Nordsee rundPhilipp Hympendahl auf den Spuren von Wilfried Erdmann

Philipp Hympendahl

 · 27.08.2022

Nordsee rund: Philipp Hympendahl auf den Spuren von Wilfried ErdmannFoto: Philipp Hympendahl
Nordseerunde von Philipp Hympendahl auf seiner „African Queen“. Selbstporträt im Dunkeln mit Stirnlampe

Philipp Hympendahl hat ein Faible für kernige Törns. Einhand segelte er im Frühsommer nach Norwegen und Schottland. Auf seiner Reise fand er Stille und Sturm, traf Orcas und Originale. Hier ist sein Bericht

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Es ist eine kleine Ewigkeit her, seit ich zuletzt auf einem Segelboot an Norwegens Küste kreuzte. Ich war damals 17 Jahre alt und unterwegs mit meinem Vater. Ein gewisser Boris Becker gewann Wimbledon einen Tag, bevor wir in Bergen einliefen. Nun ist das gefallene Tennisidol im Gefängnis und ich erneut auf Kurs Nord.

Selfie auf Helgoland mit draller Holzdeern und einer guten Buddel Rum, die nicht ganz reichen sollte für die komplette Umrundung der Nordsee
Foto: Philipp Hympendahl

Am frühen Morgen des 21. Mai stehe ich unten am Niedergang und beobachte, wie die aufgehende Sonne die Nacht vertreibt. Basstölpel und Mantelmöwen gleiten dicht über die Wellenkämme, streicheln mit ihren Flügelspitzen fast die Wellen, ohne sie jemals zu berühren. Sie begleiten die „African Queen“ bis vor die felsige Küste Südnorwegens. Langsam kommt der Leuchtturm Ryvingen auf der vorgelagerten Insel Låven näher. Ich lasse den flachen, rund geschliffenen Felsen an Steuerbord liegen und komme in die von Untiefen gespickte Bucht von Mandal. Links neben dem Strand muss die Hafeneinfahrt sein, aber da sind nur beige schimmernde Felsen; auch von dem Ort ist nichts zu sehen. Dann entdecke ich ein kleines Boot, das parallel zum Strand auf die Felsen zufährt. Dort muss es reingehen.

Nichts ist erhabener, als allein mit kleinem Boot der Einsamkeit und Weite zu begegnen.

Bei Sonnenschein und kühlem Wind komme ich in den modernen Hafen und lege mich gleich neben den sympathischen deutschen Einhandsegler Hermanus. Seinen Vierteltonner „Jenny Greenteeth“ hat er selbst ausgebaut, und er ist gut ausgerüstet. An Bord hat er unter anderem ein Kajak, in drei Teile geschnitten, die er mit Schnellspannern zusammensetzt. Ein Tüftler, der alles top in Schuss hält. Nach einem Willkommensbier empfiehlt er: „Du musst unbedingt noch auf den Aussichtspunkt im Ort, von dort hat man einen super Blick aufs Meer.“ Dankbar für den Tipp, genieße ich später die Sicht auf die weißen Häuser Mandals, den Hafen und den Horizont dahinter.

Inspiriert von Wilfried Erdmanns Buch „Nordsee-Blicke“, habe ich mir vorgenommen, eine ähnliche Strecke zu segeln, etwas kürzer zwar, aber voll von den abwechslungsreichen Herausforderungen des Nordens: Licht und Dunkelheit, Ebbe und Flut, die Sanftheit wie das Raue der Natur hautnah erleben. Mit meinem Boot möchte ich zum Spielgefährten der Elemente werden und bestehen. Nichts ist erhabener, als allein mit kleinem Boot der Einsamkeit und Weite zu begegnen. Nichts lässt mich lebendiger werden, nichts glücklicher und demütiger.

Mehr als 1.300 Seemeilen in fünfeinhalb Wochen. Die Route von Philipp Hympendahl mit langen Etappen zwischen den meist kurzen StoppsFoto: YACHT
Mehr als 1.300 Seemeilen in fünfeinhalb Wochen. Die Route von Philipp Hympendahl mit langen Etappen zwischen den meist kurzen Stopps

Den ersten langen Schlag von Helgoland aus habe ich gerade hinter mich gebracht, zwei Tage auf See mit Flaute, Wind und Wellen. Den nächsten Tag will ich nutzen, um weiter nach Westen zu kommen, bevor der Wind dreht. Entlang der hügeligen Küste segle ich vorbei an Windrädern und kleinen Ortschaften und schließlich nach 64 Seemeilen hinein in den Fjord von Egersund.

Egersund ist ein wohlhabender, traditioneller Fischerort, der bei jedem Wetter angelaufen werden kann. Der kleine Yachthafen wird von Vereinsmitgliedern geführt. Im Supermarkt besorge ich mir frischen Salat, dazu gibt es ein kühles Bier aus der Bilge. Wolfgang, ein väterlicher Freund und Revierexperte, rät mir am Telefon: „Geh doch als Nächstes nach Skudeneshavn; Tananger kannst du dir schenken, das ist nicht so schön.“

Ich folge seiner Empfehlung und motore zwei Tage später morgens unter der 22 Meter hohen Eigerøy-Brücke hindurch, dem Fjord Richtung nordwestlicher Mündung folgend. Mehrfach hole ich die Kamera und fotografiere Traumhäuser, die mit der felsigen Landschaft zu verschmelzen scheinen.

Bei leichter Brise erreiche ich die Küste. Doch bald weht es frisch. Als es weiter aufbrist und die „Queen“ anfängt zu surfen, muss ich das Groß bergen – eine sportliche Übung. Bei der Welle das Boot unter Autopilot in den Wind zu drehen und am Mast das wild schlagende Segel runterzuzerren kostet Kraft und Nerven. Ich bin froh, als es geschafft ist und ich kontrolliert vor dem Wind ablaufen kann.

In der Bucht vor der Hafeneinfahrt, wo es flacher wird, bauen sich die Wellen zum Abschied noch einmal ordentlich auf und schicken meinen 9,20 Meter langen Halbtonner aus den achtziger Jahren mit einem drohenden Abschiedsgruß in den Kanal von Skudeneshavn. Bei der Suche nach der Marina kommt mir ein nettes niederländisches Paar auf seiner Sun Fast 42 zu Hilfe, das kurz nach mir einläuft. Wir sind die einzigen Segler, und eine klassische Marina gibt es nicht, man liegt an Stegen direkt im Ort. Mit Alette und Martijn segle ich tags darauf gemeinsam 18 anspruchsvolle Seemeilen durch enge Fjorde mit sehr böigem Wind nach Haugesund.

Wir liegen direkt vor dem Hotel „Maritim“, gegenüber dem Boot des bekannten norwegischen Extremseglers Erik Aanderaa, den ich am nächsten Tag spontan besuche. Wir unterhalten uns eine Weile über seine Törns und darüber, wie schwierig es sein kann, ambitionierte Pläne umzusetzen.

Tags darauf weht es mit 40 Knoten. Statt auf eigenem Kiel nehme ich zusammen mit Bert, einem Deutschen, und Martijn die Fähre nach Utsira. Die Insel ist für ihre Vogelwelt bekannt, seit ein paar Jahren aber auch – ungewöhnlich genug – für ihre Streetart. Die mit 200 Einwohnern kleinste Kommune Norwegens zieren Graffitis von höchster Qualität. Überall auf der Insel, auf Häusern, Silos, Windmühlen und Felsen, haben Künstler aus aller Welt sich entfalten können.

Danach trennen sich unsere Wege. Martijn und Alette wollen den Hardangerfjord erkunden, Bert und seine Frau laufen gemeinsam mit mir bei Flaute aus. Vor der Küste verlieren wir uns, denn ich suche erfolglos den Wind weiter draußen auf See, während die beiden an der Küste gen Norden motoren.

Plötzlich sehe ich eine lange, spitze Rückenflosse: ein Orca.

Viel Wind finde ich an dem Tag nicht mehr, aber plötzlich sehe ich eine lange, spitze Rückenflosse: ein Orca. Bis ich mit der Kamera zurück an Deck bin, ist es eine kleine Herde, die um mich herum schwimmt, bevor sie plötzlich verschwindet. Es soll nicht die einzige Begegnung bleiben.

Als Tagesziel habe ich mir eine ruhige Ankerbucht ausgeguckt, passiere aber auf dem Weg dorthin unter Motor zwei Inseln, die nur ein flacher Steinwall verbindet. Neugierig motore ich heran,um mir das näher anzuschauen. Sie sind als nördliches und südliches Lyklingholmen in der Karte eingezeichnet. Dazwischen befindet sich eine Lagune wie in der Südsee. Ein Zufallsfund, wunderschön und nahezu unberührt.

An einer Mooring mache ich fest und paddle mit meinem SUP an Land zu einem Holzsteg, dahinter ein Schuppen und eine Slipanlage. Weiter oben auf den felsigen Hügeln, verteilt zwischen Sträuchern, Moosen und Flechten, stehen drei Holzhäuser. Auf meinem Weg hinauf über einen schmalen Pfad begegne ich einem der Besitzer; Ewen, ein netter ruhiger Mann, erzählt, dass sein Schwiegervater hier aufgewachsen und als Kind mit dem Boot zum Festland gebracht worden sei, um die Schule zu besuchen. Was für ein weltentrückter Ort zum Großwerden. Heute lebt niemand mehr dauerhaft auf den Inseln.

Mein nächstes Ziel ist Selbjørn, mit dem hässlichen Industriehafen ein herbes Kontrastprogramm. Aber ein Einheimischer empfiehlt mir das nahe gelegene Bekkjarvik, das sich tatsächlich als schnuckeliger Ort mit Holzhäusern, kleiner Marina und einem der besten Restaurants Norwegens erweist. Da ich weder die Garderobe noch das Budget für den Gastro-Tempel habe, koche ich gemütlich an Bord. Vorher nutze ich noch die modernen sanitären Anlagen für eine ausgiebige Dusche.

Am Morgen statte ich einem netten deutschen Ehepaar auf großer Aluyacht einen Besuch ab. Es ist eine der Begegnungen, wie ich sie als Einhandsegler oft habe. Generell ist mir auf der Reise im Norden die besondere Freundlichkeit der Yachties untereinander aufgefallen. Viele niederländische, deutsche und norwegische Paare unternehmen auf relativ kleinen Booten oft längere Reisen und sind dabei sehr offen und entgegenkommend. Eine Nahbarkeit, die ich menschlich sehr schätze und die einem Solotörn die Einsamkeit nimmt.

Ein wichtiges Zwischenziel meiner Reise ist Bergen, der alten Erinnerungen wegen und weil es den nördlichsten Punkt meiner Fahrt markiert. Am frühen Abend des 1. Juni kommt mir der Kreuzfahrer „Mein Schiff 4“ entgegen, die winkenden Gäste auf ihren Balkonen grüße ich zurück, bevor ich kurz darauf im Stadthafen festmache. Das Wetter macht dem Ruf des Ortes als Hotspot der Niederschlagsmenge alle Ehre: Es regnet und ist diesig. Das Bergplateau von Fløyen liegt in Hochnebel gehüllt.

Nach zwei Tagen verlasse ich die nasseste Stadt Europas mit den letzten Regentropfen. Von morgen an soll es eine Woche schön bleiben. Aber ich habe noch viel Seeweg vor mir. Mein Plan ist, nach Kleppesjøen zu segeln: ein günstiger Ausgangspunkt für meinen langen Schlag auf die Shetlandinseln.

Während ich dort auf ein Wetterfenster warte, macht sich Anspannung breit; Warten fällt mir schwer. Die Zeit nutze ich, um mich und die „Queen“ auf die Passage vorzubereiten. Ich mache Screenshots von den Prognosen der Wetter-Apps, verstaue mein Faltrad und das SUP, lege mir Getränke und Snacks ins Cockpit, dann bin ich bereit. Bei Sonnenschein und angenehmen Temperaturen geht es am 5. Juni endlich los. In der Landabdeckung weht noch wenig Wind, später wird er zunehmen und auf Nord drehen.

Anfangs konzentriert und kontrolliert, lasse ich mich nach und nach immer mehr auf den Rhythmus der Natur ein.

Lange Etappen laufen bei mir immer nach dem gleichen Muster ab. Anfangs konzentriert und kontrolliert, lasse ich mich nach und nach immer mehr auf den Rhythmus der Natur ein. Mit dem Land bleiben Ängste und Bedenken zurück. Die Einsamkeit und die endlose Weite des Meeres wirken dann nicht wie eine Bedrohung, sondern wie ständige, gut vertraute Begleiter. Im besten Fall schaffe ich es, ein Teil davon zu werden. Seinen eigenen Emotionen ungestört freien Lauf lassen zu können, das ist der Luxus des Einhandseglers, das ist es, was ich daran so liebe.

Ein Basstölpel begleitet mich, stürzt mit eingeklappten Flügeln ins Wasser, treibt etwas zurück und startet dann erneut. Lächelnd fliegt er neben dem Boot, schaut in die Kamera, eine ganze Weile bleibt er bei mir. Ich biete ihm Brot und Gespräche an, aber er will nur fliegen.

Auf Halbwindkurs bei fünf Beaufort schneidet der Bug kraftvoll durch die Wellen, genau gen Westen, der untergehenden Sonne entgegen. Mit fast sechs Knoten im Durchschnitt rausche ich durch die taghelle Nacht und erreiche nach 33 Stunden und 200 Seemeilen die Küste Shetlands. Ein lautstarkes „Land in Sicht!“ entfährt mir, Ausdruck von Zufriedenheit ebenso wie von Erleichterung.

Die geologische Evolution scheint hier ganz anderen Gesetzen gefolgt zu sein als in Norwegen. Während dort die Felsen wie mit Sandpapier rund geschliffen scheinen, ist die Küste hier wie mit dem Messer aus einem Stück Gouda geschnitten; darüber liegen gleichmäßige Hügel in sattem Grün.

Wenige Meter neben meinem Boot kommt eine schwarze, spitze Rückenflosse aus dem Wasser.

Der nächste Schlag soll mich nach Fair Isle bringen, einem fast mystischen Ort, der auf der Bucket List vieler Nordseesegler steht. Hier stößt die Nordsee auf den Atlantik; das Seegebiet ist berüchtigt für seine großen Wellen. Ich erlebe bei gutem Wetter nur eine lange Dünung, die aber ahnen lässt, wie es hier zugehen könnte. Als ich wenige Seemeilen vor der Insel mein Großsegel einbinde, kommt es zu dem bisher aufregendsten Naturereignis meines Seglerlebens. Wenige Meter neben meinem Boot kommt eine schwarze, spitze Rückenflosse aus dem Wasser. Ich erkenne an der kraftvollen Langsamkeit und dem weißen Fleck sofort, dass es ein Orca ist, ein Killerwal.

Sofort greife ich die Kamera und halte sie nach achtern. Ein zweiter Orca taucht direkt hinter meiner Windfahne auf, kurz unter der Wasseroberfläche schimmert es schwarz und weiß, dann dreht er ab. In meine freudige Aufregung mischen sich jetzt auch Respekt und Furcht. Mir gehen die Geschichten von Orca-Attacken vor der portugiesischen Küste durch den Kopf. In dem Moment jagt der andere Wal hinter mir her und kommt dem Ruderblatt sehr nah. Doch dann taucht er auf, dreht ab und beide ziehen davon.

Es geht so schnell, dass ich es selbst kaum glauben kann. Lange komme ich nicht zur Ruhe. Erst ein abendlicher Spaziergang auf Fair Isle bringt mich wieder ins Lot. Leider ist das Timing nicht optimal, um die Insel zu erkunden. Es steht ein unangenehmer Schwell im Hafen. Der folgende Tag bietet die letzte Möglichkeit, vor dem nächsten Tief auf die Orkneys zu kommen. Ich nutze sie.

Um den Auskerry Sound zu erreichen, der mich nach Kirkwall bringt, kämpfe ich bei Windstärke sechs auf Amwind-Kurs mit der Höhe. Die Landspitze von Lamp Head schaffe ich erst nach einer Wende und einem weiten Schlag nach Osten, dennoch habe ich wieder viel Glück mit der Windrichtung, die mich gegenüber der Vorhersage begünstigt. So erreiche ich nach gut zwölf Stunden und 62 Meilen am frühen Abend den geschützten Hafen von Kirkwall.

Wieder zieht ein Tiefausläufer durch, und der nächste kündigt sich schon an.

Um die Schönheit der kleinen Inseln und Ankerbuchten zu erkunden, müsste ich lange warten, daher verlasse ich die Orkneys, ohne viel gesehen zu haben. Bei achterlichem Wind rausche ich in Richtung schottisches Festland, ungemütlich wird es nur einmal am östlichen Ausläufer des berüchtigten Pentland Firth, wo die Wellen durcheinanderlaufen.

Die Ostküste von Schottland und England bietet wenige Häfen, die zu jeder Zeit angelaufen werden können. Entweder man macht lange Schläge, oder man muss sehr genau planen. Ich entscheide mich für die Langstrecke von Wick im Nordosten Schottlands nach Peterhead, einem größeren Ort mit Fischerei- und Industriehafen und einer geschützten Marina am Ende der großen Bucht. Hier machen meist die Segler aus dem Süden fest, die weiter in den Neukaledonien-Kanal möchten.

Eine Bö drückt mich voll auf die Seite – ein erster Fingerzeig von Rasmus

Als ich Peterhead verlasse und außerhalb der langen Kaimauern mein Vorsegel ausrolle, drückt mich eine Bö voll auf die Seite – ein erster Fingerzeig von Rasmus, dem weitere folgen. In einem Moment ist es so schwachwindig, dass ich ernsthaft überlege, das Groß zu setzen, und fünf Minuten später kämpfe ich mit einem zum Handtuch weggerollten Vorsegel gegen Urgewalten an. Weil es ablandig bläst, sind die Böen besonders tückisch.

Der Wind ist es, der mich am Ende dazu bringt, in Aberdeen reinzugehen. Die Stadt hat keine Marina; so frage ich auf Kanal 12 nach einem Platz im Gewerbehafen, der wenig Gemütlichkeit verheißt: Drei Meter Tide an einer rostigen Mole für 30 Euro die Nacht, ohne Toilette, Dusche, Internet, das kriegt man selten.

Auch der nächste Tag wird anstrengend, ein im Bau befindlicher Windpark stellt sich der „African Queen“ in den Weg, und ich werde über Funk aufgefordert, das Gebiet weiträumig zu umfahren. Bei zunehmendem Wind und Seegang ein schwieriges Unterfangen. Der achterliche Wind dreht im Lauf der Nacht weiter auf. Als ich bei einsetzender Dunkelheit am Niedergang stehe und die Wellenberge beobachte, wie sie das Heck von hinten anheben und das Boot beschleunigen, bemerke ich, wie abgeklärt ich mittlerweile bin und wie viel Vertrauen ich in mich und das Boot gewonnen habe. Bei Bedingungen, die mich früher nervös gemacht hätten, kann ich mich jetzt unten hinlegen und schlafen.

Whitby, wo einst James Cook zum Seemann reifte, wird zum letzten Hafen in englischen Gewässern. Der Erholungsort mit historischen Holzhäusern und der Ruine einer alten Abtei wirkt einladend. Ich starte einen ausgiebigen Fish-&-Chips-Test, der den Tipp vom Hafenmeister bestätigt: „Papa’s“ macht die besten.

Von hier plane ich, in einem langen Schlag nach Vlieland zu segeln, die Königsetappe meiner Nordseerunde. Die Seekarte zeigt alle Hindernisse, die der Sport zu bieten hat – neben Windparks, Bohrinseln und einem Trainingsrevier für U-Boote folgen auf den letzten Meilen, wenn die Müdigkeit langsam die Oberhand gewinnt, noch drei Verkehrstrennungsgebiete.

Die Schwenkbrücke von Whitby entlässt mich und zahlreiche andere Segler aus der Marina, an der Promenade vorbei, durch den Molenkopf hinaus aufs Meer. Die meisten gehen nach Norden, einer nach Süden, nur ich segle weg von der Küste. Anfangs kreuze ich bei leichter Brise auf. Erst als der Wind im Laufe der Nacht dreht und später auffrischt, kommt mein Halbtonner richtig ins Laufen. Am ersten Abend muss ich einen riesigen Windpark umsegeln, der laut Papierkarte eigentlich noch im Bau sein sollte. Auf Kanal 16 gibt ein Kriegsschiff seine Position durch mit dem Befehl, Abstand zu halten. Die unendliche Weite des Meeres schrumpft an manchen Stellen der Nordsee auf Bierdeckelgröße zusammen.

Wie vorhergesagt dreht der Wind zu meinen Gunsten, nimmt noch etwas zu und beschleunigt die „Queen“ und mich auf teilweise acht Knoten. Plötzlich knallt eine besonders große Welle gegen den Rumpf, fliegt waagerecht über das Boot, vorbei an der Sprayhood. Ich schaue durch den Niedergang gebannt zu, sehe dem fliegenden Wasser nach und fühle mich ein bisschen wie Boris Herrmann. Jetzt nur bitte nicht kurz vor dem Ziel ein ähnliches Schicksal erleiden; auf eine Kollision mit einem Fischtrawler kann ich nach Wochen ohne Zwischenfall gut verzichten.

Als ich allmählich müde werde, ist die Gelegenheit zu schlafen bereits verstrichen. Wir nähern uns den Verkehrstrennungsgebieten, dem Abschnitt meiner Reise, vor dem ich am meisten Respekt habe. Und so bin ich plötzlich wieder hellwach. Einige Frachter passieren an Steuerbord, ich muss Geschwindigkeit reduzieren, rolle das Vorsegel ein und fiere das Groß.

Vorsichtig gehe ich hinter dem nächsten Frachter durch. So passiere ich bei aufgehender Sonne und viel Schiffsverkehr die „Autobahnen der Seefahrt“. Dann ist es geschafft. Voraus wird die kleine Insel Vlieland langsam größer.

Erleichterung legt sich über die Müdigkeit. Und dieses unbeschreibliche Gefühl von Glück.

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