Lasse Johannsen
· 03.04.2023
Der Klassiker „Germania VI” ist heute ein besonderes Ausbildungsschiff. Dass er überhaupt noch fährt, ist ein kleines Wunder. In diesem Jahr feiert er seinen 60. Geburtstag. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir eine Reportage von vor zehn Jahren, als die YACHT bereits zum 50. Jubiläum an Bord war. Auch wenn viele Personen von damals heute nichts mehr mit dem deutlich veränderten und verjüngten Verein zu tun haben, die Yacht hat nichts von ihrer Besonderheit verloren
„Vorleine los und ein!“ Unter dem sonoren Brummeln ihres 160 PS starken Mercedes-Benz-Diesels schiebt sich die mintgrüne „Germania VI“ aus dem verträumten Stadthafen von Neustadt. Es ist noch nicht viel los, und nur die Morgensonne scheint zu beobachten, was vor sich geht. Kurz darauf liegt die Einfahrt achteraus, die Segel stehen.
Ruhe kehrt ein, der Blick schweift über Deck, und die Gedanken wandern aus. Manchen Yachten wohnt ein Zauber inne. „Germania VI“ ist so eine Yacht. Schon ihr Anblick, der eigentümlich hellgrün schimmernde Rumpf, die Kontraste von lackiertem Mahagoni, strahlend weißem Aufbau und blitzendem Chrom an Deck, wirken einzigartig. Und auch sonst hebt sich das Schiff in mehrfacher Hinsicht ab.
Da ist die außergewöhnliche Entstehungsgeschichte der letzten Yacht des Großindustriellen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, da ist eine Gästeliste, die sich liest wie das „Who’s who“ aus Wirtschaft und Politik. Und da sind die bis zu 15000 in jedem Sommer gesegelten Seemeilen, die der Ausbildung des seglerischen Nachwuchses dienen. Grund genug, ihrem Wesen bei einem Tag an Bord einmal etwas genauer nachzuspüren.
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„Hooool dicht!“ Skipper Dr. Michael Schädlich, an Bord nur „Mike“ genannt, ruft seine Kommandos in wohldosierter Lautstärke über Deck. Er steht eingeklemmt zwischen dem weiß glänzenden Besanmast und der verchromten Steuersäule, eine Hand in der Tasche, eine am lackierten Ruderrad, und blickt aufmerksam zum Großmast. Vier Mann fallen dort ins Tauwerk ein, ein fünfter holt die Lose über die Winsch durch und belegt das Fall.
Dann fällt Schädlich ab, das Groß bekommt den leichten Druck der aufkommenden Brise aus Südwest zu spüren, und die Crew macht sich daran, die Genua dichtzuholen. Vier Mann haben mittschiffs an Deck am Grinder Platz. Als sie sich ins Zeug legen, erfüllt das blechern widerhallende Knarren der Kaffeemühlen das gesamte Schiff.
Schnell wird klar: Bei aller Prominenz dient „Germania VI“ vor allem zum Segeln. Sie kommt elegant, aber zurückhaltend daher. Und vielleicht ist genau das ihre größte Besonderheit. Denn Superlative zeichnen das Leben der Krupp-Yacht aus, noch bevor es beginnt.
Dass es 1963 zum Stapellauf der sechsten Yacht ihres Namens kommt, hängt mit einer Familientradition zusammen. Als Gustav von Bohlen und Halbach vor dem Ersten Weltkrieg in das Essener Stahl-Imperium einheiratet, möchte der ehrgeizige Jurist sein Profil schärfen und nicht nur als der Gatte einer Krupp-Tochter wahrgenommen werden. Er tut es, indem er den Kaiser herausfordert. Und zwar auf dessen liebstem Spielplatz, der See. Als Erster vertraut der neue Krupp dem heimischen Konstrukteur Max Oertz und nennt seine auf der eigenen Werft im Kieler Reichskriegshafen gebaute und damit von der Kielsohle bis zum Flaggenknopf deutsche Yacht „Germania“. Majestät wird damit regelmäßig versegelt.
Sohn Alfried erbt die Leidenschaft des Vaters. Für die Teilnahme an den olympischen Segelwettspielen 1936 lässt er sich einen Achter bauen. Mit „Germania III“ gewinnt er unter Skipper Hans Howaldt eine Bronzemedaille. Im Jahr 1951 gibt Krupp eine Fahrtenyacht in Auftrag. Die stählerne, mit 13 KR vermessene Rasmussen-Konstruktion „Germania V“ wird 1955 fertiggestellt. Krupp segelt mit der Yawl ausgedehnte Reisen nach Schweden, aber auch Regatten – Nordseewoche, Kieler Woche und schließlich Rennen über den Atlantik.
Die Hochseesegelei gefällt Krupp derart gut, dass er sich eine neue Yacht wünscht, die leichter sein soll und für Transatlantikregatten optimiert. Er möchte seine gesammelten Erfahrungen und Wünsche einfließen lassen.
Krupp beauftragt das amerikanische Erfolgsbüro Sparkman and Stephens mit der Konstruktion. Er nimmt, ganz der studierte Ingenieur, an der Entstehung seines Traums von der ersten Sekunde an intensiv teil. Jedes Detail lässt er sich im Entwurfsstadium erläutern. Der Unternehmer zeigt Experimentierfreude und kann seine Begeisterung für alles technisch Neue ausleben. So stimmt er zu, als man bei S&S vorschlägt, statt mit Krupp-Stahl aus Aluminium zu bauen. Neuland. Zwar ist bereits 1955 bei Böhling die 17-Meter-Hochseeyacht „Kormoran“ mit diesem Leichtmetall beplankt worden, „Germania VI“ aber wird vollständig aus Alu geschweißt, als erste Hochseeyacht der Welt.
Es ist bemerkenswert, dass Krupp seine neue Yacht radikal dem Zweck unterordnet. Was da entsteht, wird kein Repräsentationsobjekt für seine Firma, kein luxuriöses Gefährt für den Urlaub, kein männliches Statussymbol. Richtig wohl fühlt sich der Lenker eines Firmenimperiums als Teil seiner Amateurcrew an Bord. Und so entsteht eine moderne Mannschaftsyacht für das Segeln auf hoher See. „Das deutsche Kraftwerk“ werden amerikanische Konkurrenten die in Ducolux-Hellgrün 88-8 lackierte Schöne später nennen.
Immer noch zeugt neben der eigentümlichen Farbgebung der rote Greif, das Wappentier derer von Bohlen und Halbach, von dieser Vergangenheit. „Cave Grypem“, „Nimm dich vor dem Greif in Acht“, steht mahnend unter dem roten Fabeltier, das sich auf dem Rennstander wiederfindet, auf den blauen Crewpullovern oder auf dem Geschirr.
Auch geblieben ist dem Klassiker sein Wesen. Heute zeigt es sich bei 24 Knoten Wind von der besten Seite. Voll und bei läuft die gewaltige 22-Meter-Yacht unter leisem Blöken des Kickers mit zehn Knoten und Schaum vor der Nase der Sonne entgegen. Die Crew ist in Hochstimmung, es ist der erste Törn der Saison, wie in jedem Frühjahr ist einiges neu. In diesem Winter wurde die Wellenbremse ausgebaut und erstmals ein Drehflügelpropeller montiert, der nach einigen Anlaufschwierigkeiten jetzt vor allem unter Segeln zeigt, was er kann. „Das bringt sicher einen Knoten“, sagt Schädlich, der sich noch gut an das bei solchen Geschwindigkeiten qualmende Gummi der alten Wellenbremse und die Geräuschkulisse einer mitdrehenden Welle erinnern kann.
Der Skipper schaut ins 30 Meter hohe Rigg. Es ist bereits das dritte. Die Abmessungen aber sind original. Gewaltig. Allein die Wantenschoner könnten auf einer 30-Fuß-Yacht als Spinnakerbaum dienen. Auch die Segelgarderobe ist gigantisch. Um die mehr als 40 Tonnen Bootsgewicht zu beschleunigen, stehen so seltene Tücher wie ein Besan-Spinnaker zur Verfügung, allein das Großsegel misst 120 Quadratmeter, die Genua 160 und der Spinnaker gar 300. „Auf den Schoten können vier Tonnen Zug lasten“, sagt Schädlich und erklärt, dass es an Bord daher zu den ersten Lektionen gehört, wie man eine Schot unfallfrei fiert. Denn bis heute werden die Segel auf dem Klassiker „Germania VI“ selbstverständlich weder hydraulisch noch elektrisch bedient.
Auch sonst befindet sich der Klassiker nahezu im Originalzustand, ein kleines Wunder. Denn ein Orkan verwüstete im August 1989 das Schiff im Heimathafen Kiel-Düsternbrook zum wirtschaftlichen Totalschaden. Die „Germania VI“ schlug über Stunden mit dem Heck auf die Beton-Einfassung der Uferpromenade, und die auf ihre Bordwand drückenden Nachbarlieger taten ein Übriges.
Nach einer Totalsanierung durch die Böbs-Werft in Travemünde, die einem Neubau gleichkam, präsentiert sich die Yacht wieder wie nach dem Stapellauf. Der Gang unter Deck gleicht einer Zeitreise. Im Kartenhaus befindet sich neben den zeitgenössischen Instrumenten noch die Schwachstromtechnik der sechziger Jahre. Ein aus Holz lamellierter Haltegriff aus der Essener Straßenbahn legt Zeugnis von der Detailverliebtheit und Herkunft des Ersteigners ab. Unter den Bodenbrettern befinden sich Antriebsdiesel, Generator, Heizung, jede Menge Technik.
Im Durchgang zum Salon hängen kaum zu zählende Teilnehmerplaketten hochklassiger Regattaveranstaltungen, bei denen der heutige Klassiker „Germania VI“ und ihre Vorgängerin gestartet sind. Allein aus den Lebzeiten Krupps zeugen sie von drei Bermuda-Rennen, zwei Wettfahrten von Buenos Aires nach Rio de Janeiro und zwei Transatlantikregatten in den Jahren 1960 und 1966.
An Steuerbord befindet sich die Funkbude. Mit Kurz- und Grenzwelle, DSC-fähigem UKW-Funk, Satellitentelefon und Inmarsat-Faxgerät kann die Verbindung zur Außenwelt jederzeit hergestellt werden.
Im Salon dann eine kleine Abweichung vom ursprünglichen Zustand: Die Schotten sind nicht mehr elfenbeinfarben bemalt, sondern mit hellen Furnieren verkleidet, an der Steuerbordseite verbirgt sich dahinter eine alkofenartige Koje. Bilder erinnern an Krupp und die erste „Germania“. Vor dem Salon zwei Kammern, die Kombüse und das Reich des Bootsmanns.
Mittlerweile ist es elf. Die Uhr schlägt drei Doppelglasen, das lockt die eingeweihten Crewmitglieder in die Plicht. Es gibt eine „medizinische Maßnahme“. Heute besteht sie aus einem trockenen Sekt mit einem Spritzer Aperol. Ein beliebtes Ritual mit hohem Wiedererkennungswert. Man kommt ins Klönen. Viel „Weißt du noch“ macht die Runde und verrät, hier ist Teamgeist zu Hause. Das verbindet die Mitsegler. Wie die überhaupt zusammengewürfelt sind, fragt ein Gast. „Wir verwalten uns selbst“, erklärt Schädlich das Crewkonzept der Ausbildungsyacht. Es gebe keinen Verein, in den man eintreten müsse, und keine Jahresbeiträge, die zu leisten seien. Mitsegeln dürfe grundsätzlich jeder.
Hintergrund ist die Bestimmung der „Germania VI“. Ihre Eigentümerin, die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung, setzt das Schiff gemäß dem Wunsch des Stifters zu Ausbildungszwecken ein. Der seglerische Nachwuchs soll das Hochseesegeln als Mannschaftssport im Sinne bester Seemannschaft erlernen, wie es schon zu Zeiten des Ersteigners geschah.
Kuratoriumsvorsitzender Berthold Beitz, er war Krupps Generalbevollmächtigter, wacht bis heute persönlich über diese Zweckerfüllung. Beitz, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiert, bespricht noch immer jede Jahresplanung mit Chef-Skipper Schädlich, hält Kontakt zum Bootsmann und geht zur Kieler Woche an Bord, um sich vom guten Zustand der „Germania VI“ zu überzeugen.
So kam auch Smut Jörn Kirchhübel zu seinem Job. Der 48-jährige Naturwissenschaftler aus Norddeutschland ist seit zehn Jahren dabei. „Meist wächst die Crew durch Mund-zu-Mund-Propaganda“, sagt Kirchhübel. „Da kennt jemand einen, der kennt wieder einen, und so war das auch bei mir.“ In der Kartei sind Mitsegler aus dem gesamten Bundesgebiet verzeichnet, die verschiedensten Berufe sind vertreten. Mit dem heutigen Thyssen-Krupp-Konzern hat keiner von ihnen etwas zu tun. Für Nachwuchs sorgt ein Ausschuss. Der 26-jährige Johannes Stüber gehört ihm an. „Wir sind zu sechst und sorgen dafür, dass junge Leute in die Crew hineinwachsen“, sagt er. Es gebe Patenschaften und Crewtreffen, und wenn Reisen nicht voll besetzt seien, werde auch schon mal hinterhertelefoniert.
Interessenten bewerben sich mit einem seglerischen Lebenslauf und werden dann eingeladen. Einmal in die Crew aufgenommen, müssen alle die gleichen Formalien einhalten. Pro Tag ist eine Pauschale zu leisten, die alles umfasst, bis hin zur Verpflegung. Im Januar wird der Fahrtplan auf einer internen Internetseite veröffentlicht, und die Mitsegler können sich verbindlich anmelden. Nach der Zusage sollten sie aber nicht allzu oft wieder abspringen; wer nicht zuverlässig ist, wird nicht wieder mitgenommen.
„Die ‚Germania VI‘ ist ein bekannter und gut erkennbarer Klassiker“, sagt Schädlich. „Wo wir auftauchen, nimmt man meist auch von uns Kenntnis.“ Wer auf der Krupp’schen Yacht zur Crew gehört, muss sich daher vor allem gut benehmen. Diese Grundvoraussetzung sei wohl auch eines der Erfolgsrezepte, so Schädlich. Seit 1971 ist er an Bord, einen echten Streit hat er in all den Jahren auf „Germania VI“ noch nicht erlebt.
Die Crew besteht üblicherweise aus 13 Mann. In den rund 110 Betriebstagen im Jahr kommen auf diese Weise etwa 150 Segler an Bord, 1800 sind es insgesamt schon gewesen. Frauen gehören bis heute nicht zur Crew. Dafür üblicherweise neben dem Skipper zwei Wachführer, ein Vorschiffsdirektor, ein Navigator, ein Funker, ein Spieß, der ein Auge auf die innere Führung hat, ein Smut, meist ein Bordarzt und natürlich Bootsmann Günter Bunke. Auch für den 72-Jährigen gibt es in diesem Sommer ein Jubiläum zu feiern: Er ist seit 30 Jahren an Bord. In Vollzeit. Im Sommer wie im Winter.
Denn wenn die „Germania VI“ im Herbst von Kiel nach Travemünde verholt wird, wo sie bei der Böbs-Werft ins Winterlager geht, bezieht Bunke auf dem Gelände ein kleines Zimmer und geht frühmorgens schon vor den Arbeitern auf sein Schiff. Und wenn die Bootsbauer sich nach Hause aufmachen, ist er meist noch ein Weilchen beschäftigt.
Eine einsame Zeit? „Nein“, sagt Bunke, eher so eine Art Abschalten nach dem Kommen und Gehen der vielen Besatzungsmitglieder im Sommer. Es sei seine Familie, so Bunke. Es fällt leicht, ihm das zu glauben. Denn weiter erzählt der bärtige Mann, dass er seit seinem ersten Arbeitstag während jeder gesegelten Seemeile an Bord war, bis auf eine kurze Abwesenheit wegen Krankheit. Und er erzählt von den vielen Reisen, die er auf diese Weise gefahren ist, entlang der westafrikanischen Küste oder 1992 zu den Olympischen Spielen nach Barcelona. „Ein Traumberuf“, sagt er. Auf die Frage, was in der Rückschau das Schönste daran sei, muss Bunke nicht lange nachdenken: „Wir sind immer wieder heil nach Hause gekommen.“
Hinweis: Dieser Artikel erschien im Jahr 2013 in der YACHT. Alle Datumsbezüge wie Altersangaben beziehen sich auf das Jahr 2013.