archive, schreibt Texte. Und stellt 2005 seine Homepage www.braune-segel.de online.
Längst sind die Zeesboote zum wichtigsten Hobby geworden. „Es vergeht wohl kaum ein Tag, an dem ich nicht irgendetwas tue oder denke, was mit Zeesbooten zu tun hat.“ Da wächst verständlicherweise auch der Wunsch, selbst ein solches zu besitzen. „Ich hatte aber vom Segeln keine Ahnung. Ich dachte, man zieht das Segel hoch und muss dann nur noch lenken.“ Der Zeesboot-Fan macht zunächst den Sportbootführerschein See, dann darf er eines der Boote von Nils Rammin zum Üben nutzen. Zuvor fährt er als „Schwertaffe“ Regatten mit und schaut sich von erfahrenen Seglern möglichst viel ab. Bis heute ist er ausschließlich auf Zeesbooten gesegelt.
Im regen Vor-Regatta-Treiben in Bodstedt kommen ständig Freunde und Bekannte an Bord, von denen viele seit Jahrzehnten Zeesboote segeln. Grünberg fragt noch mal, ob der Gaffelschuh so richtig sitzt oder was ein alter Fischer davon hält, wie er die Klüverschoten führt. „Auf einem Zeesboot wird übrigens nie mit einem Kopfschlag belegt“, verrät der „Fortuna“-Eigner mit einem Grinsen. „Wenn du das trotzdem tust, etwa bei der Großschot, dauert es nicht lange, bis dir ein älterer Zeesbootsegler hinter die Ohren haut.“
Weit freundlicher ist da das immer mal wieder zu hörende Lob für die braune-segel-Homepage. Die bietet längst die umfangreichste Informationsquelle zu Zeesbooten. Das Herzstück des Internetauftritts bildet das offizielle Klassenregister der Zeesbootvereinigung in Bodstedt, zu deren Vorstand Grünberg gehört. Von 1977 bis heute wurden insgesamt 111 FZ-Nummern an Zeesboote vergeben, die den Klassenvorschriften entsprechen. Zu jedem registrierten Boot von FZ 1 „Old Lady“ bis FZ 111 „Lisette“ gibt es auf der Homepage eine „Registrierkarte“ mit allen verfügbaren Bootsdaten, Informationen zur Historie und zum Bau- und Erhaltungszustand des Bootes sowie aktuelle und historische Bilder.
Doch wie kam Uwe Grünberg zu seiner „Fortuna“? 2012 klingelt – mal wieder – das Telefon. Längst vergeht keine Woche mehr ohne Fragen zu seinem Zeesbootarchiv. Diesmal ist die Praktikantin eines Flensburger Vereins dran. „Wir suchen einen Nachfolger für ein ehemaliges pommersches Zeesboot. Der Pflege- und Erhaltungsaufwand für das reparaturbedürftige Fahrzeug wird uns zu hoch.“ Bis Oktober 2013 dauern die Formalitäten wie ein Notarvertrag, dann wird „Fortuna“ auf einem Tieflader zur Rammin-Werft nach Barth gebracht. Es folgt die nötige Generalüberholung des Bootes, die die gesamten Ersparnisse des Ehepaars Grünberg verschlingt. „Da haben wir zum ersten Mal in unserer Beziehung ein Projekt durchgezogen, hinter dem wir nicht beide gleichermaßen standen. Dafür bin ich Heike sehr dankbar“, erzählt Grünberg.
1965 konnte der junge Ekkehard Rammin acht Fischer zu einer Wettfahrt mit ihren Fischerbooten auf dem Bodden überreden. Fischer Helmut Lange aus Pruchten gewann mit seiner PRU. 3 (heute FZ 71). Zur 53. Auflage starteten 2017 insgesamt 44 Boote in der Großen, Mittleren und Kleinen Klasse. Die älteste Regatta der inzwischen sechs Wettfahrten umfassenden Serie ist längst ein touristischer Höhepunkt der Region.
Die Wettfahrt der Zeesboot-Regatten startet grundsätzlich samstags um 13 Uhr. Freitag und Sonntag sind für An- und Abreise der Regattateilnehmer vorgesehen. Nach der Siegerehrung für die drei Bootsklassen am Samstagabend zwischen 18 und 19 Uhr wird öffentlich gefeiert.
Jährlich am zweiten Septemberwochenende findet das Versuchsfischen statt. Der „Verein der Zeesner“ führt dies auf dem Saaler Bodden zum Zwecke der Traditionspflege durch. Dabei wird mit den Zeesbooten „Paula“, „Sannert“, „Richard D.“ und „Bernstein“ die traditionelle Fischereitechnik demonstriert, die jahrhundertelang auf Haff und Bodden ausgeübt wurde. Das Zeesboot driftet quer vor dem Wind und zieht das Grundschleppnetz (die Zeese) auf der Luvseite nach. Interessierte können auf den Booten mitfahren.
Der Neu-Eigner verbringt von Oktober 2013 bis September 2014 jede freie Minute auf der Werft. In rund 1000 Stunden Eigenleistung lernt er sein Boot bis in den hintersten Winkel kennen. Von einem der ehemaligen Eigner, dem inzwischen 85-jährigen Fischer Erwin Kagelmacher, bekommt er einen guten Tipp: „Du musst eine Beziehung zu solch einem Boot aufbauen, musst auch mal mit ihm reden und mit der Hand darüber streichen. Das muss ja nicht unbedingt jemand sehen.“
Der Betonballast wird entfernt, der 12,60 Meter lange Rumpf komplett überholt und konserviert. Der Achtersteven erneuert und 26,50 Meter Planken am Achterschiff ausgetauscht. Deck und Rumpf werden abgedichtet, ein neues Motorfundament gebaut sowie Maschinen- und Wellenanlage erneuert. „Fortuna“ bekommt einen neuen Schwertkasten, und ihr achtern vorhandener Loskiel wird entfernt. Ruder und Ruderaufhängung werden umgebaut, der Segelbalken rekonstruiert und die typisch pommersche Ketsch-Takelung aufgeriggt.
Als „Fortuna“ im September 2014 an der 50. Großen Bodstedter Zeesboot-Regatta teilnimmt, ist das Ehepaar Grünberg am finanziellen Limit und Uwe Grünberg körperlich ausgebrannt. „Bereut habe ich den Kauf trotzdem nie.“ „Fortuna“ ist nämlich nicht nur irgendein Zeesboot. Es ist der letzte erhaltene Rumpf eines noch ohne Motor gebauten Flunderbootes. Auf diesen seetüchtigen Fischerseglern, angeblich den größten an der vorpommerschen Küste, wurden nach 1900 Scherbretter verwendet, um das Zeesnetz über den Grund zu ziehen. Auch hatten die Flunderboote im Unterschied zu den Boddenbooten eine andere Bauform und nur einen Mast. An dem wurden Gaffelgroßsegel, Gaffeltoppsegel, Stagfock und teilweise auch noch ein Klüver gefahren. Zwar waren sie auch auf Kielsohle mit Mittelschwert gebaut und bis zum Mast eingedeckt. Aber sie hatten einen erhöhten Rumpf, einen größeren Fischraum und waren mit einem Schanzkleid versehen.
Wagemutige Fischer segelten damit über die offene Ostsee, um im dänischen Grönsund Flundern zu fangen. „Fortuna“ wurde im Jahr 1910 auf der Bootswerft Jarling in Freest gebaut. 1945 legte der damalige Eigner, Fischer Robert Röber, sein Flunderboot in einem Kanal auf und verkaufte es erst 1952 für den stolzen Preis von 2000 Mark an den Fischer Erwin Kagelmacher. Der baute den Rumpf zum wesentlich robusteren vollgedeckten Motorkutter um.
Ab 1955 fischte Erwin Kagelmacher mit seinem Kutter (mit dem Fischereizeichen STR. 6) zunächst auf eigene Rechnung in der Ostsee, vor dem Darß und Hiddensee. Dann musste er der Fischereiproduktionsgenossenschaft beitreten. Mit ein Grund für Kagelmacher, aus der DDR zu flüchten. Am 6. September 1960 lief er wegen angeblicher Maschinenprobleme Burg auf Fehmarn an und blieb im Westen. Da Ladekapazität und Motorisierung für die Seefischerei zu klein waren, wurde das Boot im Jahre 1961 stillgelegt. Das Ende der Fischereigeschichte des Flunderbootes.
Der Motorkutter mit Kajütaufbau wurde fortan als Sportfahrzeug, Wohnschiff und für Hochseeangelfahrten genutzt. Nach mehreren Eignerwechseln und Umbauten kam der mittlerweile rotte Rumpf 1986 von Tönning in den Museumshafen Flensburg. Die Zeit in Tönning ist in Grünbergs Archiv noch ein „großes schwarzes Loch“, zu dem er Informationen oder Fotos sucht. Der Rumpf wurde in Flensburg entkernt, konserviert und zunächst eingelagert. Von 1997 bis 2007 rekonstruierte die Museumswerft Flensburg „Fortuna“. In den Jahren 2007 und 2008 wurde das Fahrzeug innerhalb eines TV-Projektes des Kinderkanals KI.KA auf der Museumswerft fertiggestellt und an den Kinder- und Jugendhilfe Verbund GmbH Kiel übergeben, der Uwe Grünberg als Nachfolger ausfindig machte.
An Bord seines Flunderbootes bittet Grünberg nun in die kleine Vorschiffskajüte, Vorünner genannt. Zwei schlichte Kojen, ein kleiner Holzofen. Das ist es auch schon. Hier lebten der Schipper und sein Macker während der bis zu acht Tage langen Fangreisen. Das Ehepaar Grünberg spannt heutzutage bei Urlaubstörns im Hafen eine Kuchenbude über die Gaffel. So ergänzt die geräumige Plicht den sehr begrenzten Lebensraum unter Deck erheblich. In der Mitte der Plicht sitzt der Schwertkasten mit dem leichten Holzschwert. Vorderer und hinterer Segelbalken halten die Masten. Beidseits sorgen Backskisten aus Kunststoffplatten mit Holzdeckel für Stauraum.
In der Plicht liegen Bangkirai-Dielen. „Das Holz hätte ein Fischer sicher auch genommen, wenn er es damals bekommen hätte“, ist Grünberg sicher. Er hebt eines der Bodenbretter an. Darunter liegen 1,4 Tonnen Innenballast in Form von alten, zerschnittenen Grabsteinen, die Mitsegler und Steinmetz Holger Waack beigesteuert hat. „Wenn das so mancher abergläubische Fischer wüsste.“ Die optimale Schwimmlage eines Zeesbootes mit wenig Lateralfläche wird durch Ballast hergestellt. Der ist umso wichtiger, da die mit Wasser gefüllten Fischkästen von den Booten entfernt und leichtere Motoren eingebaut wurden. Auf vielen Booten wurde als Ausgleich unter dem Sohlkiel eine zusätzliche Stahlsohle angebracht, die gleichzeitig Schutz bei einer Grundberührung bietet.
„Das Boot muss mit dem Hintern tief ins Wasser, um den Lateralplan zu vergrößern. Dann segelt es besser am Wind“, erklärt Grünberg. Seine Crew für die nicht wirklich verbissen gesehene Regatta ist an Bord angekommen. Die heute startenden 44 Zeesboote spiegeln die Vielfalt der Fischereisegler wider. Die Arbeitsboote waren ständig technischen Veränderungen und Neuerungen ausgesetzt, um konkurrenzfähig und fahrtüchtig zu bleiben. Deshalb befindet sich keines der noch während der Zeit der Zeesenfischerei gebauten Fahrzeuge mehr im Urzustand. Außerdem ist jedes Zeesboot ein Unikat. Einige wurden weitestgehend original zurückgebaut. Andere um ein bis drei Planken erhöht und mit mehr oder weniger harmonisch ins Erscheinungsbild passenden Decksaufbauten zum komfortableren Fahrtenboot umfunktioniert.
Es gibt Boote mit Klippersteven, Rundgattheck und kraweeler Beplankung. Andere sind geklinkert, haben ein Spitzgattheck und konvexen Steven. Die typische breite Rumpfform und das traditionelle Rigg der Ketsch blieben dabei unverändert erhalten. So bieten die Boote bei einer der Regatten doch ein einheitliches Erscheinungsbild.
Für die „Fortuna“ ist an diesem Tag lediglich der 20. Platz von 26 Booten in der Großen Klasse drin. Uwe Grünbergs Plan, Spaß zu haben und weitere Erfahrung im Umgang mit seinem Boot zu sammeln, geht dennoch auf. Zufrieden läuft er nach dem Zieldurchgang zurück in den Hafen von Bodstedt – seinem Heimathafen. „Andere Häfen wären für mich schneller zu erreichen. Aber hier fing schließlich in den 1960er-Jahren der aktive Erhalt der ehemaligen Fischereisegler und das Regattasegeln an. Deshalb wollte ich unbedingt im Traditionshafen Bodstedt liegen.“
Nils Rammin plant aktuell ein Fischereimuseum am Hafen. In der Zeesbootszene wird Wert auf die Fischereitradition gelegt. Oder wie es Uwe Grünberg ausdrückt: „Ein Zeesboot zu haben ist für mich nicht Statussymbol, sondern Verantwortung. Ich bin dafür zuständig, dieses Boot als Teil der Fischereigeschichte für die nächste Generation zu erhalten.“
Dieser Artikel erschien erstmals in YACHT 18/2018 und wurde für diese Online-Version aktualisiert.