Mit Korkwesten ins Ruderboot und an die Riemen: Das waren die Anfänge der Seenotrettung an deutschen Küsten vor 160 Jahren. Bäcker konnten sie sein oder Schmiede, vielleicht auch mal ein Fischer auf Freiwache, die dort gegen das tosende Meer anruderten, um ihren in Not geratenen seefahrenden Nachbarn zu helfen. Ausgestattet mit nicht viel mehr als einer gehörigen Portion Mut und Entschlossenheit und einer gewissen Revierkenntnis.
Wenn heute vor Norderney ein Segler auf eine Sandbank gerät, in der Flensburger Förde eine Yacht Mastbruch erleidet, auf der Ostsee ein Boot führerlos vor sich hingeistert, Tanker brennen oder Menschen über Bord gehen, geht in der Seenotleitung Bremen ein Notruf ein und eine koordinierte Such- und Rettungskette beginnt. Etwa 1.000 Seenotretter, davon rund 800 Freiwillige, sind dafür mit 60 Seenotrettungskreuzern und -booten auf 54 Stationen zwischen Borkum im Westen und Ueckermünde im Osten ständig einsatzbereit.
Jahr für Jahr sind die Seenotretter etwa 2.000 Mal im Einsatz. Nicht selten riskieren sie dabei auch ihr eigenes Leben. Um die Risiken so gering wie möglich zu halten, benötigen sie modernste Technik und äußerst seetüchtige, besonders leistungsfähige Schiffe. Aber auch die Ausbildung der Seenotretter hat es in sich: Bevor sie in ihren ersten Einsatz geschickt werden, durchlaufen sie ein anspruchsvolles Training. Sie müssen sich mit komplexen Manövern, Navigationselektronik, Motoren, Rettungsmitteln, Erster Hilfe und unbedingt mit den Revierbesonderheiten vor Ort auskennen.
Die Werdegänge der Rettungsleute können sehr unterschiedlich sein. Manche haben viele Jahre als Seeleute hinter sich, auf den Weltmeeren im Frachtverkehr oder als Fischer an der Küste. Andere sind Freizeitskipper oder gänzlich unerfahren in der Seefahrt. Aber eines haben sie gemeinsam: Sie wollen Menschen aus Seenot retten und haben sich als teamfähig und zuverlässig erwiesen – das sind mit die wichtigsten persönlichen Voraussetzungen für diesen Job.
Seit 2019 hat die DGzRS ihre gesamten Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen unter dem Dach der Seenotretter-Akademie gebündelt. Diese fußt auf vier Säulen und ist an verschiedenen Standorten beheimatet: auf den Stationen der Seenotretter entlang der Nord- und Ostseeküste, im Simulatorzentrum in Bremen sowie im Trainingszentrum der Seenotretter in Neustadt samt einer dort angegliederten Trainingsflotte.
In Schiffssicherheitslehrgängen üben sie Leckabwehr, Brandbekämpfung und das Abseilen von Hubschraubern. Diese Kurse müssen regelmäßig wiederholt werden - sie können die Lebensversicherung für die Retter sein. Auch an den Stationen selbst wird regelmäßig trainiert, etwa das Schleppen großer Schiffe mit vergleichsweise kleinen Rettungsbooten – ein anspruchsvolles und nicht ungefährliches Manöver.
Mehr als 800 ehrenamtliche Seenotretter halten sich an Nord- und Ostsee in ständiger Bereitschaft. Auf dem Übungsschiff "Carlo Schneider" trainieren sie den Ernstfall direkt vor Ort. Das 22 Meter lange Übungsschiff reist entlang der deutschen Küste und ermöglicht den Seenotrettern, direkt in ihrem Einsatzgebiet zu trainieren. "Der Seenotrettungsdienst setzt lebenslanges Lernen voraus", erklärt Trainer Thomas Baumgärtel. Mit dem Konzept des "schwimmenden Klassenzimmers" müssen die rund 800 ehrenamtlichen Seenotrettern nicht extra zu Schulungen anreisen, sondern können in ihrem eigenen Revier üben. "Das ist für unsere Freiwilligen ein riesiger Vorteil, wenn wir zu ihnen nach Hause kommen", betont Baumgärtel. "Zum einen müssen sie sich nicht extra freinehmen und anreisen, und zum anderen üben sie in ihrem Revier, wo sie ja im Ernstfall auch rausfahren."
Das Ausbildungsprogramm auf der "Carlo Schneider" umfasst eine breite Palette an Übungen. Neben dem Schleppen werden auch Leinenübergaben bei Wellengang und die Kommunikation mit Havaristen trainiert. "Man darf die Psychologie des Moments nie außer Acht lassen", erklärt Baumgärtel. "Viele Havaristen sind überfordert und verängstigt. Unsere Aufgabe ist es, Ruhe und Sicherheit auszustrahlen und ihnen genaue und klare Anweisungen zu geben." Die Trainingseinheiten finden daher unter verschiedenen Bedingungen statt. Während ruhige Hafenbecken ideale Voraussetzungen für erste Übungen bieten, werden die Manöver später auch bei auffrischendem Wind und Wellengang durchgeführt. So können die Seenotretter die Abläufe verinnerlichen und auch in stressigen Situationen sicher agieren.
Das Übungsschiff wurde speziell für Ausbildungszwecke konzipiert. Es verfügt über einen modernen Schulungsraum und ist mit denselben Motoren ausgestattet, die auch in den 10,1-Meter-Seenotrettungsbooten zum Einsatz kommen. So können die Freiwilligen auch technisch aus- und fortgebildet werden. "Früher konnte man mehr auf fertige Seeleute zurückgreifen", erklärt Baumgärtel. "Heute gibt es immer weniger Leute in Deutschland, die aus der Seefahrt kommen und die entsprechende Erfahrung mitbringen."
Die DGzRS ist zuständig für den maritimen Such- und Rettungsdienst im Seenotfall, den sogenannten SAR-Dienst (Search and Rescue). Über 90 Jahre spielte dabei die Küstenfunkstelle „Norddeich Radio“ eine wichtige Rolle. Sie nahm am 1. April 1907 ihren Betrieb auf und läutete damit eine neue Ära der maritimen Kommunikation ein. Mit der ständigen Überwachung der Seenotfrequenz 500 kHz ab 1936 wurde Norddeich Radio unerlässlich für die Sicherheit der Schifffahrt. In den Nachkriegsjahren erweiterte die Küstenfunkstelle kontinuierlich ihr Angebot, verbreitete nautische Warnnachrichten auf Mittel- sowie Grenzwelle und führte funkärztliche (Medico-) Gespräche, die medizinische Hilfe auf See ermöglichten. Die fortschreitende Digitalisierung und neue Kommunikationstechnologien aber läuteten das Ende von Norddeich Radio ein. Zum Jahreswechsel 1998 übernahm das MRCC Bremen der DGzRS die UKW-Anrufkanäle 16 (analog) und 70 (digital). Damit stellte Norddeich Radio den UKW-Seefunkdienst ein, und das legendäre Rufzeichen DAN verstummte für immer. Seither fungiert das von der DGzRS betriebene Maritime Rescue Co-ordination Centre (MRCC) Bremen als deutsche Rettungsleitstelle See und koordiniert sämtliche Maßnahmen nach international verbindlichen Standards. Diese zentrale Koordination ist entscheidend für die Effizienz der Rettungseinsätze, da hier alle Informationen zusammenlaufen und Ressourcen optimal eingesetzt werden können. Zudem überwacht das MRCC Bremen im Seefunk die weltweit einheitlichen Notfunkfrequenzen, um auch internationale Hilferufe empfangen zu können.
Wenngleich die DGzRS mit dem SAR-Dienst (Search and Rescue) eine vom Bund hoheitlich übertragene Aufgabe erfüllt, hat sie sich ihre Unabhängigkeit erhalten und wird ausschließlich durch freiwillige Zuwendungen finanziert. Dazu tragen nicht unwesentlich auch die Sammelschiffchen bei. Auch die kleinsten in der Seenotretter-Flotte feiern in diesem Jahr Geburtstag: Seit 150 Jahren stehen die Minimodelle Rettungsboote auf Tresen in Kneipen, Läden und Fahrgastschiffen und fehlen auch bei kleiner Sportbootprüfung. Sie haben es im Wortsinn in sich: Jährlich mit bis zu 900.000 Euro zum Etat der Seenotretter bei. Rund 14.000 Sammelschiffchen stehen in ganz Deutschland.
Das "Schiffsregister" der DGzRS verzeichnet eine beeindruckende Vielfalt an Liegeplätzen für die Sammelschiffchen. Einige reisen "huckepack" auf dem Segelschulschiff "Alexander von Humboldt II" oder auf Großcontainerschiffen von Hapag-Lloyd über die Weltmeere. Besonders ungewöhnlich: Ein Sammelschiffchen befindet sich sogar unter Wasser auf einem U-Boot der Deutschen Marine. Mit dem Forschungseisbrecher "Polarstern" erreichte eines den Nordpol, während ein anderes in der Antarktis auf der Forschungsstation "Neumayer III" vor Anker liegt und dort als „Phrasenschwein“ fungiert.
Auch an Land finden sich die Sammelschiffchen an bemerkenswerten Orten. Das 50.000. Exemplar wurde 1996 von Schauspieler Wolfgang Fierek auf der Zugspitze aufgestellt, fast 3.000 Meter über dem Meeresspiegel. Sänger und DGzRS-Botschafter Reinhard Mey platzierte das 55.000. Sammelschiffchen vier Jahre später auf dem Berliner Fernsehturm, dem höchsten Gebäude Deutschlands. Tief unter der Erde ist eines im UNESCO-Weltkulturerbe-Bergwerk Rammelsberg im Harz zu finden, während ein anderes im nahegelegenen Brocken-Hotel in über 1.100 Metern Höhe steht.