Das Bestreben einer Segelyacht, selbstständig ihren Kurs zum Wind hin zu ändern, als Luvgierigkeit bezeichnet, ist eine positive Eigenschaft. Luvgierigkeit bewirkt, dass die Yacht schneller segelt. Die Yacht hat mit Luvgierigkeit außerdem die Eigenschaft, sich an der Kreuz aktiv zur Windkante zu orientieren, wodurch der optimale Kurs leichter zu finden ist. Luvgierigkeit bewirkt weiterhin Ruderdruck und sorgt damit für ein besseres Steuergefühl. Zusätzlich ist die Luvtendenz ein nicht unwesentlicher Sicherheitsaspekt, falls die Yacht führungslos sein sollte.
Auch wenn es seemännischen Grundsätzen widerspricht, sind viele Fälle denkbar, in denen das Ruder unbeaufsichtigt gelassen wird. Der Steuermann schläft ein, wird ohnmächtig oder ist nur mal eben unter Deck, um die Position zu checken. Dazu kann eine Radsteuerung mit der Spindel festgestellt, eine Pinne mit einem Tampen beigebunden oder durch entsprechende Beschläge arretiert werden. Ist ein Autopilot installiert, wird die Führung der Yacht sogar bewusst aus der Hand gegeben, und die Verlockung ist groß, damit auch die Überwachung zu vernachlässigen.
Falls Autopilot oder Arretierung jedoch versagen, kann sich die Yacht ihren Kurs frei suchen. Das ist zwar allemal schlecht, das kleinere Übel entsteht jedoch, wenn sie dabei ein Bestreben zum Wind hin zeigt. Dann werden irgendwann die Segel killen, und die Yacht wird stoppen, vielleicht wird sie noch durch den Wind gehen, danach jedoch beiliegen. Fällt sie dagegen unkontrolliert ab, können die Folgen schwerwiegender sein. Dazu gehören Zunahme der Fahrt, ein kaum zu kontrollierender Bogen nach Lee, eine Patenthalse mit anschließendem Sonnenschuss. Vom Chaos an Bord gar nicht zu reden. Und was dabei in einem dicht befahrenen Gebiet passieren kann, mag sich auch niemand vorstellen.
Die zusätzliche Sicherheit, die Luvgierigkeit beim Mensch-über-Bord-Fall bieten soll, wird dagegen oft deutlich überschätzt. Bei schwachwindigen Verhältnissen vollzieht sich das Luven bis in den Wind normalerweise eher behäbig. Die Yacht segelt noch ein gutes Stück weiter, der Überbordgefallene muss schon ein sehr guter Schwimmer sein, um sie wieder zu erreichen. Bei härteren Bedingungen wird die Yacht zwar fast unmittelbar in den Wind gehen. Doch mit aufgeblasener Rettungsweste ist ein Vorankommen kaum möglich, außerdem wird die Yacht schnell von der Person im Wasser wegdriften.
Dieser Sicherheitsaspekt ist jedoch nur eine Nebenwirkung der Luvgierigkeit. Sie wird eigentlich benötigt, damit eine Yacht besser segelt, das heißt schneller und komfortabler. Warum das so ist, erklärt sich aus dem recht komplexen Zusammenspiel der auftretenden Kräfte an einer Segelyacht.
Die gewünschte Luvgierigkeit entsteht mit zunehmendem Wind und damit einhergehender Krängung von allein – sogar oft mehr, als gut ist. Durch die Krängung verlagert sich der Segeldruckpunkt deutlich nach Lee, der Lateraldruckpunkt etwas nach Luv. Zugleich verschiebt sich auch das Kräfteparallelogramm. Der Segeldruckpunkt verlagert sich nach achtern, die Kraftlinien wirken nicht mehr genau entgegengesetzt zueinander, es entsteht ein Drehmoment nach Luv.
Zugegeben, diese Erklärung, die jeder Segelschüler lernt, ist schwer vielleicht verständlich. Deshalb hier ein anderer, etwas plakativerer, wenn auch physikalisch nicht ganz korrekter Versuch:
Dazu stellt man sich alle Kräfte unter der Wasserlinie als bremsend vor, die Segel dagegen als Antrieb. Die Segel ziehen also die Yacht nach vorn, der Rumpf und die Anhänge bremsen. Wenn der Rumpf steht, aber die Segel ziehen, entsteht ein Drehmoment. Im aufrechten Zustand würde die Yacht so quasi über den Bug stolpern. Bei Krängung verlagert sich der „Zugpunkt“ der Segel nach außen, weg vom Rumpf. So entsteht ein Hebelarm, und die Yacht dreht nach Luv.
Diesem Drehmoment wirkt der Steuermann mit dem Ruder entgegen. Das Anstellen des Blattes bewirkt eine Anstellung in der Strömung und damit einen Überdruck auf der Luvseite. Diese Druckerzeugung wirkt sich unterschiedlich aus.
Der Lateraldruckpunkt verschiebt sich nach achtern, da ja plötzlich am Ruder Drücke entstehen, die vorher nicht da waren. Damit werden Segeldruckpunkt und Lateraldruckpunkt wieder in die Balance gebracht, und die Yacht segelt geradeaus.
Zudem ist der Druck am Ruder nach Luv gerichtet, was Lift erzeugt und der Abdrift entgegenwirkt. Die Gesamtkraft, die durch Kiel und Ruder nach Luv wirkt, ist größer, als wenn das Ruder keinen Anstellwinkel hätte. Das gilt verstärkt für Boote mit geteiltem Lateralplan, also vor allem moderne Kurzkieler, jedoch auch für Langkieler.
Bei diesen ist die Lifterzeugung zwar geringer, da das lange Kielprofil wesentlich weniger effektiv arbeitet und auch am hydrodynamisch oft ungünstig geformten Ruder weniger Lift entsteht. Dafür haben diese Boote aber einen anderen großen Vorteil: Die weit achtern liegende Hauptfläche des Kiels befindet sich hinter dem Gewichtsschwerpunkt der Yacht und wirkt wie eine Windfahne, stark vereinfacht. Diese richtet die Yacht immer wieder von selbst aus. Ein Grund für das bekannt gute Kurshaltevermögen von Langkielern.
Ein weiterer liegt in der Form des Unterwasserschiffs. Yachten mit S-Spant laufen achtern spitz zu oder haben zumindest ein stark eingeschnürtes Heck. Moderne Yachten mit U-Spant dagegen, die viel Raum unter Deck und vor allem achtern für breite Kojen bieten sollen, haben sehr breite Heckpartien. Oftmals verjüngt sich der Rumpf ab der Mitte kaum noch. Das kann nicht nur beim Komfort, sondern auch bei den Segeleigenschaften Vorteile haben. Bei aufrechtem Segeln wie raumschots oder vor dem Wind werden Gleitzustände erleichtert, vorausgesetzt, das Gesamtgewicht ist nicht zu hoch, und die Segel entwickeln genug Vortrieb. Zudem erhöht so ein flacher, breiter U-Spant-Rumpf die Formstabilität deutlich.
Die Form moderner Rümpfe führt jedoch auch zu einer Zunahme der Luvgierigkeit bei erhöhter Krängung, mehr als bei älteren Yachten. Im aufrechten Zustand liegen die Konstruktions-Mittschiffslinie und die Mittellinie der benetzten Fläche – also quasi die Linie, die den Kurs durchs Wasser bestimmt – bei beiden Yachten direkt übereinander. Beide fahren ohne Krängung dorthin, wohin ihr Bug zeigt. Legt sich jedoch die moderne Yacht auf die Seite, wird die Form der Wasserlinie stark asymmetrisch, die benetzte Fläche verschiebt sich nach Lee, achtern deutlich mehr als vorn. Dadurch liegen die Mittschiffslinie und die Kurslinie nicht mehr übereinander, und auch die Kurslinie verlagert sich achtern stärker nach Lee als vorn. Sie zeigt nach Luv, während sich der Kurs der Yacht nicht geändert hat. Sie wird also anluven.
Zusätzlich taucht das Heck in Lee stark ein, wieder formbedingt stärker als vorn. Da die Yacht jedoch immer zu einem ausgeglichenen Verdrängungsverhältnis tendiert, wird das Heck aushebeln und der Bug stärker eintauchen – sie vertrimmt auf die Nase. Durch das Aushebeln des Hecks kann jedoch auch das Ruder austauchen. Seine wirksame Fläche verringert sich, es erzeugt weniger Druck im achteren Lateralplan, wodurch der Lateraldruckpunkt nach vorn wandert. Der Segeldruckpunkt verlagert sich relativ gesehen nach achtern, die Luvgierigkeit nimmt zu.
Um dem entgegenzuwirken, muss das Ruder stärker angestellt werden, was den Widerstand erhöht und irgendwann zum Strömungsabriss mit anschließendem Aufschießer führt. Dem kann mit Doppelruderanlagen begegnet werden.
Anders dagegen bei der S-Spant-Yacht. Da das Heck eingeschnürt und tiefgezogen ist, bleibt die Form der Wasserlinie auch bei Krängung nahezu symmetrisch. Sie verlagert sich zwar auch nach Lee, wodurch Mittschiffslinie und Kurslinie nicht mehr übereinanderliegen, jedoch noch fast parallel verlaufen, also in dieselbe Richtung zeigen. Die Yacht segelt kursstabiler, ein Vertrimmen auf die Nase und Aushebeln des Ruders bleiben aus.
Rumpf- und Kielform des Langkielers bescheren also eine höhere Kursstabilität oder weniger Luvgierigkeit auch bei Krängung als bei einer modernen Yacht. Das zeigte schon der große Praxisvergleich.
Bezahlt wird diese Eigenschaft des Langkielers jedoch in erster Linie durch weniger Volumen und damit Wohnkomfort im Hafen. Auch bei ihm nimmt jedoch die Luvgierigkeit mit zunehmender Krängung zu, durch die Verlagerung des Segeldruckpunktes. Außerdem ist das Ruder weniger effizient. Es wird zwar nicht ausgehebelt, hat aber oft keine hydrodynamisch günstige Form und wird durch den direkt davor liegenden Kiel verwirbelt angeströmt. Auch beim Langkieler ist also irgendwann der Moment gekommen, in dem das Ruder nicht mehr effizient der Luvgierigkeit entgegenwirken kann, nur noch bremst und danach wirkungslos wird.
Welches Verhältnis von Krängung zu Anstellwinkel des Ruders das beste ist, wie viel Luvgierigkeit eine Segelyacht also aufweisen sollte und wie viel sie verträgt, ist von Konstruktion zu Konstruktion unterschiedlich. Als Faustregel haben sich drei Grad Anstellwinkel des Ruders nach Lee bei 2 bis 3 Beaufort bewährt, bis sechs Grad bei Windstärken darüber.
Bei größeren Winkeln wird der Widerstand höher als der Lifteffekt. Die Winkel kann man bei einer Pinnensteuerung leicht mit einem Winkelmesser ermitteln und mit Klebestreifen auf dem Cockpitboden oder Achterdeck markieren. Bei einer Radsteuerung kann man am Quadranten messen und Markierungen am Rad ebenfalls mit Tape anbringen. Diese Hilfen sind nötig, da sonst, vor allem bei der Radsteuerung, kaum Rückschlüsse auf die Ruderlage möglich sind – wenn, wie meistens, ein Ruderlagegeber fehlt.
Die Markierungen sind auch wichtig, da der Ruderdruck allein keinen zuverlässigen Rückschluss auf die Stellung des Blattes zur Fahrtrichtung gibt. Ruderdruck ist zwar generell ein Indikator, eine Zunahme bedeutet eine Erhöhung des Anstellwinkels. Aber ein Ruder kann auch stark vorbalanciert sein und trotz großem Anstellwinkel kaum Rückmeldung geben, ebenso wie eine stark untersetzte oder schwergängige Radsteuerung.
Mit den genannten Anstellwinkeln sollte eine Yacht ihre volle Segelfläche bei 20, selten noch bis 30 Grad Krängung tragen können. Bricht sie jedoch schon deutlich früher nach Luv aus oder ist sie gar leegierig, deutet dies auf eine unausgewogene Konstruktion hin. Dann kann versucht werden, den Mastfall zu verändern – steiler gegen Luvgierigkeit, etwas fallen lassen, um mehr Moment nach Luv zu erzeugen. Auch Änderungen der Ruderblattfläche und -form können helfen. Ein größeres Blatt erzeugt normalerweise auch mehr Druck achtern, bewirkt eine Verlagerung des Lateraldruckpunktes nach hinten. Es erzeugt jedoch auch mehr Widerstand.
Unterwegs ist die einfachste Maßnahme, zu viel Luvgierigkeit am Wind zu vermeiden, die Krängung zu reduzieren. Zunächst sollten die Segel flacher getrimmt werden.
Eine weitere Möglichkeit gegen Krängung ist ein höheres aufrichtendes Moment durch Gewichtstrimm nach Luv. Reicht beides nicht mehr aus, ist Reffen angesagt. Dadurch verschiebt sich der Segeldruckpunkt nach unten, und die Krängung nimmt ab
Refftipp: Bei der Reihenfolge beim Reffen sollte man sich nicht von Regattacrews täuschen lassen. Diese wechseln zwar eher das Vorsegel als das Großsegel zu reffen, aber aus anderen Gründen. Regattasegel sind heute so steif und reckarm und die Trimmeinrichtungen zudem so gut, dass sie flach wie ein Brett gezogen werden können. Wirksam ist dann fast nur noch das letzte Drittel. Das hat in etwa denselben Effekt wie ein erstes Reff. Fahrten-Großsegel sind dagegen oft, salopp ausgedrückt, Gummitücher, aus denen die Profiltiefe nur schwer herauszuziehen ist, je älter sie sind, desto schlimmer. Außerdem kann die Crew die Großschot und den Traveller auf einer Regattayacht aktiv bedienen und so in Böenpausen oder kurzzeitig nachlassendem Wind bei ungerefftem Groß wieder Druck aufbauen. Auf einem Cruising-Törn wäre eine ständige Bedienung der Großschot wohl kaum jemandem zuzumuten.
Wird vom Kurs hoch am Wind auf einen Halbwind- oder Raumschotskurs abgefallen, kann die Yacht ihr volles Geschwindigkeitspotenzial entfalten. Doch wer jetzt eine entspannte Rauschefahrt erwartet, sieht sich oft getäuscht. Die Yacht, die mit derselben Konfiguration eben noch ausgewogen segelte, kann nach dem Abfallen plötzlich extrem luvgierig sein und heftige Aktionen am Ruder erfordern. Doch obwohl die Krängung deutlich geringer ausfällt als auf der Kreuz, ist der Segeldruckpunkt durch das Fieren der Segel auch wieder nach außen gewandert. Auch das hat ein Drehmoment nach Luv zur Folge. Zudem verlieren Vorsegel beim Fieren, wenn der Zug am Achterliek nach unten entfällt, ihre Form. Sie öffnen oben stark und müssen unten meist zu dicht gefahren werden, was eine zusätzliche Druckpunktverlagerung nach achtern zur Folge hat.
Ein eingeklinkter Schnatchblock über einen möglichst weit außen gefahrenen Holepunkt, etwa an der Fußreling, kann etwas helfen. Wirkliche Linderung bringt jedoch auch hier nur Reffen, auch wieder des Großsegels. Im Zweifel kann es ganz weggenommen werden. Nur unter Vorsegel liegt der Segeldruckpunkt so weit vorn wie nur möglich. Das kostet zwar wahrscheinlich ein paar Minuten bei der Ankunftszeit, beschert jedoch einen deutlich komfortableren Törn. Dafür kann die Genua, die vielleicht an der Kreuz gerefft wurde, oft wieder komplett ausgerollt werden.
Luvgierigkeit ist wie gezeigt der Freund jedes Seglers. Sie sorgt dafür, dass eine Yacht lebendig segelt, schnell und sicher. Wird sie jedoch zu groß, kann sie lästig sein oder sogar gefährlich. Wer seine Gäste mit 35 Grad Lage und Spray im Gesicht auf einem bockigen Schiff über die See schickt, wird wohl bald allein unterwegs sein. Wer jedoch um die Gründe für dieses Verhalten weiß und ihm mit den richtigen Maßnahmen begegnet, kann deutlich komfortabler und angenehmer ans Ziel gelangen.