Boote, die in einem „jämmerlichen Zustand“ sind, üben eine Faszination auf Manfred Jacob aus. Schon 1976, als er, gerade 20, zusammen mit einem Freund einen 30er Jollenkreuzer von De Dood rettet. Nach einer Sturmflut hat der ein großes Loch im Rumpf. Jacob kauft ihn für 2.000 D-Mark. „Holzboote galten damals nichts“, sagt er rückblickend und erzählt, wie sie das Schiff weiß lackiert und einen Anti-Atomkraft-Aufkleber draufgeklebt haben, denn Jacob demonstriert damals in Brokdorf – „gewaltfrei“, wie er betont.
Es ist der Auftakt eines Lebens mit und für die klassischen Jollen – insbesondere die 22-qm-Rennjollen, besser bekannt als J-Jollen. Seit mehr als 20 Jahren ist Manfred Jacob deren Klassenpräsident. Im Freundeskreis Klassische Yachten verantwortet der Hamburger seit dessen Gründung das Themengebiet der Jollenklassen. Und noch heute, im Rentenalter, segelt er drei eigenhändig restaurierte Jollen.
Den Jolli taufen die Freunde 1976 „Elch“ und segeln zu sechst bis nach Helgoland. Als er verkauft wird, kann Jacob vom Erlös eine sechsmonatige Rucksackreise durch Mittel- und Südamerika finanzieren. Schon als 17-Jähriger hatte er seine Reiselust entdeckt und ist, nachdem er seinem Piraten ein neues Deck aus Mahagoni-Sperrholz verpasst hat, damit auf der Elbe und bis nach Dänemark gesegelt.
„Das war die Freiheit“, sagt Jacob. Sie wurde ihm früh eröffnet. Als kleiner Junge segelt er mit seinem Vater auf einer Jolle über den Selenter See in Schleswig-Holstein. Und als er zwölf ist, bekommen sein Bruder und er ein geklinkertes Dinghy aus Eiche. Mit einer Mickey Mouse als Segelzeichen im Großsegel.
Ein 30er Jollenkreuzer sei heute noch sein Traum, sagt Manfred Jacob. Das irritiert ein wenig, denn sein Name ist in der Szene seit Jahrzehnten untrennbar mit der J-Jolle verbunden, die er seit 1979 segelt.
Für die Familie kauft und restauriert er 1992 trotzdem „nebenbei“ einen alten DDR-Jollenkreuzer. Doch das Glück währt nur kurz. „Segeln liegt mir überhaupt nicht“, sagt Jacobs Frau Heilwig. Wehe der Wind mit mehr als 3 Beaufort, bekomme sie Angst. Segeln bedeute für sie im Grunde entweder Stress oder Langeweile. Also wird das Boot – unter Schmerzen – schon bald wieder verkauft. Der Traum ist aus.
„Das ist wohl die schlimmste Verletzung, die ich dir jemals zugefügt habe“, sagt Heilwig Jacob zu ihrem Mann. Die Malerin studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Ihr Atelier hat sie unter dem Dach der gemeinsamen Altbauwohnung im Hamburger Szene-Stadtteil Ottensen. Lang ist die Liste ihrer Ausstellungen.
Manfred Jacob, der bis heute sein „Pink Floyd“-Shirt vom legendären Album „The Dark Side of the Moon“ trägt, hat sich gleich neben ihrem Atelier seine kleine Werkstatt eingerichtet, wo er an Bootsteilen werkelt. Seit 1978 leben die beiden nun schon zusammen.
Als Jacob seinen Jollenkreuzer Mitte der Neunziger verkauft, ist er schon fest in der J-Jollen-Gemeinde verwurzelt, wo man von I-Jolle spricht, obwohl sie sich nach dem Segelzeichen mit einem J schreibt. Seine erste eigene J-Jolle hatte er schon 1979 hinter dem Nordseedeich in Friedrichskoog entdeckt. Das Boot ist damals in einem „jämmerlichen Zustand“.
Das meiste fehlt: Rigg, Schwert, Deck, Spiegel, Bodenbretter. Doch einmal mehr wird der Enthusiast von diesem jämmerlichen Zustand nicht abgeschreckt, sondern angezogen, und er kauft das Wrack für 500 D-Mark. Die Geschichte, dass die 1924 gebaute „Sir Willi von Ottensen“ einmal seinem Vater gehörte, ist vielleicht bloß eine Legende. Gerettet hat er das Schiff aber trotzdem. Innerhalb nur eines Jahres ist alles wieder gerichtet, und Jacob segelt damit durchs holländische Wattenmeer.
Irgendwann kennt Jacob jede noch existente J-Jolle, und als sich 1991 die Gelegenheit bietet, kauft er die von Reinhard Drewitz konstruierte „Fram“, ein Schwesterschiff von Manfred Currys „Mephisto“. Die Beschäftigung mit dem Boot von 1924 führt in die Geschichte der Klasse.
Deren Entstehung geht zurück auf das Jahr 1909. Der Deutsche Segler-Verband suchte damals ein billiges Ausbildungsboot für den Nachwuchs und schuf mit der J-Jolle die erste nationale Jollenklasse überhaupt. Vorgegeben war im Wesentlichen, dass Länge und Breite zusammen 7,80 Meter ergeben müssen, das Boot aber mindestens eine Breite von 1,70 Meter hat. Die Takelung war völlig freigestellt, doch die Steilgaffel war überlegen.
Als echte Konstruktionsklasse entwickelte sich die J-Jolle rasch. „Bald wurde sie zur Hightech-Maschine“, sagt Manfred Jacob, der seit über 20 Jahren Klassenpräsident ist. „Sie war ein Traumboot ihrer Zeit.“ Prominente Segler wie der Weltmeister im Starboot von 1938, Walter von Hütschler, oder der Olympiasieger im Starboot von 1936, Peter Bischoff, segelten J-Jolle.
Die J-Jolle ist die treue Ehefrau, die Z-Jolle die rassige, moderne Frau
Das forderte auch die Konstrukteure heraus. Unter den Rissen standen so bekannte Namen wie Carl Martens, Reinhard Drewitz oder Manfred Curry. Der verglich die J-Jolle etwas spöttisch mit einer „zuverlässigen, treuen Hausfrau“, während die konkurrierende Z-Jolle – sie war deutlich schlanker – für ihn „eine moderne, rassige, lebendige Frau“ war, die, so Curry, allerdings etwas teurer sei. Die J-Jolle gleite zwar auch, aber nicht mit dieser Geschwindigkeit und erst bei größeren Windstärken: „Man hat unleugbar das Gefühl, als ob irgendwo ein Eimer im Wasser nachschleppt, der das Boot zurückhält“, schrieb Curry.
Mit 22 Quadratmeter Segelfläche verfügt die übertakelte J-Jolle indes über sieben Quadratmeter mehr Segeltuch als die 15-qm-Wanderjolle, besser bekannt als H-Jolle – bei nahezu identischen Abmessungen. Wenn die Elb-H-Jolle ein „Ackergaul“ wäre, sei die J-Jolle ein „Vollblüter“, hat mal jemand gesagt. „Sie stellt an die Mannschaft die höchsten Anforderungen. Aber das gerade reizt den Rennsegler, er liebt die hohe Schule des Jollensegelns“, heißt es in einer Hymne auf die J-Jolle von 1941.
Manfred Jacob ist, als er 1991 die „Fram“ übernimmt, neuerlich dem Reiz eines jämmerlichen Zustandes erlegen. Er investiert drei Jahre, 1.000 Stunden Arbeit und 15.000 D-Mark in das Boot. 30 Spanten müssen erneuert, Tausende von Kupfernieten nachgeschlagen, die Plankennähte aufgefräst und ausgeleistet werden, bevor der Rumpf nach wochenlangen Schleifarbeiten wieder versiegelt werden kann. Neben dem Deck tauschte er das Rigg komplett aus. Der studierte Physiker und heute frisch verrentete Programmierer hat eigens ein Programm zur Gaffelsegel-Berechnung geschrieben.
Die „Fram“ wird auch nach der Restaurierung liebevoll gepflegt. Als der Mast geschäftet werden muss, schafft Jacob ihn über den Balkon in seine Altbauwohnung im ersten Stock. Während der Weihnachtstage ragt die Spiere bis ins Wohnzimmer, aber die Werkstatt unter dem Dach ist dafür ja einfach zu klein.
Mit seiner auf Speed getrimmten „Fram“ schaffte Manfred Jacob schon Geschwindigkeiten von mehr als 18 Knoten. Daheim erinnert ein hölzernes Modell der J-Jolle „Aera II“ mit blauem überlangen Kiel den begeisterten Segler stets an Abenteuer wie dieses. Manfred Curry gewann mit dem Original 1938 den Seglerhauspreis in Berlin. Der galt damals als inoffizielle Deutsche Meisterschaft aller Jollensegler.
Die Geschichte von gut 1.000 klassischen Jollen hat Manfred Jacob schon recherchiert und in einem Archiv dokumentiert, das sich „in ständigem Aufbau“ befindet. Allein von den J-Jollen existieren noch rund 100 Exemplare und sind im Yachtregister des Freundeskreises Klassische Yachten gelistet. Bei dessen Gründung ist Manfred Jacob 1994 dabei. Zwei Jahre später verfasst er für den Verein die Abhandlung über die „Entstehung und Entwicklung der Verbands-Jollenklassen in Deutschland“. Bis heute ist Manfred Jacob beim Freundeskreis der Ansprechpartner für alle Fragen rund um die Jollenklassen. Auch der J-Jolle widmete er 1999 zum 90. Geburtstag eine ausführliche Festschrift.
Als das älteste Boot der Flotte 1996 abgewrackt werden soll, ist es Manfred Jacob, der es rettet. Wie nicht anders zu erwarten, fühlt er sich vom „jämmerlichen Zustand“ angesprochen. Planken, Spanten und Bodenwrangen sind lose und vermodert, der Kielbalken ist gebrochen. Das Leichentuch aus Polyester hat sich vom Boot gelöst. Das 1922 von Willy von Hacht gebaute Schiff soll eine Feuerbestattung bekommen. Also kauft Manfred Jacob es für 1.000 D-Mark – weil es ja noch einen Trailer dazu gibt. Seine Idee: „Ich wollte sie als Daysailer auf der Elbe segeln, zusammen mit meinem Sohn Marek.“
Der ist da gerade mal fünf. Ein Foto aus dem Folgejahr zeigt ihn bereits in Ölzeug und Schwimmweste im Großsegel der „Woge“ liegend. „Wir segelten damals zehn Tage auf der Müritz, durch die Kanäle in den Plauer See und zurück“, erzählt der Vater. „Das war Abenteuer pur.“ Muss er Segel bergen oder reffen, steuert das Kind. Nachts wird unter der Persenning auf den Bodenbrettern geschlafen, gekocht wird wie beim Zelten.
„Kaum dass die ‚Woge‘ heil war, war er mit Marek auch schon unterwegs“, sagt Heilwig Jacob und lobt die „tolle Vater-Sohn-Beziehung“. Später segeln beide zusammen auf der Schlei, den Friesischen Seen, der Havel, den Boddengewässern, aber auch mehrmals in Finnland.
Im Sommer 2012 fahren die beiden auf der „Woge“ sogar 400 Kilometer die Elbe runter, vom tschechischen Lovosice bis nach Magdeburg. „Um großartige Dinge zu erleben, braucht es keine dicke Yacht“ schreibt die YACHT dazu. Und Manfred Jacob ist tatsächlich einer, der nie eine dicke Yacht brauchte.
Zum 100. Geburtstag seiner „Woge“ im vergangenen Jahr hat der heute 67-Jährige den aus Gabun und Eiche gefertigten Rumpf noch mal rundum neu lackiert und am Bug eine gülden glänzende Plakette befestigt. Dann lud er zum Festakt mit Laudatio in den Mühlenberger Yachthafen an der Elbe.
Die ‚Woge‘ ist unsterblich“
„Die ‚Woge‘ ist unsterblich“, sagt Manfred Jacob heute. „Das neue Yachtgeschichtsbewusstsein scheint für viele Jollen gerade noch zur rechten Zeit gekommen zu sein“, schrieb er schon 1996: „Es könnte heute zur Rettung der letzten noch erhaltenen Boote beitragen.“
Die „Woge“ jedenfalls ist weiterhin unterwegs: Als die YACHT classic mit an Bord ist, fegt der Wind mit 6 Beaufort über die Elbe. Nur ganz wenige Segler trauen sich an diesem Tag noch dort hinaus, wo man auf die Kulisse des edlen Hamburger Vorortes Blankenese blickt. Die J-Jolle rauscht auch im dritten Reff und mit der Fock eines Piraten noch in wilder Fahrt über die Elbe, die an der Kreuz bei jeder Welle in hohem Bogen ins Cockpit spritzt, wo sie gurgelnd wieder rausgelenzt wird. Für eine Rennjolle sei die „Woge“ „gutmütig“, sagt Jacob dann. Und inzwischen „eher langsam“. Sie soll ja ein Daysailer sein, also darf sie auch 80 Kilogramm mehr wiegen als die „Fram“.
1937 gewann sie gegen 45 Konkurrenten ihren wichtigsten Preis – das „Blaue Band der Niederelbe“, eine durchaus prestigeträchtige Regatta. Damals war das ein Nachtrennen von 60 Seemeilen Länge, das nach knapp elf Stunden in Cuxhaven endete. Die Jolle ist also durchaus langstreckentauglich. Im Laufe der Jahre hat Manfred Jacob nicht nur ihre Bodenwrangen und den Mastfuß, sondern auch den Schwertkasten seiner „Woge“ erneuert und den Steven wieder begradigt. Damit der wieder aussieht wie früher. „Ich gebe mir alle Mühe, die ‚Woge‘ klassisch erscheinen zu lassen“, sagt Jacob.
Ein paar Modernisierungen hat er sich trotzdem erlaubt – er ist keiner, der um jeden Preis jenen Zustand erhalten will, in dem die „Woge“ einst ausgeliefert wurde. Also wurde der Wellenbrecher gekürzt, also gibt es Ausreitgurte und eine Rollfock mit Furler aus Kunststoff, der auf anderen Klassikern verfemt wäre. Dafür ist die Bordapotheke stilecht in Holz gehüllt, und Bordelektronik fehlt auf der „Woge“ ebenso wie ein Außenbordmotor. Stattdessen wird gewriggt.
Aber immer nur segeln gehen: Das ist dann auch nichts für Manfred Jacob. Selbst wenn er sich zuletzt noch eine 70 Jahre alte Elb-H-Jolle gekauft hat. Weil sie etwas unkomplizierter ist als die J-Jollen und weil ihm ein Boot für die Mittwochsregatten auf der Alster fehlte, wo die Jolle ihren Liegeplatz hat.
Einen Tag nach seinem 60. Geburtstag setzt er sich in Hamburg auf sein neues Trekkingrad und fährt damit nach Budapest, gut 1.500 Kilometer sind das. Israel ist sein Ziel, aber das scheitert zunächst am Krieg in Syrien. Also radelt er, in Etappen von je vier Wochen, weiter von Budapest nach Istanbul, von Istanbul nach Zypern und von dort weiter über den Balkan. Und, nein, es ist kein E-Bike.