Die Wellen der Ostsee haben weiße Schaumkämme, der herbstliche Wind aus Ost pfeift an den Steilküsten, fegt über die Strände, und die Brandung donnert schon seit Tagen an die Küste.
Das ist gut für Kristian Dittmann aus Kappeln an der Schlei, denn das bedeutet Erntezeit. In grünen Gummistiefeln besteigt er seinen alten Mercedes-Pritschenwagen. Schubkarre, Big-Pack-Säcke und eine Forke sind auf der Ladefläche festgezurrt. Er fährt ins nahe gelegene Eckernförde an den Ostseestrand. Es ist so früh am Morgen, dass noch nicht einmal die Gassi gehenden Hunde ihr sandiges Revier markiert haben.
Dittmann parkt den Lastwagen am Strand, atmet die frische Seeluft ein und macht sich ans Werk: Am Flutsaum schiebt er die Forke in den begehrten Rohstoff und hievt ihn auf die Schubkarre: Seegras, grün schimmernd in verschiedenen Schattierungen und triefend nass. Das Meer liefert heute viel, das Gras liegt wie ein dicker Pelz am Strand. Der Sammler lässt die Forke kleine Pirouetten vollführen, dreht sie in abgezirkelten Bewegungen hin und her und siebt den unerwünschten „Beifang“ aus – Blasentang, Vogelfedern oder Plastikmüll.
„Seegras ist ein hochwertiger Rohstoff, materialisiertes Meer“, erklärt Dittmann. Er greift eine Handvoll des feuchtglänzenden Grases und riecht daran. „Der Duft von Salz, Wind und Meer“, konstatiert der Experte. Damit widerlegt er das weitverbreitete Vorurteil des nach Fisch und Fäulnis stinkenden „Treibsels“, des angespülten Strandguts aus Seegras, Algen, Holz und Abfall. Nur bei eiweißhaltigen Algen wie Blasentang und Tierkadavern bewirkt der Verwesungsprozess extreme Gerüche und schlägt Urlauber aus dem Landesinneren in die Flucht.
Seit sieben Jahren betreibt Dittmann die Strand-Manufaktur an der Schlei und hat sich auf die manuelle Fertigung von Kissen aus Seegras spezialisiert. Dem 51-Jährigen ist sein Alter nicht anzusehen, er hat sich den neugierigen Blick der Jugend bewahrt und bewegt sich agil bei der körperlichen Arbeit an der frischen Luft. Bevor er vor acht Jahren Familienvater wurde, segelte er mit seinem Sperrholz-Katamaran Hunderte Meilen auf der Ostsee und bis zu den Kanaren. Die See war immer schon Heimat für ihn, jetzt sorgt das Seegras für seine Verbindung zum Meer.
Dittmanns Blick auf das Seegras reicht weit, weit über den Flutsaum bei Ostwind hinaus. Er ist ein Botschafter der Zostera marina, des Gewöhnlichen Seegrases aus der Familie der Zosteraceae – jener Pflanzen, die weltweit verbreitet und untergetaucht in etwa sieben Meter Tiefe an den Meeresküsten auf Sandbänken wachsen, dort Seegraswiesen bilden und wichtige Lebensräume für Fische und andere Wassertiere sind. Auch das Klima profitiert von dem Wachstum im Wasser: Große Mengen Kohlendioxid werden gebunden und reduzieren, ähnlich wie Regenwälder, den Treibhauseffekt.
Die einjährigen Pflanzen lösen sich regelmäßig im Herbst in großen Mengen vom Meeresboden ab und treiben mit dem Wind an die Küsten. Dort kann sie jedermann einsammeln und verwerten, ohne in den Bestand der Seegraswiesen einzugreifen. Denn wie viele andere Küstenökosysteme sind auch diese Pflanzen stark bedroht durch Überdüngung, Erwärmung des Meerwassers, Verdrängung durch invasive Arten und menschliche Aktivitäten.
„Seegras ist unglaublich vielseitig einsetzbar und hat großes Potenzial gerade in der heutigen Zeit, wo es um gesunde Produkte, Nachhaltigkeit und Klimaschutz geht“, erklärt der Pionier und Visionär aus Kappeln. Und die möchte er gern den Küstenbewohnern vermitteln; „Fridays for Future“ beginnt bereits am Strand und mit Seegras.
Und tatsächlich, immer mehr Menschen erkennen das Potenzial der marinen Pflanze: Ein Seegrashändler importiert den Rohstoff von der dänischen Ostseeinsel Møn nach Deutschland; ökologisch orientierte Gärtner und Landwirte nutzen Düngererde aus Treibsel, und Architekten und Bauherren entdecken den Baustoff zur Dämmung von Wänden und Dächern. Vorbild ist Læsø: Auf der dänischen Insel wird seit Jahrhunderten Seegras zum Dachdecken der Fischer- und Bauernkaten verwendet; in dicken, langen Strähnen legt man das feuerfeste und unverwüstliche Material über den Dachstuhl. Geschuldet war dieses weltweit einmalige Verfahren einst dem Mangel an Baustoffen auf der kargen Insel.
In der Medizin wird Seegras für die antiseptischen Inhaltsstoffe geschätzt, beispielsweise das Jod. Ein Forscherteam hat jüngst ein Hydrogel daraus entwickelt. Es verspricht eine schnellere Wundheilung. Erfolge erzielt auch der Küstenschutz mit Dünen aus Treibsel und Sand. Ergebnis: Der „Blanke Hans“ hat etwas zu beißen, die Sommerfrischler baden an sauberen Stränden, und die Gemeinden müssen das Strandgut nicht auf der Deponie entsorgen.
„Auf meinem ersten Boot waren die Kojen mit Seegras gepolstert, ein einmaliges Erlebnis“, erinnert sich der 65-jährige Bootsbaumeister und Yachtgutachter Uwe Baykowski aus Kiel an seine Törns als Jugendlicher auf der Eckernförder Küstenjolle. „Der geklinkerte Eichenholzrumpf war nie dicht, das Boot fast immer feucht, aber wir trotzdem fröhlich“ – denn die Seegraspolster blieben trocken.
Diese und weitere positive Eigenschaften machen die „Stopfwolle der Küste“ bis in die Sechziger zur verbreiteten Kojenunterlage: nicht schimmelnd, milbenfrei, verrottungsbeständig, feuerfest und absorbierend. Ähnlich wie Holz kann der Rohstoff aus dem Meer ab 15 Prozent Diffusionsdichte Feuchtigkeit aus der Luft aufnehmen. Damit hat er entscheidende Vorteile gegenüber anderen verfügbaren pflanzlichen Füllstoffen, etwa Stroh, das durch Feuchtigkeit rasch vergammelt.
Seegrassäcke und später -matratzen brachten auf Segelschiffen eine große Verbesserung der Lebensbedingungen. Bekannt ist der Einsatz auf den dänischen Marstalschonern im Nordatlantik, die bis Mitte der sechziger Jahre als Frachtensegler bis in die Grönlandsee kreuzten. Die Crews sind damals wahrlich keine Warmduscher; bei jedem Wetter alle Taue und Segel mit den Händen zu bedienen ist Knochenarbeit bei Kälte und Feuchtigkeit – da bleibt dem Seemann nur die Vorfreude auf die traumhaft trockene Koje.
Ein Erlass des preußischen Kriegsministeriums im Ersten Weltkrieg zeigt die weitere Bedeutung der Meerespflanze in der Vergangenheit: Treibsel durfte ausschließlich von der kaiserlichen Armee genutzt werden, um ausreichend Füllmaterial für die Schlafsäcke der Soldaten zu gewährleisten. Historiker vermuten sogar, dass dieses Material bereits vor Tausenden von Jahren von den Küstenbewohnern als lose Unterlage zum Schlafen benutzt wurde.
Egal in welcher Epoche, Seegras war immer schon die Schlafunterlage der ärmeren Küstenanrainer, die sich keine teuren Rosshaarmatratzen leisten konnten. Letztere dienten vor etwa 200 Jahren den Adligen und Kaufleuten als Ruhestatt.
Das Kundenprofil für Seegrasprodukte hat sich allerdings im 21. Jahrhundert diametral verändert: Heute sind es die bürgerlichen Besserverdiener, die bereit sind, für den umweltfreundlichen und gesunden Rohstoff deutlich mehr zu bezahlen als für eine industriell gefertigte Matratze oder ein Kissen aus Kaltschaum, Kautschuk oder Gänsefedern.
Das Arme-Leute-Bett von einst ist heute exklusiv und teuer
Die neue Exklusivität ist auch der Tatsache geschuldet, dass es in Schleswig-Holstein nicht mehr, wie im Jahr 1948, 60 Seegrasfischer gibt, sondern heute nur noch ein Einziger mit der Forke zur Ernte an den Strand geht: Kristian Dittmann. Entdeckt hatte er seine Leidenschaft für das Gewächs bei einem Strandspaziergang mit den Kindern an der Flensburger Förde: „Überall am Meeressaum lagen die dicken grünen Büschel. Da kam die Einsicht: Seegras ist Rohstoff!“
Der studierte Meeresbiologe und damalige Journalist beschließt, das „Geschenk aus dem Meer“ auf seine weitere Verwendung hin zu erforschen. Und so fängt ein fortwährendes Eigenstudium an, da das Wissen und der Erfahrungsschatz über die Ernte und Weiterverarbeitung zu diesem Zeitpunkt an keinem Lehrstuhl gelehrt und in keinem Handwerksbetrieb vermittelt wird. Auf den folgenden Strandausflügen wird weiter fleißig Treibsel gesammelt, zum Spülen ist die Badewanne im Hause Dittmann bald ständig mit Seegras belegt – bis der Sand den Abfluss verstopft.
Heute schmunzelt Dittmann über die Anfänge seiner autodidaktischen Lehrjahre: mittlerweile ist er ein weithin bekannter Seegras-Spezialist. In weißer Schürze und mit Gummihandschuhen bis zur Armbeuge steht er über ein großes Fass gebeugt und schaufelt salziges Gras ins Süßwasser. Dafür hat er in einem alten Kuhstall bei Kappeln am Südufer der Schlei Quartier bezogen. Für eine Jahresproduktion gehen in vier Monaten rund 20 Kubikmeter Seegras durch seine Hände.
Hier drinnen riecht es nach Meer und Sommerwiese, und leise plätschert das Wasser beim Eintauchen der Zostera marina. In dem tausend Quadratmeter großen Stall ist kein mechanisches Geräusch zu hören, es herrscht andächtige Stille. „Mein Tun ist rein manuell, das macht den Zauber aus – und verleiht den Seegraskissen etwas Einzigartiges.“ Außer dem alten Lkw ist keine Maschine im Einsatz, vom Rohstoff bis zum fertigen Produkt geschieht alles per Hand.
Dittmann arbeitet nicht viel anders als seine Vorgänger vor hundert Jahren. Und er schätzt die minimalistische Einfachheit seines Jobs, die Nähe zur Natur und das bewusste Erleben der Jahreszeiten. Diese Art der Wertschöpfung sei sehr befriedigend, so Dittmann, und entsprecheauch seiner Lebensphilosophie: als Einmannbetrieb gerade so viel erwirtschaften, wie nötig ist zum Leben und dabei den ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich halten. Auf diese Weise hat er sich einen krisensicheren Job geschaffen – selbst in Zeiten von Covid-19.
Ohne Werbung, ohne Vertrieb – dafür aber wirklich nachhaltig
„Mit etwas Geschick und der richtigen Information kann jeder selbst Seegras ernten und Matratzen oder Kissen anfertigen. Das ist wahrlich keine Geheimwissenschaft“, findet der Pionier einer Branche, die gerade erst erwacht. Kristian Dittmann gibt sein Wissen gern weiter, die Medien tragen zur Verbreitung bei. Auf Workshops mit dem Titel „Von Seegras leben“ oder Aktionstagen mit Politikern oder Schulklassen vermittelt und vernetzt er, wo er kann, um den kostbaren Rohstoff für viele Menschen zugänglich zu machen.
Zunehmend geht der Fokus der Geografen und Meeresforscher der Universität Kiel auf die marinen Pflanzen vor der Haustür: Masterarbeiten zum Thema Verwertung des Treibsels, Forschung zu neuen Methoden der großflächigen Kartierung von Seegraswiesen sowie das Pilotprojekt zur intelligenten Wertschöpfungskette des Rohstoffs (www.posima.de) zeigen die Potenziale für Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt.
In der Strand-Manufaktur geht die Produktion weiter mit Spüldurchgängen und der Qualitätskontrolle. Kleine Federn und Reste vom Blasentang werden aussortiert und kommen auf den Kompost. Dank Erfahrungen und spezieller Erntetechnik wandert der Rohstoff hier bereits mit einer Reinheit von 93 Prozent in den Spültrog.
Anschließend wird das Seegras über eine hölzerne Stellage gehängt und trocknet rund drei Wochen. Zuletzt kommt das jetzt knisternde und duftende Seegras auf den Stopftisch, wird aufgezupft und gelockert und in die Baumwoll- oder Leinenbezüge der Kissen gefüllt.
Kaum am Markt, ist die Jahresproduktion in wenigen Tagen ausverkauft. Ein kleines Angebot trifft auf große Nachfrage – ohne Werbung, Vertrieb oder Lagerhaltung, nachhaltig eben. Und wenn der Wind wieder aus Ost weht, zieht sich Dittmann erneut die Gummistiefel an, nimmt die Forke in die Hand und fährt zum Strand.
Rund 50 Kilogramm Seegras am Strand sammeln, mit Süßwasser spülen und drei Wochen trocknen. Aus Brettern einen Rahmen bauen, der die Form der Matratze bestimmt. Das Seegras auflockern und alle Fremdstoffe entfernen. Den Bezug in die Form legen und stopfen, bis er prall gefüllt ist. Der untere Teil wird stärker gestopft, dadurch etwas höher und ist deshalb das Kopfteil. Die Matratze kommt nun auf das Bettgestell, und über einige Wochen wird das individuelle „Schlafprofil“ geformt. Anschließend sollte nachgestopft werden, wo der größte Druck entsteht. Das Raumklima an Bord lässt sich durch die Seegrasmatratze deutlich verbessern; sie wird jedoch etwa dreimal so schwer und viel fester als eine aus Schaumstoff.
Dieser Artikel erschien erstmals in YACHT classic 1/2021