Alexander Worms
· 18.03.2023
Eine Fahrtenyacht komplett aus Carbon, sauschnell und wohnlich obendrein. Die „Karma" entsteht in Enkhuizen am IJsselmeer in kollegialer Zusammenarbeit
Etwas zu viel Ruderdruck für solch einen Entwurf, denkt sich der Tester insgeheim an Bord der Agile 42 – solche Schiffe fahren gern recht neutral, denn zu viel Anstellwinkel am Ruder bremst schlicht. Die Lösung schießt ebenfalls gleich in den Kopf: Vielleicht das Groß ein wenig flacher, die Fock mit mehr Bauch, das sollte den Segeldruckpunkt etwas nach vorn lupfen. So trimmsensibel sollte das Boot sein, dass nur kleine Anpassungen schon ausreichen, um die Auslenkung des Rades zu reduzieren.
Aber lieber mal nichts sagen, schließlich sind ja noch der professionelle Bootsmann, der Projektleiter der Werft und kein Geringerer als Nicholas Heiner, seines Zeichens Laser- und Finn-Weltmeister, mit an Bord. Da wäre es vermessen, den Herren Profis Tipps zu geben, wie man das Boot besser schnell machen könnte.
Als dann besagter Nicholas Heiner das Steuer übernimmt, mit zwei Fingern am Rad tut er das, befindet er den Ruderdruck für zu hoch. Outhaul raus, also Groß flacher, und den Holepunkt der Genua nach vorn, sind seine Anweisungen. Das sorgt für mehr Profil vorn. Zufrieden grinst der fast zwei Meter große Athlet mit den beeindruckenden Oberarmen. „So ist es besser“, meint er und fügt hinzu: „Sie liegt jetzt viel neutraler auf dem Ruder.“
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Zufrieden ist auch der YACHT-Tester: In der Gewissheit, Yachtsegel mindestens auf weltmeisterlichem Niveau trimmen zu können, lehnt er sich zurück und genießt die Fahrt. Zeit, den Blick über das moderne Segelgerät schweifen zu lassen.
Dabei gibt es eine Menge zu entdecken. Zu jedem Detail weiß Tim van Daal, Chef der Bauwerft VMG Yachtbuilders in Enkhuizen, etwas zu berichten. „Den Niedergang haben wir nach Backbord versetzt. So konnten wir unten die Pantry mit zentraler Insel einbauen und oben eine Sitz- und Liegefläche schaffen“, erklärt er. Pantry, Sitz und Liegefläche auf einem Carbonracer? Um diesen Widerspruch zu verstehen, gilt es, die Genese des Projekts zu beleuchten. „Eigentlich basiert das Konzept der Agile auf einer Idee von Marten Voogd, der in den Niederlanden beheimateten Hälfte des Büros Simonis Voogd. Er suchte für sich selbst das nächste, logische Boot nach seiner jetzigen Max Fun 35. Als Konstrukteur zeichnet er das natürlich selbst“, so van Daal.
Die Idee für eine eher radikale Carbonyacht mit Wasserballast und minimalem Interieur existierte also bereits. Ebenso die Werft, die solch eine Fahrtenyacht bauen kann, denn VMG bringt, obwohl noch recht neu am Markt, dank erfahrener Mitarbeiter eine Menge Knowhow im Kompositbereich mit. Nun kommen van Daal und Voogd beide aus Enkhuizen am IJsselmeer. Man kennt sich und findet sich schnell. Was noch fehlte, war ein Kunde für das Projekt.
Hierbei hilft ein dritter aus der Enkhuizen-Connection: Gerd Schootstra, seines Zeichens Skipper der in Enkhuizen beheimateten legendären Ex-Whitbread-Yacht „Flyer“ (siehe YACHT 21/2014). Auf einem Segelausflug erzählt ihm ein Jugendfreund von seiner mühsamen Suche nach einer Werft, die ihm einen sehr schnellen Tourer aus Carbon bauen soll. Schootstra schaltet sofort und stellt den Kontakt zu van Daal und Voogd her. Die Enkhuizen-Connection funktioniert.
Der Eigner, ein Holländer, ist auf Anhieb begeistert und zerreißt die unterschriftsreifen Verträge mit einer italienischen Werft. Stattdessen ordert er im Heimatland. Der IT-Unternehmer, der bislang nur Laser gesegelt ist, will eine leicht zu bedienende und vor allem schnelle Fahrtenyacht. Gleiten soll sie auch, eben wie ein Laser.
Das wiederum passt genau zu den Vorstellungen von Marten Voogd: schnell und leicht. Wie sich später im Bauprozess herausstellt, haben Eigner und Konstrukteur beim Wort „leicht“ durchaus abweichende Vorstellungen. Diesen Widerspruch wird die Werft jedoch meisterlich auflösen.
Die Vorgabe schnell und leicht sorgt, so oder so, auf dem Wasser für eine Menge Spaß. Die Fahrrinne auf der Osterschelde knickt etwas nach Lee, die Kreuz ist vorbei. Nun fährt die Agile tief genug für den Code Zero. Am Wind prescht die schwarz-weiße Yacht mit gut neun Knoten durchs Wasser dahin, und das bei acht Knoten wahrem Wind. Die Tide stagniert bei Hochwasser, unterstützt also nicht – die Agile ist tatsächlich schneller als der Wind. Das allein ist schon beeindruckend, mehr noch ist es aber die Leichtigkeit, mit der sich die Leistung abrufen lässt. Van Daal: „Ich bekomme regelmäßig Fotos vom Eigner geschickt, auf denen er mit 12 oder 13 Knoten dahingleitet, während seine Kinder auf der Liegefläche im Cockpit schlafen. Er fährt die große Fahrtenyacht dann fast allein.“
Man will es glauben. Denn natürlich sind alle Beschläge vom Feinsten, nichts hakt, alles geht ganz leicht, und für die letzten Zentimeter hilft die elektrische Winsch zentral auf dem Aufbau, die im Niedergang stehend perfekt bedienbar ist, inklusive bester Sicht in die Segel. Dass die auch aus Kohle und fest sind und kaum etwas wiegen – wen wundert’s? Auch der bestens abgestimmte Autopilot hilft bei der Bedienung mit kleiner Crew.
Doch der eigentliche Clou liegt im Leichtbau. Denn wer weniger Gewicht bewegen muss, kommt im Verhältnis mit kleinerem Tuch aus. Bei der Agile sind es 100 Quadratmeter am Wind. Zum Vergleich: Eine XP-44 trägt gut 10 Quadratmeter mehr. Dabei wiegt die Fahrtenyacht Agile mit 4,8 Tonnen knapp vier weniger als die Yacht aus Dänemark, die ebenfalls nicht im Verdacht steht, ausgesprochen langsam auf dem Wasser unterwegs zu sein. Diese vier Tonnen machen den Unterschied, sie erleichtern es der Fahrtenyacht, den Druck aus dem Rigg in Vortrieb umzusetzen. Folglich reduzieren sich die Kräfte auf Beschläge, Fallen und Schoten. Und das wiederum merkt der Benutzer deutlich.
Nun finden sich vier Tonnen, übrigens ziemlich genau der Ballastanteil der Xp-44, nicht mal eben irgendwo im Schiff, sie werden nur erreicht durch konsequenten Leichtbau allerorten.
Einige Beispiele: Das Kohlefaserlaminat der äußeren und der inneren Sandwichlagen ist jeweils nur knapp einen Millimeter dick. Es wird über einen Schaumkern laminiert, der auf CNC-gefrästen Mallen liegt. Das geschieht zunächst im Hand-Lay-up und wird dann im Vakuum verdichtet. Anschließend wird ein isoliertes Zelt in der Halle über den Rumpf gebaut und ein vom Produzenten exakt vorgegebenes Temperaturprofil mit Heizern abgefahren. Das dauert mehrere Tage, geht bis auf etwa 60 Grad Celsius hoch und wieder herunter auf Raumtemperatur. Dieser Prozess wird genauestens überwacht, er sorgt für eine homogene und feste Struktur.
Anschließend wird das Ganze gedreht, und von innen wird die Kohlefaser im Vakuum-Injektionsverfahren aufgelegt. Das Deck wird ebenfalls unter Vakuum injiziert. Eine Innenschale gibt es nicht. Man sieht die Innenseite von Deck und Rumpf in ganzer Carbonschönheit und auch die Schrauben der Decksbeschläge am Himmel.
Das wirkt auf der Agile eher wie ein Stilelement und weniger wie liebloser Bootsbau. Bestenfalls etwas Lack, wie in den Achterkammern, verdeckt da und dort das Laminat. Der ist dann grau, um das Schwarz der Kohle zu kaschieren. Nur die Nasszelle ist innen verkleidet und hübsch hell.
Die Möbel und andere strukturelle Bauteile bestehen ebenfalls aus Schaum und sind mit einem Teakfurnier bedeckt. Natürlich werden auch Mast und Baum aus Kohle gefertigt. Alle Fallen sind nur, wo unbedingt nötig – etwa im Bereich der Klemmen und Winschen –, von einem Mantel umgeben. Der Bootsmann zieht sie nach jeder Nutzung des Schiffs mit Sorgleinen versehen in den Mast, um den reinen Dyneemakern vor UV-Licht zu schützen.
Die Kielfinne, an der die 2,2 Tonnen schwere Bleibombe hängt, ist aus Duplex- Edelstahl. Das ist leicht und fest zugleich und bricht bei einer Grundberührung nicht so schnell, wie es bei Kohlefaser der Fall wäre. Zudem steckt die Finne im Rumpf etwa 25 Zentimeter weit nach innen in einem konischen Rezess, für den die Werft extra eine Laminierform von der Finne abgenommen hat. So werden die Kräfte des Kiels optimal in die Rumpfstruktur eingeleitet; eine sehr feste Verbindung entsteht.
Der Antrieb ist rein elektrisch. Die Lithium-Akkus in Kombination mit dem E-Motor wiegen weniger als ein Dieselaggregat, das dann ja zusätzliche Serviceakkus und einen Tank haben müsste. Zudem sorgt die acht Kilowatt große Batteriebank für ausreichend Power für die Systeme beim Segeln.
Als der Wind die zehn Knoten knackt, wird es Zeit für den 200 Quadratmeter großen Gennaker. Abfallen, Tuch hoch, Backstag fest und wieder anluven. Ach ja: und den Gennakerbaum ausfahren. Auf der ausziehbaren Hälfte teilt der Eigner auf Englisch mit, dass er das Schicksal für eine unstete Geliebte hält: „Karma“ – so hat er seine rassige Schönheit genannt – sei eine „bitch“. Vielleicht ein Hinweis an Wegbegleiter auf der einen oder anderen Regatta.
Einige zarte Böen gehen auf 12 bis 13 Knoten hoch. Sofort reißt am Heck die Welle ab, die große Sailmon-Uhr an der Kajütrückwand zeigt eine 10. Das passiert ganz lässig, ganz unaufgeregt, ja fast schon aufreizend gleichmütig; das Schiff strahlt mit jeder seiner Kohlefasern aus, dass es erst ganz am Anfang seiner Möglichkeiten steht.
Die von der Werft auf dem IJsselmeer bislang erzielten 21 Knoten bei rund 28 Knoten Wind, man mag sie gern glauben. „Und dabei hatten wir nicht das Gefühl, auf einer Rasierklinge zu reiten. Alles war auch dann noch cool, selbst wenn es ein paar mehr Leute dazu brauchte“, grinst van Daal. Kontrolle ist das Stichwort. Eine Steuerung ohne Spiel, ein großes Ruderblatt, das dank des flachen Profils auch nicht überfordert ist, wenn das Wasser mal etwas schneller vorbeiströmt und ein wirklich funktionierendes Deckslayout sorgen dafür.
Kontrolle braucht der Eigner auch. Denn seine Segelerfahrung resultiert, wie gesagt, aus einem Laser. „Er formuliert es so: Das sei, als ob man in einem Bugatti Autofahren lernt“, so van Daal. Die Agile macht das klaglos mit. Und wenn es mal nicht im Regattamodus mit vielen Menschen an oder vor den Wind geht, helfen Wasserballasttanks, die richtige Balance zu finden. Zwei sind mittschiffs außen für Amwind-Kurse mit jeweils 750 Liter Inhalt installiert und zwei achtern außen zum besseren Angleiten mit je 250 Litern.
Pfiffig: Dank eines Pumpsystems lassen sich die Tanks in einer Wende oder Halse binnen kurzer Zeit umpumpen, sodass auf dem neuen Bug gleich die volle Stabilität anliegt. Das Ganze dauert etwa zwei Minuten.
Bei den leichten Bedingungen am Testtag bleibt der Ballast neutral. Insgeheim wären 10 Knoten mehr Wind die Wunschvorstellung des Testers, dann könnte man die 17 bis 18 Knoten Fahrt bei 22 Knoten Wind, die sowohl Werftchef als auch Polare versprechen, einmal ausprobieren. Wenn man schon auf einer leeren Autobahn Bugatti fährt, dann will auch der Fuß mal runter. Egal, vielleicht beim nächsten Mal.
So bleibt Zeit, sich des Interieurs anzunehmen. Von dem mag man auf einem Carbon-Racer nicht viel erwarten – aber es kam ja wie gesagt anders. Denn während im Hirn des Konstrukteurs eher Rohrkojen und Spirituskocher umherschwirrten, erbat sich der Eigner einen ansehnlichen Ausbau vom eigenen Innendesigner und einigen Komfort. Leicht? Klar. Verzicht? Nein, danke. Erfolgreiche Entrepreneurs sind eben etwas anspruchsvoller, schließlich haben sie beruflich selbst die Quadratur des Kreises hingekriegt. Warum dann nicht auch eine Werft und deren Konstrukteur?
Und so kamen auf einmal Dinge ins Spiel wie ein Herd mit Backofen, elektrisches und damit schweres WC, Teakoberflächen und eine Heizung. Letztere wird mit Diesel befeuert, was auf einer Fahrtenyacht mit E-Antrieb den Einbau eines Tanks voraussetzt. Und der, man ahnt es, wiegt eben auch einige Kilos. Der Aufwand lohnt jedoch.
Unter Deck ist die Fahrtenyacht geradezu wohnlich. Wäre es eine Wohnung, wären Sichtbeton, Kabelkanäle und Holzböden verbaut. Dabei wirkt das Interieur nicht kühl oder abgehoben, sondern einladend sinnvoll. Neben dem offenen Carbon gibt es feines Leder im besten Finish, zwei Achterkammern mit richtigen Betten, ein mit einem vertikalen Rollo geschickt separierbares Vorschiff und eine Nasszelle, in der man sogar duschen kann. So mag auch die Familie des Eigners gern an Bord kommen.
Dabei hat die Werft gezaubert. Die Arbeitsplatten in der Küche bestehen, kein Wunder, aus Kohlefaser. Der Herd ist der leichteste am Markt, die Akkus für den Antrieb stehen im Schwerpunkt des Bootes. Es ist diese Konsequenz bis ins Detail, durch die das Schiff bleibt, was die Typenbezeichnung verspricht: agil.