„Vinson of Ant­arc­tica“Eine beeindruckende Expeditionsyacht

Alexander Worms

 · 10.04.2023

Eine Urgewalt als Schiff. Überall Leinen, geschütztes Cockpit und viel Lebensraum
Foto: Bertel Kolthof
Die „Vinson of Antarctica“ im Detail

Die „Vinson of Antarctica“ ist eine beeindruckende Expeditionsyacht. Sie steckt voller ausgeklügelter Systeme und vieler spannender Details

„Der nächste Wassersport­laden ist 900 Meilen weit entfernt von ihrer Heimatbasis“, erläutert Kapitän Kenneth und fügt hinzu: „Und es ist nicht mal ein guter.“ Obendrein werde es in einem normalen Zubehörladen schwerlich Equipment in der passenden Dimensionierung geben.

Auf der „Vinson of Antarctica“ sei alles ein klein wenig größer. Anlass seiner Aus­sage ist ein Rocna-Anker, der mit seinen 110 Kilogramm noch originalverpackt in der Vorpiek liegt und gegen den der Besuch gerade mit seinem Fuß gedonnert ist. „Ist Reserve.“ Aha. So ein Ding kostet immerhin rund 5.000 Euro.

Wo man sich auf der Expeditionsyacht auch umschaut, alles spricht, nein, schreit eine Sprache: Abgeschiedenheit, Eis, extreme Segelbedingungen. Das ist gleichsam gut so wie nachvollziehbar, denn ihre Heimatbasis ist Puerto Williams am unteren Ende Chiles, die südlichste Stadt der Welt. Und von dort gehen die Reisen noch weiter nach Süden. Und da kommen außer der berüchtigten Drake-Passage nur noch Südgeorgien und die Antarktis. Dort ist es zwar unwahrscheinlich schön, aber eben auch unwahrscheinlich unwirtlich, wenn man Pech hat.

Die „Vinson of Antarctica” ist für Abenteu(r)er gemacht

Und die „Vinson of Antarctica“ muss dort nicht nur Eignern mit unendlich viel Zeit das Überleben ermöglichen, sie muss dort auch Fahrpläne einhalten und Geld verdienen. Sie ist keine Yacht, sie ist ein Berufsschiff. „Wissenschaftler, Filmemacher und auch Touristen sind unsere Zielgruppe. Dabei soll sie vor allem eine Basis für Ausbildung und Forschung sein. Die Reisen mit zahlenden Gästen sollten im Idealfall die laufenden Kosten decken“, berichtet Skip Novak. Der fünfmalige Weltumsegler und Whitbread-Veteran hat mit seinen „Pelagic“-Yachten den Grundstein für dieses Schiff gelegt, das von den Projektbeteiligten „VoA“ genannt wird.


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Novaks Erfahrung mit Reisen in die hohen Breiten haben den Entwurf maßgeblich geprägt. Er war der Projektleiter, er wird das Management des Schiffs übernehmen, und er hat den Geldgeber im Hintergrund überzeugt, den Neubau anzugehen. Gesehen oder gesegelt hat er sein Schiff noch nicht. Covid hat das verhindert.

Die Expeditionsyacht ist für viel Wind konstruiert

Seine Augen und Ohren vor Ort gehören Kapitän Kenneth. Der hat mittlerweile die guten Segeleigenschaften bestätigt. Und auch bei der Ausfahrt auf dem IJsselmeer zeigt sich das Alutrumm von einer durchaus erfreulichen Seite: Frische 5 Beaufort wettert die „VoA“ mit Vollzeug kaltblütig ab. Dazu sagt Novak: „Gute Performance bei leichtem Wind ist ja so ein Steckenpferd von Kon­strukteuren. Darauf legen wir aber überhaupt keinen Wert. Da, wo wir fahren, ist entweder ganz viel oder gar kein Wind. Und dann müssen die Motoren ran, denn wir haben ja einen Fahrplan. Dahingehend mussten wir den Konstrukteur echt überzeugen, ein Schiff zu ersinnen, das bei wenig Wind eben nicht sonderlich gut fährt.“

Der Entwurf ist also auf viel Wind aus­gelegt. Verständlich. Das zeigt sich auch im Segelplan der Expeditionsyacht. Die Segelfläche verteilt sich Schoner-gemäß auf zwei Masten, dabei wirken die Carbonstengen eher gedrungen. Am vorderen Mast warten Genua, Fock und Kutter. Die Tuchfläche lässt sich also bestens an alle Bedingungen anpassen.

Die 20 Knoten am Testtag wettert sie mit Genua, Groß und Besan ab. Dabei fühlt es sich am Steuer so an, als ob auch weitere zehn Knoten keine Probleme bereiten würden. Allerdings: Um abzufallen, muss der Besan gefiert werden. Das ist irgendwie erfreulich, zeigt es doch, dass auch bei einem Nassgewicht, also mit vollen Tanks, von 65 Tonnen durchaus aktives Segeln und gefühlvolles Steuern gefragt sind.

Trotz ihrer Größe macht das Segeln Freude

Apropos Steuern: Natürlich wäre es leicht gewesen, der Expeditionsyacht eine hydraulische Übersetzung vom Rad auf den Quadranten zu verpassen. Allerdings hat man sich für eine Kardan-Verbindung entschieden. Die Folge: Man spürt das Boot. Nein, das ist kein Tippfehler. Böen sorgen für Druck, man kann anluven und nicht unbedingt agil, aber doch durchaus mit einiger Freude an der Windkante entlangklettern. Fahrfreude im Omnibus – das ist unerwartet.

Wer nicht über zwei Meter groß ist, steht irgendwo neben dem Steuer und sieht nichts von dem, was vor dem Schiff passiert. Der Blick über den Deckssalon ist nicht möglich; nur die Windfäden der Genua sind sichtbar. Das Problem: Kapitän Kenneth erreicht nicht mal 1,80 Meter. Die Werft hilft und schweißt ein Podest, auf dem er hinter dem Steuer stehen und sehen kann, wo er hinfährt. Nett.

Auf dem Weg zurück zur Werft legt der Wind noch eine Schippe zu. Das enge Fahrwasser gen Makkum ist bei Nordwind nicht besegelt. Es wird gekreuzt. Erstmals segelt die „VoA“ auf dem untiefen IJsselmeer. Die kleinen Zahlen auf dem Echolot bereiten der Crew sichtlich Unbehagen. Die Wenden dauern einen Moment, da die Genua das Kutterstag zu passieren hat. Dazu muss sie eingerollt werden. Da das Schiff gänzlich ohne E-Unterstützung gefahren wird, ist das eine ziemliche Plackerei. Genug gesehen also. Viel Wind kann sie, ziemlich gut segeln auch, obwohl das gar nicht der Fokus des Entwurfs war. Die Ergonomie bei der Arbeit an Schoten und Fallen ist vorzüglich.

Die beiden Yanmar-Diesel schieben das Schiff leise Richtung Liegeplatz. Auf moderne Common-Rail-Technik hat man bei ihnen bewusst verzichtet, sie ist zu fehleranfällig. Dies stört in der Antarktis ungemein.

Unter Deck der Expeditionsyacht warten viele spannende Details

Zeit, sich unter Deck umzusehen. Aber wo soll man anfangen? So viele spannende Details. Anders als das Vorgängerschiff „Pelagic Australis“, das unlängst an Greenpeace verkauft wurde, hat die „VoA“ einen festen Kiel mit integriertem Schwert; „Australis“ hatte einen Hubkiel. Die Folge: Mitten zwischen den Gästekabinen steht der Kielkasten. Der entfällt jetzt, dadurch werden die Kabinen breiter und mithin luxuriöser. Die Niedergänge sowohl in die Schlafgemächer vorn als auch in die Messe achtern gerieten eher wie Treppen daheim. Steil? Nein, denn das passt nicht auf bewegter See – zu groß die Verletzungsgefahr.

Überall, und das ist nicht übertrieben, sind Handläufe. Insgesamt 82 Meter hat die Werft auf der Expeditionsyacht montiert. Damit die Strecken kurz bleiben, auf denen nichts am Weg steht, woran man sich festhalten kann, kann in der Messe achtern sogar ein Netz gespannt werden. Im Decks­salon sind zwischen Boden und Decke leiterartige Rohrkonstruktionen installiert. „Wir nennen sie Zimmer-Frames“, so Novak. Dem Angelsachsen sind diese Vorrichtungen als Gehhilfen für Gebrechliche bekannt. Passt irgendwie, denn gehen ist nur noch schwer möglich, wenn die „Zimmers“ wirklich benötigt werden.

An Bord der Expeditionsyacht ist für alles gesorgt

Die Sitzgelegenheiten in der zweiten, speziell für die Kommunikation eingerichteten Navi-Ecke im Salon achtern haben klappbare Armlehnen. Auf den Tischen sind kleine Hülsen eingelassen. Sie passen genau zu Pins unten an den Körben für Essig, Öl, Pfeffer und Salz; ein Klick, und alles steht sicher auf den Tischen. Eine 15 Zentimeter hohe Umrandung fasst die Pantry ein. So bleiben Lebensmittel und Teller auch bei Lage und Seegang an Ort und Stelle. Die Spülbecken sind selbstverständlich extra tief, da schwappt nichts raus.

Der Herd mit nur zwei Platten ist entlang der Längsachse montiert. Er schwingt nach Steuer- oder Backbord und wird mit Gas befeuert. Induktion, angesichts der Akkugröße und des üppigen Generators durchaus möglich, kommt nicht in Frage. Das Schiff muss auch ohne jede Elektrik noch fahrbar bleiben und einen Überlebensraum bieten. Deshalb fiel die Entscheidung für Gas. Deshalb auch der große Dieselofen in der Messe und keine elektrischen Winschen.

Die „Vinson of Antarctica” ist sicher und gut durchdacht

Stichwort überleben: Dass die Expeditionsyacht fünf wasserdichte Abteilungen hat, versteht sich fast schon von selbst. Die Kojen sind entweder mittels Flaschenzug kippbar oder haben ein Leesegel. Auch hier eine Besonderheit: Es gibt keine Crewkabinen; die Besatzung bewohnt schlicht eine der Gästekammern. Keine Trennung, alle sind eben wichtig. Eine Eignerkammer gibt es erst recht nicht. „Das ist gut für den Spirit untereinander auf den oftmals langen Reisen“, weiß Novak. Auf diese Stimmung wurde geachtet: „Es gibt viele Rückzugsorte – der Salon, der Deckssalon, die geschützte Plicht und eben die eigene Kammer. Wer mal allein sein will und Ruhe sucht, findet die“, so der Vordenker des Projektes. Das Leben unter Deck ist daher – irgendwie erwartbar – auch bei Schietwetter recht angenehm. Letztlich genau die Auf­gabe eines Schiffes: Egal was draußen los ist, innen soll es Geborgenheit bieten. Nur zu gern möchte man das auf der 24-Meter-Yacht einmal ausprobieren.

Auch an Deck lässt es sich gut aushalten. Bestens geschützt wacht es sich unter dem hinteren Ende des Deckssalons. Zwei Schiebeluken erlauben den aufrechten Gang bis an die niedrige Tür zum Inneren des Schiffes. Die ist deshalb so klein, damit sie auf See lange offen bleiben kann. Wenig Wärme­verlust und die geringere Wahrscheinlichkeit, dass Wasser den Weg nach innen findet, sprachen für diese Lösung.

An Bord kann schnell reagiert werden

Die Schiebeluken zieht man zu, wenn Wellen bis dort rollen könnten. Man mag sich gar nicht vorstellen, durch welches Inferno sich das Schiff seinen Weg bahnen müsste, damit das überhaupt passieren könnte. Der zentrale Arbeitsplatz, an dem viele Leinen bedient werden und der Auskunft gibt über die Befindlichkeit der Motoren und die Position, liegt ebenfalls unter der Cockpitüberdachung – bestens in Sicht vom Rad aus. Der Steuermann hat von dort übrigens auch Zugriff auf Groß- und Besanschot und kann somit nötigenfalls auch allein schnell Ausweichmanöver einleiten, durchaus wichtig, wenn man in Gewässern unterwegs ist, in denen mal ein Growler oder ein Wal auf Kollisionskurs liegen kann.

Die weit nach achtern gezogenen und hohen Sülls bieten ebenfalls ein großes Maß an Sicherheit. Die riesigen Winschen oben auf den Umrandungen sind von beiden Seiten gut im Stehen zu bedienen. Das ist auch erforderlich, denn zum Dichtholen der Genua braucht es bei Wind trotz dicker Trommeln gleich vier kräftige Arme. Das gilt auch für den Grinder vor dem Deckssalon. Dort wird das Groß gesetzt und wenn nötig gerefft.

Auch der Bereich vor dem Salon ist mit einem Süll umrandet, auch dort lässt es sich sicher arbeiten. Kommt es jedoch ganz dicke, wird das Schiff lediglich mit Vorsegel und Besan gefahren. Beides ist direkt aus dem Cockpit bedienbar, sodass die Crew geschützt bleibt. Um Verwechslungen der vielen Leinen auszuschließen, sind diese farblich markiert. Rot ist jeweils die größte Stufe oder das größte Segel, wie die Genua. Eine Stufe kleiner ist es grün, danach blau. Das gilt gleichermaßen für Vorsegel und die Reffstufen von Groß und Besan. Verwechslung? Eigentlich unmöglich.

Die Expeditionsyacht beeindruckt auch auf technischer Ebene

Ein Wort zum Reff: Die Reffleine läuft unter der Reffkausch nochmals durchs Segel, sodass das überschüssige Tuch automatisch beim Einreffen gebändigt wird. Sehr praktisch. „Als wir das auf Wunsch von Skip Novak bestellt haben, sagte der Segelmacher: ‚Ah, ein Skip-Reff‘, ohne zu wissen, dass das Schiff tatsächlich für ihn gefertigt wurde“, berichtet Werftchef Eeuwe Kooi aus der Bauzeit.

Der fährt übrigens ganz entspannt mit auf dem Testschlag. Werft und Auftraggeber verstehen sich auch am Ende der Bauphase noch bestens. „So soll es sein“, sind sich Kapitän und Werftchef einig.

Als die Expeditionsyacht wieder vor der Werft liegt, wird es Zeit, das Herzstück eines solchen Vehikels zu bewundern: den Maschinenraum. Durch eine wasserdichte Tür direkt vom Salon aus zugänglich, beherbergt er die zwei Yanmar-Diesel, einen Generator, die Zentralheizung und jede Menge weitere Technik.

Natürlich ist das Kraftstoffsystem mit diversen Filtern und einem Tagestank auf maximale Redundanz und Funktionssicherheit ausgelegt, Handpumpe inklusive. Alle Auslässe auf dem kompletten Schiff enden in Stehrohren weit oberhalb der Wasserlinie. Ebenfalls selbstverständlich sind die Bunker riesig und produziert die „VoA“ ihr eigenes Trinkwasser. Auch das kann übrigens per Fußpumpe aus dem Tank befördert werden, ohne Strom eben.

„Vinson of Antarctica” ein starkes Projekt

Die Art und Weise der Projektierung und des Baus zeugen mithin von großer Erfahrung. Da das Schiff unter der Ägide von Skip Novak ebenso gemanagt werden wird, ist anzunehmen, dass der Weg zum Ausrüster in den nächsten Jahren nicht auf dem Törnplan stehen wird. Zumal der das passende Teil ohnehin nicht haben wird.

Mitfahren ist kein Problem, etwas Zeit und das nötige Budget vorausgesetzt. Derzeit sind Reisen nach Südamerika schwierig und immer mit Quarantäne im Hotel verbunden. Daher konzentriert man sich zunächst auf Forschungsgruppen, die das in Kauf nehmen. Danach aber sind zahlende Gäste an der Reihe. Ein vierwöchiger Trip kostet knapp 20.000 Euro pro Person. Das ist teuer, aber einzigartig. Die „Vinson of Ant­arc­tica“ trägt ihren Teil dazu bei.

Technische Daten „Vinson of Ant­arc­tica“:

  • Konstrukteur: Tony Castro
  • Werft: KMY, Makkum
  • Gesamtlänge: 23,52 m
  • Breite: 6,31 m
  • Tiefgang: 2,15–4,30 m
  • Spantabstand: 0,40 m
  • Gewicht: (leer/beladen) 49/65 t
  • Segeltragezahl (leer/bel.): 4,4/4,0
  • Baukosten: 3,6 Mio. Euro