Jan Zier
· 27.09.2022
Ingo Kramer ist neuer Vorsitzer der Seenotretter. Ein Gespräch über Rettungseinsätze, die Vorsicht der Segler und das ungute Gefühl, außenbords zu sein
Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) hat im Juni im Ostseebad Kühlungsborn Ingo Kramer zu ihrem neuen Vorsitzer gewählt. Zuvor war er einer der beiden Stellvertreter und schon seit 1996 Mitglied des Beschlussfassenden Gremiums der Seenotretter, das gewissermaßen das Parlament der DGzRS ist.
Kramer löste Gerhard Hader ab, der das Amt des Vorsitzers seit 2010 innehatte. In seiner Zeit lösten insgesamt 30 hochmoderne Seenotrettungsneubauten ihre jeweiligen Vorgängerboote ab. „Ich freue mich sehr auf meine neue Aufgabe, weil ich auf See wie an Land Teil eines sehr professionellen und engagierten Teams bin“, sagte Kramer nach seiner Wahl.
Überregional bekannt wurde der heute 69-jährige Bremerhavener als Arbeitgeberpräsident. Wir trafen ihn an Bord des Seenotrettungskreuzers „Hermann Rudolf Meyer“, auf dem er als freiwilliger Rettungsmann auch selbst Dienst tut.
Das ist eine der schönsten Aufgaben, die ich je im Leben hatte! Ich bin schon sehr lange bei den Seenotrettern und sitze bereits seit 2010 als Stellvertreter im dreiköpfigen ehrenamtlich tätigen Vorstand. Als Bremerhavener hat man ja auch immer mit der See zu tun; die Seenotretter sind hier also eine Art vertraute Alltäglichkeit.
Eine Organisation mit rund 60 Schiffen, fast 200 fest angestellten und etwa 800 ehrenamtlichen Seenotrettern ist wie eine kleine Reederei, aber mit einem sehr speziellen Auftrag. Es gibt für das operative Geschäft einen kaufmännischen und einen nautisch-technischen Geschäftsführer. Der Vorstand ist vor allem für Grundsatzentscheidungen zuständig und trägt die Gesamtverantwortung.
Ja. Ich bin seit 2012 freiwilliger Seenotretter auf dem Seenotrettungskreuzer „Hermann Rudolf Meyer“ hier in Bremerhaven, der eine vierköpfige, fest angestellte Besatzung hat. Es gibt einen Vormann, einen Maschinisten und zwei Rettungsmänner. Bei Urlaub oder Krankheit springen hin und wieder ausgebildete, freiwillige Rettungsmänner und -frauen ein, von denen ich einer bin. Ich fahre dann im Einsatz auch das Tochterboot „Christian“.
Meistens bin ich für eine Woche rund um die Uhr an Bord, außer morgens, wenn ich mal Brötchen holen gehe. Im Hafen macht jeder alles: Wir sind mit Instandsetzung, Routinearbeiten, Pflege und Wartung immer beschäftigt. Der Kreuzer muss ja jederzeit binnen weniger Minuten auslaufen können. Auch Revierkunde ist wichtig; wir müssen unser Revier bei jedem Wetter ganz genau kennen. Wer anderen helfen will, muss schließlich zuerst selber sicher sein. Da muss man immer wieder üben, üben, üben. Denn meist ist der Mensch der Schwachpunkt, nicht das Boot.
Ich zähle das nicht so genau. Im Sommer letzten Jahres hatten wir hier mal drei Einsätze an einem Tag: Zuerst war es ein Boot mit Motorschaden vor Blexen, kurz danach hatte ein Segler vor Brake an der Unterweser ein Problem. Und kaum kamen wir zurück, lief abends bei ablaufendem Wasser auf einem Prickenweg nördlich von Bremerhaven eine Yacht auf Grund: Wind kam auf, der Skipper war schon älter und zudem allein an Bord. Ich habe ihn dann mit dem Tochterboot und ziemlicher Mühe aus dem Sand freigeschleppt. Da war es schon stockfinster.
Nicht jeder dieser Rettungseinsätze ist lebensbedrohlich. Aber wenn er nicht stattfindet, dann kann es unversehens doch gefährlich werden. Einen auch für mich lebensbedrohlichen Einsatz hatte ich noch nicht – zum Glück! Wichtig ist, dass man so schnell vor Ort sein kann, dass sich größere Schäden verhindern lassen. Bei unseren 55 Stationen an Nord- und Ostsee klappt das in den allermeisten Fällen ganz gut.
Wir haben meist etwa 2.000 bis 2.200 Einsätze im Jahr, 2020 waren es etwa 300 weniger, doch schon im vergangenen Jahr sah es wieder anders aus. Mein Eindruck ist: Das Gros der Freizeitsportler ist bemüht, sich auf die gegebenen Umstände ordentlich vorzubereiten, Schulungen zu absolvieren, die richtigen Papiere zu haben. Und ihre Schiffe sind in der Regel auch gut ausgestattet. Es gibt ja heute so viele Möglichkeiten, sich auszubilden. Einzelfälle, bei denen das alles anders aussieht, hat es auch in der Vergangenheit immer schon gegeben.
»Kein Seenotretter liebt den Sturm. Aber wir trauen uns das zu. Doch jeder schöne Sonnenuntergang fasziniert uns mehr«
Wir haben über all die Jahre ein sehr beständiges, annähernd gleiches Spendenaufkommen und dürfen uns über die Treue unserer Spender nicht beklagen – ganz im Gegenteil! Die Seenotretter genießen bei ihnen einen sehr hohen Stellenwert. Bisher sind da keine Einbrüche im Spendenaufkommen zu verzeichnen – und wirtschaftliche Krisen gab es in den zwölf Jahren, die ich nun im Vorstand sitze, immer wieder. Es gibt auch bei jungen Menschen eine Begeisterung für die Seenotretter. Ich bin da also optimistisch.
Nichts! Kein Seenotretter liebt den Sturm. Aber wir trauen uns das zu. Wir haben keine Angst vor der See, dafür haben wir zu viel trainiert. Aber wir haben immer Respekt. Jeder schöne Sonnenuntergang fasziniert uns mehr als ein Sturm.
Ich bin in Bremerhaven aufgewachsen, meine Eltern hatten zwar mit dem Schiffbau, aber nicht selbst aktiv mit der Seefahrt zu tun. Ich kam dann als Wehrpflichtiger zur Marine, und diese Zeit hat mich sehr geprägt: Als Navigator ausgebildet, wurde dort, ganz unplanmäßig, meine Leidenschaft für die Seefahrt geweckt. Während meines Wirtschaftsingenieur-Studiums in Karlsruhe habe ich meine Sportbootführerscheine gemacht, dann habe ich mit Kommilitonen begonnen, Boote zu chartern. Heute bin ich Teil einer Segelcrew, mit der ich 1975 das erste Mal gesegelt bin, also vor fast 50 Jahren! Seither waren wir jedes Jahr eine Woche zusammen segeln.
Ja, wenn auch erst seit etwa zwölf Jahren: eine sehr seetüchtige Nordship 40 mit einem schönen Holzausbau. Wir sind eine sechsköpfige Familie, und auch die drei Jungs segeln seit Anbeginn mit jeweils eigenen Crews die Yacht. Ein Schiff für mich alleine würde sich ja sonst gar nicht lohnen. Es liegt in Flensburg, auch wenn als Heimathafen Bremerhaven am Heck steht.
Die dänische Südsee, die schwedischen Schären, die deutsche Ostseeküste vor allem um Rügen: Das ist für mich als Tourensegler unschlagbar und durch nichts zu ersetzen. Auch wenn das Revier hier an der Nordsee vor Bremerhaven sehr spannend, abwechslungsreich und nautisch herausfordernd ist. Der Reiz einer Ankerbucht vor Lyø ist für mich größer als der, die Gezeiten auszusegeln. Mein zweitältester Sohn hat sich aber gerade ein kleines Waarschip gekauft, das bei ihm in Bremerhaven liegt.
Nein. Aber einmal hat mir in der Hohwachter Bucht die DLRG geholfen, als ich in Strandnähe immer wieder mit einem geliehenen Sportkatamaran kenterte, bei dem ein Rumpf voll Wasser gelaufen war. Ich bin aber vor 25 Jahren einmal außenbords gegangen.
»Wenn man im Meer schwimmt und sieht, wie schnell so ein Boot kleiner wird, ist das plötzlich eine völlig andere Perspektive«
Das Wetter war sehr sommerlich, der Wind wehte mit 4 Beaufort, die Welle war nicht zu hoch, traumhaftes Segelwetter also. Ich stand mit einer Hand am Großbaum angelehnt, doch dann brach plötzlich ein Schäkel an der Talje der Großschot. In der Folge wehte das Großsegel aus, das Boot bewegte sich ruckartig – und schon lag ich draußen im Wasser. Ich trug aber natürlich eine Rettungsweste. Doch wenn man dann im Meer schwimmt und sieht, wie schnell so ein Boot kleiner wird, ist das plötzlich eine völlig andere Perspektive. Da bekommst du schon ein komisches Gefühl. Das war mir eine Lehre! Zumal meine Rettung durch meine seit Studienzeiten routinierten Mitsegler gefühlt sehr viel länger dauerte, als es objektiv der Fall war.
Ich sehe da keine Verschlechterung und glaube, dass das Bewusstsein für die möglichen Risiken bei den allermeisten Seglern sehr groß ist. Es kann – das zeigt mein eigener Fall – ja auch ganz unerwartet mal brenzlig werden. Der Stellenwert der Freizeit nimmt zu, aber das geht auch einher mit einer Zunahme an Informationen. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder noch die terrestrische Navigation beherrscht. Aber dank all der oft auch redundant vorhandenen elektronischen Helfer an Bord ist das Bewusstsein dafür nicht mehr so ausgeprägt. Für mich ist eine Versegelungspeilung auch heute kein Problem. Da hilft die Routine, deswegen habe ich mit meinen Kindern viele Nachtfahrten gemacht – eine der schönsten für mich ist bis heute die bei Dunkelheit durch den Svendborgsund.
Neben aller guten Ausbildung und dem guten Zustand aller Einrichtungen, die man an Bord so hat, ist es wichtig, sich ein gutes Gefühl für möglicherweise brenzlige Situationen zu bewahren. Man sollte sein Bauchgefühl und den sechsten Sinn nie außer Acht lassen. Man sollte sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen und immer mit einem wachen Verstand bei der Sache sein. Im Zweifelsfall ist es immer besser, weniger zu machen, mal im Hafen zu bleiben und auf Nummer sicher zu gehen, gerade als Skipper. Ich zum Beispiel laufe in aller Regel nicht aus, wenn mehr als sechs Windstärken wehen.
Der Wirtschaftsingenieur stand von 1982 bis 2018 als geschäftsführender Gesellschafter der J. H. K.-Gruppe vor, einem Anlagenbauer mit Sitz in Bremerhaven. Kramer ist FDP-Mitglied und war von 2013 bis 2020 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Er hat vier Kinder und ist passionierter Segler.
Wie die DGzRS organisiert und geführt wird