Fridtjof Gunkel
· 11.12.2022
Yachtheck, Pinnensteuerung, niedriger Freibord, geringe Breite und ovale Fenster: Die Tide 36 aus der Werft MFH in Emden sucht ihresgleichen im Markt. Das Boot von Yachtdesign v. Ahlen im Exklusiv-Test bei YACHT
Willkommen zurück! Mit der Tide 36 wendet sich MFH in Emden wieder eindrucksvoll der Yachtbranche zu. Der Betrieb, dessen Kürzel für Maritime Faserverbundtechnik Haring steht, ist überwiegend mit der „Fertigung komplexer Bauteile“ befasst, so die Eigenwerbung. Ein Geschäftsfeld, das Einzelanfertigungen für den Automobilbau, Megayachten, Windkraftanlagen und U-Boote umfasst. Ein Bereich, der den Ostfriesen Vorteile verschafft, da die Vorgaben und Kontrollen bei öffentlichen Aufträgen hart und fordernd seien, so Geschäftsführer Uwe Regensdorf. Der wollte es nicht bei Zulieferteilen belassen, sondern besann sich zurück auf einen zeitweise vernachlässigten Geschäftszweig, den Neubau von Yachten.
Vor zehn Jahren hatte MFH eine aufs heimische Wattenmeer zugeschnittene Yacht in Kleinserie aufgelegt, die Tide 34. Die Konstruktion von Marc-Oliver von Ahlen aus Kappeln an der Schlei ist mit einem angehängten Steckruder und einem Integralkiel ausgestattet, dazu leicht und schnell. Auf der Basis dieser Konstruktion hat MFH unter dem frischen Geschäftsführer Regensdorf eine Diversifizierung gestartet, die derzeit auch den Ausbau von Alukaskos beinhaltet. Die Tide 36 wurde länger, aber nicht wesentlich breiter, erhielt einen Festkiel und geriet etwas schwerer, die Segelfläche wuchs. Konstruktiv und baulich ein neues Boot, mit retrospektiven Stilmitteln: ovale Fenster mit hochglänzenden Niro-Stahlrahmen in einem oben recht runden Aufbau, ein geschlossenes Yachtheck (ohne Klappe), dazu eine Pinnensteuerung. Und optisch eine Augenweide mit strakenden, stimmigen, harmonischen Linien, die aus jedem Blickwinkel eine Freude zu betrachten sind. Die Tide 36 ist damit jetzt schon ein GFK-Klassiker, nicht in der Stückzahl, aber in der Gestaltung.
Rumpf und Deck der Baunummer 1 laminierte MFH, der Ausbau erfolgte aus Kapazitätsgründen durch die kundigen Hände von Janssen & Renkhoff in Kappeln an der Schlei. Dort hat sich im Sommer Jan Janssen in den Ruhestand verabschiedet und seine Anteile an Bootsbaumeister Christopher Hahn veräußert, der mit der Tide 36 gleich ein schönes großes Projekt mitverantworten durfte. Das Ergebnis kann sich nicht nur sehen lassen, sondern ist insgesamt ein überaus gelungenes Paket – mit einem kleinen Manko, mehr dazu später.
Rumpf und Deck hat MFH aus multiaxialen Glasgelegen, Hartschaum als Kernmaterial und Vinylesterharzen handlaminiert. Das steht für hochfeste, leichte und Osmose-resistente Bauteile. Und dann der Ausbau: Wer die Bodenbretter lupft, nimmt staunend massive hölzerne Bodenwrangen in einer blitzsauber gefinishten Bilge wahr, aus der die Kielbolzen durch die geschwungene stählerne Bodenplatte des Salontisches ragen und dort mit hochglänzenden Hutmuttern befestigt sind. Das ist nicht mehr Handwerk, das ist Kunst am Boots-Bau. Könnte man meinen. Konstrukteur Marc-Oliver von Ahlen: „Die Holzwrangen sind in einer Kleinserie günstiger, und die Muttern sind sichtbar, weil wir sonst einen höheren Boden gebraucht hätten.“
Der Tisch steht insgesamt stellvertretend für hohe Qualität und eine Detailliebe, die an Versessenheit zu grenzen beginnt. Die klappbaren Tischseiten hängen nicht einfach an der oberen Grundplatte, sondern werden im heruntergelassenen Zustand von den Stirnseiten verdeckt (s. Foto unten). Weitere Beispiele für Liebe zum Objekt: Eine klassische Wegerung ziert die Bordwand im Vorschiff und hält Feuchtigkeit fern. Kojenauflagen und Ausbauteile selbst im Verborgenen sind durchgestaltet, abgerundet, sauber ausgeführt und eine Wonne für Auge und Hände. Dazu die helle Decke, schön gemaserte Kirsche in seidenmatter Lackierung, komplementiert durch mintfarbene Polster.
Bemerkenswert ist ebenso der recht knappe Raum, besonders aus Sicht zeitgenössischer Konstruktionen, die allesamt auf Volumenmaximierung bis hin zum motorbootähnlichen Rumpf setzen. Die Tide dagegen ist zierlich sowie schmal und flach. Knapp 1,80 Meter Innenraumhöhe bietet sie im Salon an, einmal nicken, und man steht gebückt im Vorschiff mit rund 1,65 Meter Höhe. Jedoch erstaunlich dort: Die Koje ist breit, satte 1,80 Meter sind es. Und ebenda im Vorschiff ist sogar ein klappbarer Schreibtisch inklusive kleinem Sitzmöbel vorgesehen.
Außen angewendete Gestaltungsprinzipien sind im Innenraum konsequent weitergeführt. Das passt.
Anders sieht es achtern aus: Dort gibt es weder zwei noch eine Kabine, sondern lediglich eine offene Hundekoje. Und die Salonkojen sind mit 1,60 Metern zu kurz zum Schlafen, wobei sich die Steuerbordkoje auf Wunsch jedoch verlängern lässt, indem sie durch ein Fußloch durch das Hauptschott bis in den Schrank ausgeweitet wird. Oder es wird ein kleineres Bad vorn eingebaut. Das ist auch die Lösung bei der Wahl des optionalen Hubkiels, dessen Kasten in das Nasszellenmodul integriert wird. Tatsächlich ist die Nasszelle auf dem Testschiff groß, hat eine Duschmöglichkeit und ist hochwertig ausgestattet. Letzteres gilt auch für die gegenüberliegende Pantry, wo sich die Stehhöhe durch Herausnahme des Bodenbrettes signifikant steigern lässt.
Vom Wohnraum her präsentiert sich die Tide 36 als Zweipersonen-Schiff mit Einzelgast-Option. Die Crewstärke passt zum Cockpit. Dort sind die Duchten satte 2,20 Meter lang, zusätzliche Fläche zum Liegen oder Sitzen bietet das Achterdeck, unter dem die Gasflasche und Stauraum zu finden sind. Cockpit und Deckslayout funktionieren unterwegs hervorragend. Mit Pinnensteuerung, Ausleger und kurzen Wegen sowie Selbstwendefock zeigt sich die Tide 36 perfekt einhandtauglich, was prima zur angepeilten Zweier-Crew passt. Auf dem 20 Grad angeschrägten Süll sitzt der Steuermann hervorragend, und das rutschfeste Kork auf den Duchten gibt den Füßen genug Halt.
Das Steuern selbst ist eine große Freude. Der Ruderdruck stimmt, der Anstellwinkel des Blattes zeigt die gewünschten drei bis fünf Grad, die das System aus Kiel und Ruder effektiv werden lassen. Das Boot steuert sich leicht, die Windkante ist einfach zu finden und zu halten, die Profile der Co-Segel passen zu den Fähigkeiten des Bootes. Etwa 6,6 Knoten lassen sich beim Test am Wind bei Wendewinkeln von rund 45 Grad erzielen, wobei unsere Messungen aufgrund der Stromsituation einerseits und unkalibrierter Bordelektronik andererseits nur Anhaltswerte sein können.
Das hohe Rigg hat eine cremefarbene, der Rumpf eine je nach Lichteinfall changierende Lackierung
Raumschots unter Gennaker ist spürbar, dass die Tide 36 aus dem Quark kommen will, sie beschleunigt bei zwölf bis 15 Knoten wahrem Wind schon mal auf über neun Knoten, mit etwas mehr Welle als am Testtag dürften leicht über zehn drin sein. Neben den reinen Werten gefällt die Leichtigkeit des Seins an Bord. Manöver, Trimm und Segelbedienung gehen flugs von der Hand, auch der guten Beschläge und Winschen wegen, die allesamt eine Nummer größer als nötig ausgeführt sind.
Die Tide 36 erfüllt die Vorgaben: Sie richtet sich an ein segelbegeistertes Paar, das ein individuelles, hübsches Boot sucht und großes Volumen hinter hervorragende Eigenschaften stellt. Bleibt da noch der Preis: Der ist wie das Boot, sportlich, lässt sich aber relativieren. Der Vergleich zu Yachten, die zumindest entfernt als Konkurrenz betrachtet werden können, also schlanke, individuelle, hochqualitative Schönheiten im skandinavischen Stil, drängt sich auf. Das wären beispielsweise die Däninen Faurby 360 und Luffe 3.6 sowie die Linjett 34 aus Schweden, und das sind ebenfalls Boote zu Immobilienpreisen.
390.000 Euro für ein knapp elf Meter langes Boot sind viel Geld, dürften aber schockverliebte potenzielle Kunden nicht vom nächsten Schritt abhalten. Die Tide 36 wird mit ihrem Temperament Eignern eine lang anhaltende Freude bereiten und immer eifersüchtige Blicke auf sich ziehen.
... ist widerstandsarm, insgesamt schlank und leicht. Großer umbauter Raum war nicht das erklärte Ziel des Designs
... ist relativ groß und gut abgestimmt. Der Ruderdruck passt, und das Blatt funktioniert auch noch bei viel Lage
... besteht aus einer hohlen Stahlflosse und einem Bleitorpedo. Das drückt den Schwerpunkt nach unten
... stammt von Seldén und wurde analog zum Aufbau cremefarben im RAL-Farbton 1013 lackiert. Das kostet 5.465 Euro extra. Im Standard bestehen die Oberflächen von Baum und Mast aus eloxiertem Aluminium
... kommen von Co im Crosscut. Triradiale Ware aus Sandwich- Mylar aus demselben Haus kostet 10.300 Euro
... wird zum Einsatz über den Ankerkasten geschwenkt, herausgeschoben und an Deck arretiert. Das sinnvolle Extra kostet 2.370 Euro
... ist mehr Prototyp als Baunummer 1. Ausgebaut bei Janssen & Renkhoff in Kappeln, diente es der Hersteller-Werft MFH als 1:1-Modell bzw. segelndes Mock-up. Die Erfahrungen aus dem Bau und Detaillösungen fließen in die Serie ein
... gelten für das künftige Serienboot, nicht für das getestete Schiff
Hinweis der Redaktion: Laut Konstrukteur Marc-Oliver von Ahlen sind die an die Redaktion übermittelten Gewichtsangaben fehlerhaft gewesen. Die Tide 36 wiege nicht 4,7, sondern lediglich 3,8 Tonnen. Dies sei das projektierte Gewicht gewesen und auch am fertigen Boot nachgemessen worden. Das niedrige Gewicht sei auf die hohle Kielflosse, weitgehenden Einsatz von Sandwich-Materialien auch bei den Möbeln und insgesamt auf eine sehr gewichtsoptimierte Bauweise und Auslegung zurückzuführen sowie auf die Tatsache, dass die Tide 36 schmal und flach konzipiert ist.
(ohne Abdrift/Strom; Windgeschwindigkeit: 12 bis 15 kn (4 Bft), Wellenhöhe: ca. 1,0 m)
Die recht hohe Segeltragezahl ist mit der Genua errechnet. Mit der Selbstwendefock ergeben sich 4,5
In dB(A), gemessen in Marschfahrt (80 % der Höchstdrehzahl): 6,5 kn, 2.400 min -1
Handlaminiertes GFK-Sandwich mit Schaumkern und Vinylesterharz. Anlaminierte Schotten. Deck-Rumpf-Verbindung laminiert
Achterstagskaskade, Lithium-Service-Akkus, dreiflammiger Ofenkocher, 230- und 12-Volt-Steckdosen, Stimmungsbeleuchtung
Maritime Faserverbundtechnik Haring, Zum Zungenkai 4a, 26725 Emden www.mfh-emden.de
Die Tide ist ein Unikum im Markt, eine direkte Konkurrenz gibt es nicht. Das Boot verbindet retroklassische Komponenten mit leistungsorientierter und hochwertiger Konstruktion in exquisiter Umsetzung. Das hat seinen berechtigten, aber hohen Preis