SeemannschaftNachtfahrt mit dem Segelboot – keine Angst im Dunkeln

Stefan Schorr

 · 23.03.2023

Mystische Stimmung auf der „Peter von Seestermühe“ während einer Nachtfahrt  von Kiel nach Flensburg
Foto: YACHT/S. Hucho

Eine Nachtfahrt ist einerseits praktisch. Sie vergrößert die Reichweite enorm und damit die Möglichkeiten. Vor allem aber liefert sie mächtige Erlebnisse. Es gibt gute Gründe, die Nacht auf See zu verbringen. Nur Mut!

“Die Nacht ist keines Menschen Freund, am wenigsten aber des Seemanns.“ Das schrieb 1871 der Kapitän Carl Koldewey in seinem Bericht über die erste deutsche Nordpolar-Expedition. Viereinhalb Monate standen er und seine Crew auf dem relativ kleinen Schiff ohne Hilfsmotor in mit Eis verstopften Gewässern unter Daueranspannung. Vor allem in den Nächten.

Heutige Segler – zumal solche, die nicht in die extremen Breiten vordringen – haben es da deutlich leichter. Dennoch sind Touren über Nacht oder gar über mehrere Nächte für viele Crews die absolute Ausnahme. Schade eigentlich, erhöht sich dadurch der Aktionsradius doch ganz beträchtlich.

Und abgesehen vom rein Zweckdien­lichen: Nachtfahrten verzaubern mit einer ganz besonderen Stimmung. Der Weltumsegler Wilfried Erdmann schreibt auf seiner Homepage: „Es gibt Nächte auf See, gerade im Norden, da könnte man glatt vergessen, dass die Fahrt ein Ziel hat. Die Sonne versinkt. Es wird still. Jeder beobachtet das Aufziehen der Sterne. Taucht in der Dunkelheit unter. Hier und da ein geheimnisvolles Leuchten, das plätschernde Bugwasser.“

Grundlagen für eine Nachtfahrt

Um durchsegelte Nächte weniger geschlaucht zu „überstehen“, hilft etwas Grund­lagenwissen über Schlaf, Schlaf­phasen, benötigte Schlafdauer und -intervalle. Wer sich darüber hinaus die verfügbaren technischen Hilfsmittel zunutze macht, wird selbst mit kleiner Crew oder allein mehrere Seetage am Stück recht erholt bewältigen und sich ganz auf die Schönheit der Langstrecke kon­zen­trieren können.

“Wir haben uns über Wachpläne überhaupt keine Gedanken gemacht.“ Die Aussage von Stefan und Annette Wendl überrascht, vor allem angesichts der Weite ihrer Reise. 2014 startete das Ehepaar aus Lehrte bei Hannover mit seinen drei Kindern Torge (bei der Abreise 6 Jahre alt), Neele, 8, und Lasse, 10, zur einjährigen Nord­atlantikrunde inklusive zwei Ozeanüberquerungen: „Wir sind von Hamburg aus direkt in die erste Nacht hinein gestartet und bis Borkum durchgefahren“, erinnert sich Annette Wendl, 41. „Annette hat mich irgendwann in die Koje geschickt “, erzählt Stefan Wendl, 43. „Sie würde uns schon aus der Elbe rausbringen. Da wir kaum Nachtfahrt-Erfahrung hatten, fühlte sich das erst mal komisch an.“

Die Taktik wurde für den gesamten Törn und somit auch bei einer Nachtfahrt beibehalten. Die Skipperin fuhr die Beneteau 423 Clipper „Anne“ in die Nacht hinein und weckte ihren Mann, wenn die Müdigkeit überhand nahm. „Das war mal um Mitternacht, aber auch mal um eins oder zwei.“ Zwischen zwei und vier Uhr nachts fiel ihr das Aufstehen unverhältnismäßig schwer. Deshalb wurde das – wenn irgend möglich – verhindert. Am Morgen wurde mit den Kindern gefrühstückt. Insgesamt schliefen die Eltern immer dann, wenn sie müde waren.

Der Wachwechsel bei Nacht

Wachwechsel nach Lust und Laune – das ist sicher nicht die Regel, und das Prinzip ist unbedarften Nachtfahrern auch nicht angeraten. Es sei denn, es handelt sich nur um eine Nacht, die durchsegelt werden soll, das geht immer irgendwie. Aber etwa auf längeren Überführungstörns ist eine feste Struktur von Wache und Freiwache allemal sinnvoll.

Bei den Wendls hat es auch so funktioniert, unter anderem, „weil wir unterschiedliche biologische Rhythmen haben“, wie Stefan Wendl erzählt. „Wir waren nie zur gleichen Zeit beide so müde, dass wir schlafen mussten.“

Wichtig war dabei das Wissen, sich immer auf den jeweils anderen verlassen zu können. „Weil ich Annette 100-prozentig vertraue, kann ich mich hinlegen und einschlafen“, sagt Stefan Wendl. Er weiß genau, dass seine Frau die Eieruhr gewissenhaft nachstellt, die alle 15 Minuten signalisiert, dass der Rundum-Ausguck fällig ist. Und dass sie in einer unklaren Situation auf Nachtfahrt nicht die Heldin spielen, sondern ihn rechtzeitig wecken würde.

Der Körper muss sich eingewöhnen

Zwei, drei Tage dauernde Etappen haben die Eheleute als besonders anstrengend empfunden, obwohl sie naturgemäß auch sehr viel länger am Stück unterwegs waren. „Da muss der Körper sich erst wieder ans Unterwegssein und den unregelmäßigen Schlaf gewöhnen“, sagt Stefan Wendl. Erst nach drei bis vier Tagen spielte sich das Leben an Bord der „Anne“ so gut ein, dass es bald egal war, ob die Reise dann noch drei oder vier Wochen dauerte.

„Mit Technik kann man sich das Leben so einfach machen“, lau­tet von allem auch in Bezug auf die Nachfahrt eine wich­tige Erkenntnis der beiden. „Als De-facto-Zweiercrew würde ich nicht mehr ohne aktives AIS und Radar in die Dunkelheit fahren“, sagt Stefan Wendl. Insbesondere die Großschifffahrt verlor so ihren Schrecken. Ging der AIS- oder Radar-Alarm tatsächlich mal an, hatte das Skipperpaar immer ausreichend Zeit, über Funk die Situation zu klären. Auf dem Atlantik wurde der CPA (Closest point of approach, Passierabstand) auf zwei bis drei Seemeilen eingestellt, die Zeit bis zum Erreichen dieser kritischen Distanz (TCPA – Time to CPA) auf 30 Minuten. In dicht befahrenen Gewässern wurde auf 0,5 Seemeilen und zehn Minuten reduziert. So blieb ein vernünftiges Maß zwischen Gefahrenmeldung und Reaktionszeit gewährleistet.

Unverzichtbare Hilfsmittel bei einer Nachtfahrt

Auch für Kornelia Wellbrock und Juergen Sticher sind aktives AIS und Radar unverzichtbare Hilfsmittel. Die kaufmännische Leiterin und der technische Berater eines mittelständischen Gummiformtechnik-Betriebs haben 2003 ihren Katamaran „Phönix“ gekauft, eine Freydis 46. Da beide nie für längere Zeit am Stück in der Firma fehlen können, unterteilen sie ihre Törns in verschiedene Abschnitte.

Im Sommerhalbjahr segeln sie kurze Törns an der deutschen Nordseeküste. Im September bricht die „Phönix“ dann nor­malerweise gen Süden auf. Meist in drei einwöchigen Etappen kommt sie nach Porti­mão an der Algarve. Von diesem zweiten Heimathafen aus genießen die beiden vom Dümmer so manche winterliche Segel­woche in Portugal. Im Mai werden sie zurück nach Norden überführen.

So kamen zwölf Biskaya-Querungen zusammen, auch mit Abstechern nach Norwegen, Schottland und Irland. Der 71-jährige Sticher und seine 60-jährige Partnerin ver­fügen also über reichlich Nachtfahrt-Praxis. Sie sind bis auf wenige Ausnahmen immer als Zweiercrew unterwegs. Auch sie wechseln ihre Wachen ganz nach dem Maß der Müdigkeit.

Freiwache im Standby-Modus

Die Freiwache schläft dabei im Salon auf dem bequemen Sofa und ist quasi immer auf Standby. „Das ist ein Riesenvorteil des Katamarans“, sagt Sticher. „Der jeweils Wachfreie kann in Sekundenschnelle geweckt, zu Rate gezogen oder eingesetzt werden.“

Wenn die beiden von ihren Nachtfahrten erzählen, dann klingt das beinah gemütlich und hört sich ungefähr so an: Der Wachgänger sitzt die meiste Zeit „ganz bequem“ gleich neben dem Sofa am Kartentisch und geht nur für einen Rundumblick raus. Das Steuern übernimmt derweil die hydraulische Selbststeueranlage. So lässt es sich, wenn das Wetter mitspielt, locker unterwegs sein. „Wir haben Biskaya-Querungen erlebt, die so entspannend waren, dass sie schon langweilig wurden“, sagt Sticher.

Bei größeren Crews sorgt ein fester Wachplan für klare Abläufe. Die feste Frei­wache macht es für manchen leichter, sich ohne schlechtes Gewissen vom Dienst zu verabschieden. Er hat ausreichend Zeit zum Schlafen und bekommt seine Ruhe. Und die Wache wiederum ist in der Regel gut erholt und kann die Aufgaben der Schiffsführung konzentriert bis zum Ende erledigen.

Ein System für die Crew zum Wachen

Welcher Wachplan der richtige, der passende ist, lässt sich pauschal nicht beantworten. Das hängt unter anderem von der Qualität der Crew ab – sind genügend kompetente Wachführer an Bord, sind in allen Wachen Segler mit wesentlichen Fähig­keiten vertreten? – und von ihrer Größe.

Auf stark bemannten größeren Schiffen wird gern im Dreiwachen-System gefahren, von 12 bis 4, von 4 bis 8 und von 8 bis 12 Uhr. Dabei kann der Einzelne selbst bei Lang­streckentörns mehr Schlaf bekommen als im Arbeitsalltag. Sollen die einzelnen Wachen nicht immer zur gleichen Zeit sein, wird die Wachzeit von 16 bis 20 Uhr in zwei zweistündige Intervalle unterteilt, die sogenannten „Plattfüße“. Derartige Varianten sind immer möglich, so kann eine der beiden nicht ak­tiven Wachen etwa als Standby-Crew für grö­ßere Manöver ausgeflaggt werden.

Bei kleineren Crews werden meist zwei oder drei Wachen gebildet, je nach Vorlieben, Notwendig­keiten und der Anzahl geeigneter Wachführer. Schon bei sechs Crewmitgliedern etwa kann das Dreiwachen-System in Zweierteams angewendet werden. Stets ist bei der Zusammenstellung wichtig, dass nicht persönliche Sympathie, sondern das seglerische Können die Besetzung bestimmt. Der Skipper zum Beispiel sollte eine Wache mit dem unerfahrensten Mitsegler bilden. Das sichert nicht nur ein gewisses Niveau – so können zudem Unerfahrenere an Nachtfahrten herangeführt werden, ohne sich gleich überfordert zu fühlen.

Besteht die Crew aus acht Personen, können ebenfalls drei Zweimann-Wachen etabliert werden, und Skipper und Co-Skipper unterstützen alle, aber ohne feste zeit­liche Zuordnung. Apropos: Die Zeiten sollen nie starr, sondern der jeweiligen Situation angepasst werden. So kann es zum Beispiel vorteilhaft sein, anstrengende Nachtwachen auf drei oder sogar zwei Stunden zu verkürzen – etwa bei extremer Kälte, Starkwind, schlechter Sicht oder heftigem Verkehr.

In Absprache mit der gesamten Crew sind also alle möglichen Wachpläne denkbar. Bei vier ähnlich erfahrenen Seglern an Bord können es sogar vier Einmann-Wachen von einer oder zwei Stunden Dauer sein. Längere Wachzeiten werden aber besser mit mindestens zwei Mann besetzt.

Arbeiten neben der Schiffsführung

Das hat neben der Unterhaltung den Vorteil, dass immer jemand da ist, um Arbeiten neben der Schiffsführung zu erledigen: Heißgetränke aufbrühen, Mahlzeiten zubereiten, Backschaft machen und so fort.

Einhandsegler hingegen müssen selbst sehen, wie sie mit der Müdigkeit zurecht und heil durch die Nacht kommen. Das gelingt meistens, wenn sie es schaffen, sich hinzu­legen, bevor sie total erschöpft sind.

Wann der optimale Zeitpunkt dafür ist, damit hat sich Dr. Claudio Stampi beschäftigt. Mehr als 100 Profiseglern half er bei der Vorbereitung auf ex­treme Törns in einem seiner chronobiolo­gischen Forschungsinstitute in Boston und Rom. „Dr. Sleep“, der selbst bei zwei Regatten um die Welt dabei war, hat unter anderen Francis Joyon, Ellen MacArthur und Mike Golding zum kurzen und effektiven Schlafen gedrillt.

Wichtigste Erholungsphase zu Beginn der Schlafperiode

Vereinfacht formuliert, basiert seine Methode auf der Erkenntnis, dass der Körper seine wichtigste Erholungsphase zu Beginn der Schlafperiode erreicht. Deshalb lädt derjenige, der mehrmals kurz schläft, seinen Energiespeicher effektiver auf als derjenige, der einmal lange schläft. Konsequent angewendet, kann man laut Stampi so langfristig mit maximal 50 Prozent des üblichen Schlafs auskommen. Kurzfristig lässt sich die Schlafzeit gar auf 25 Prozent reduzieren.

Auch ohne vorherigen Gang in ein Schlaflabor wandte Nicolai Garrecht aus Bremen diese Taktik an, als er 2012 seine „Troll“ von Griechenland nach Deutschland segelte. „Bevor ich allein startete, erinnerte ich mich an den sogenannten Schlüsselschlaf“, erzählt der 43-Jährige. Dieses nicht unumstrittene Prinzip erklärt sich so: Bevor man sich für ein kurzes Nickerchen hinsetzt oder -legt, nimmt man einen Schlüsselbund in die Hand; mit Beginn der Tiefschlafphase entspannt sich die Muskulatur – die Hand lässt den Schlüsselbund los, und das Scheppern des Aufpralls auf dem Boden weckt den Schläfer auf, der dann schon deutlich erholt ist.

Garrecht gönnte sich nachts auf der Überführung mehrfach solche kurzen Schlafintervalle („Polynapping“) von zwölf Minuten Dauer. „Wichtig war für mich, dass ich mich auf den Kurzschlaf gefreut habe“, sagt er. „Die Vorfreude half, schnell einschlafen zu können. Es war also entscheidend, sich nicht zu viele Gedanken über mögliche Kollisionen oder Ähnliches zu machen.“

Bei wenig Verkehr gönnte sich der Einhandsegler vier solcher Kurzschlafintervalle in der Stunde. Nach dem obligatorischen Rundumblick takelte oder spleißte Garrecht zwei, drei Minuten lang, um sich mit etwas anderem zu beschäftigen und schlief dann wieder zwölf Minuten. „Die Taktik hat gut funktioniert. Ich kam auch nach vier Tagen recht frisch in den nächsten Hafen.“

Nachtfahrt mit Wechsel im Drei-Stunden-Takt

Als Garrecht später mit wechselnden Crewmitgliedern weitersegelte, leiteten er und ein weiterer erfahrener Mann zwei Wachen, tagsüber im sechsstündigen und nachts im dreistündigen Wechsel. Unerfahrenere Mitsegler gingen nachts zum Lernen mit auf Wache, tags steuerten sie lange.

Der Ingenieur für Luft- und Raumfahrttechnik hatte da zwar verlässliche Crew an Bord, aber sein Schlafverhalten war trotzdem immer irgendwie auf Standby. Er nahm die kleinsten Veränderungen von Geräuschen wahr, schlief „deutlich oberflächlicher als zu Hause“ und wachte meistens schon kurz vor dem Ende seiner Freiwache auf.

Verglichen mit vergangenen Zeiten, ist eine Nachtfahrt heutzutage geradezu lächerlich einfach. Elektronische Navigation liefert permanent den korrekten Ort, Autopiloten gestatten Pausen beim ermüdenden Rudergehen, dank des Kurzzeitweckers kann regelmäßig Ausguck gegangen werden, und technische Alarmgeber in Radaranlage oder AIS-Gerät zeigen umgehend drohende Gefahr an. Zudem – ob allein unterwegs oder mit Crew – ermöglicht die gezielte Anwendung von bewährten und erlernbaren Schlaftechniken ein Höchstmaß an Regeneration.

Nur eines kann das modernste Hilfsmittel nicht: den Zauber des Morgens mindern. Es zählt zu den bewegendsten Momenten im Segeln, wenn nach Stunden in Finsternis der neue Tag langsam das Regiment übernimmt. Die Dunkelheit überstanden, der erste Kaffee im ersten Licht des Tages – in diesen Minuten fühlt es sich an, als ob Nächte auf See durchaus Seglers Freunde sind.


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