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Noch schnell eine Thermoskanne Tee kochen, dann bin ich so weit. Schon sitze ich im Deckshaus, eine Hand am Steuerrad, in der anderen der Becher Tee. Die kleine Bluetooth-Soundbox trägt mich in die Welt der Muse davon, während meine Augen den Horizont absuchen. Es ist zehn Uhr abends Bordzeit. Meine Wache zur dritten Nacht auf See hat gerade begonnen. Und es sieht gut aus. Erneut flüstert die Ostsee mit ihrem ruhigen Auf und Ab das Versprechen, uns sanft durch die Nacht zu bringen.“
Mit dieser Hymne ans Nachtsegeln beginnt Claudia Kirchbergers Bericht über ihren Sommertörn von der deutschen Ostseeküste zu den Åland-Inseln. 400 Seemeilen an einem Stück, das heißt mehrere Tage und Nächte durchsegeln. Für Claudia Kirchberger und ihren Mann Jürgen, ein Fahrtenseglerpaar mit Zehntausenden Seemeilen im Kielwasser, keine allzu große Herausforderung – ganz im Gegenteil: „Wir lieben Nachtsegeln. Das ist das Schönste!“, sagt Jürgen Kirchberger.
Genießen können die beiden die dunklen Stunden auf See vor allem deshalb, weil sie sich ein System erarbeitet haben, mit dem sie fit durch die Nacht kommen: Jeder bekommt ausreichend viel Schlaf, sodass sich die kleine Crew wechselweise regenerieren kann und ihre Kräfte auf diese Weise erhalten bleiben.
Das ist keine Selbstverständlichkeit. Gerade Neulinge auf See haben regelmäßig Probleme damit, während ihrer Freiwache zu schlafen. Wie gelingt das also, kann man das lernen? Wie finden Fahrten-und Regattasegler ausreichend Ruhe, um die leer gewordenen Akkus wieder aufzufüllen? Welche Hilfsmittel und Techniken sind dafür nützlich, welche stören eher?
„Früher hatten wir auch die klassische Vier-Stunden-Wache, weil man das vor 20 Jahren halt so gemacht hat“, erzählt Jürgen Kirchberger. „Das Thema hat uns dann aber so lange beschäftigt, bis wir für uns eine Lösung gefunden haben.“ Mittlerweile richten die beiden Österreicher die Nachtwachen nach ihren jeweiligen individuellen Neigungen ein. Er etwa kann gut früh ins Bett gehen und auch früh wieder aufstehen. Bei Nachtfahrten legt er sich daher zwischen neun und zehn Uhr abends in die Koje.
Seine Frau hingegen hat als „Eule“ kein Problem damit, lange aufzubleiben und stattdessen anderntags länger zu schlafen, sodass sie ihn erst nach mindestens sechs Stunden wieder weckt. Manchmal auch erst nach sieben. Immer vorausgesetzt, dass sie sich selbst fit genug fühlt und das Wetter ruhig ist. Danach legt sie sich für sechs bis sieben Stunden schlafen, bis zum späten Vormittag. Tagsüber fahren die Kirchbergers dann ein offenes Wachsystem, bei dem jeder mal für zwei bis drei Stunden in die Koje geht.
Die langen nächtlichen Pausen haben sich bewährt. Ihrer Erfahrung nach bleibt bei drei bis vier Stunden Freiwache nicht genügend Zeit, um in die Tiefschlafphase zu gelangen. „Man ist anfangs ja oft noch ein bisschen aufgeheizt von Arbeiten an den Segeln, der Puls ist noch hoch. Es dauert etwas, bis sich das alles beruhigt hat und du einschläfst“, so Jürgen Kirchberger. Und er fügt hinzu: „Bei sechs Stunden Schlaf am Stück merken wir, dass wir erholter sind und mehr Energie haben.
Dabei kann laut Ergebnissen der Forschung Tiefschlaf auch schon während deutlich kürzerer Schlafintervalle eintreten (siehe Interview). Viele Langfahrtsegler entscheiden sich dennoch für einen ähnlichen Rhythmus wie Kirchbergers.
Beispielsweise Lennart Burke, der als 20-Jähriger mit einem Freund auf einem betagten Fahrtenboot in beide Richtungen über den Atlantik gesegelt ist. Burke: „Ich bin immer um 20 Uhr ins Bett gegangen und hatte bis zwei Uhr frei. Von zwei bis drei war Wachwechsel. Dabei haben wir einen Tee zusammen getrunken und erzählt, was in der Zwischenzeit passiert ist.“ Auch für Kirchbergers ist diese Übergabe eine entscheidende Voraussetzung für den erholsamen Schlaf der Freiwache. Vor allem aber ist es die vorausschauende Planung.
Bevor Jürgen Kirchberger als Erster in der Koje verschwindet, holen sie die aktuelle Wettervorhersage für die Nacht ein und schauen auf den beabsichtigten Kurs. Zieht eine Front oder Nebel auf? Müssen sie eine Schifffahrtsstraße queren? Für das und anderes mehr legen sie Pläne zurecht und reffen im Zweifel vorab, auch wenn das etwas Fahrt kostet. „Dafür muss Claudia nur noch auf den Kurs achten und das Boot trimmen. Sie muss mich nicht zum Reffen wecken“, erklärt Jürgen Kirchberger.
Beim Ein-und Tiefschlafen hilft ihm das Wissen, dass seine Frau nachts nicht Gefahr läuft, über Bord zu gehen, da sie das Steuerhaus ihrer robusten Stahlyacht für gewöhnlich nicht zu verlassen braucht. „Auf unserem alten Boot mit offenem Cockpit hatten wir immer diese Sorge.“ Jetzt haben sie die Abmachung, dass keiner allein raus oder gar zum Bug geht, um am Segel zu arbeiten. Schon gar nicht bei Starkwind oder Sturm.
Vielmehr sorgt derjenige auf Wache für Ruhe an Bord. Klappert Geschirr im Schapp, weil Wellen des Boot hin und her werfen, oder schlagen Segel in der Flaute, wird das möglichst schnell unterbunden. Jürgen Kirchberger rät auch, den Kurs so zu ändern, dass das Boot nicht rollt. „Wir kreuzen lieber vor dem Wind und bringen etwas Lage ins Schiff.“ Der Geschwindigkeitszuwachs mache den Umweg allemal wett – und man könne besser schlafen.
Auf Amwind-Kursen fallen sie etwas ab, um das Stampfen zu reduzieren. „Man muss Kompromisse eingehen und durchaus mal ein paar Meilen schinden für den Komfort an Bord.“ Sicherlich seien Kurskorrekturen eher bei Schlägen von mehreren Tagen sinnvoll als auf kurzen Distanzen, während derer man ohnehin schlecht schlafe. Vier bis fünf Tage brauche es, um in den Rhythmus zu kommen. „Aber“, so Kirchberger, „wir sind ja schließlich Langfahrt-und keine Regattasegler.“
Man muss Kompromisse eingehen und auch mal Meilen schinden für den Komfort an Bord”
Lennart Burke kennt beide Welten. Nach der Atlantiküberquerung im Fahrtenmodus ist er einhand beim Mini-Transat über den Ozean gesegelt. Mittlerweile ist er im Zweihand-Modus mit Melwin Fink im Offshore-Regattasegeln aktiv.
Auf ihrer Class 40 dauern die Wachen bei Rennen maximal zwei Stunden. Diesen Rhythmus haben sie nicht aufs Schlafen bezogen, sondern auf den Wachhhabenden. „Im Regattamodus bist du voll am Powern. Steuern, Trimmen, Ausguck, Navigieren – das hältst du nicht länger als zwei Stunden durch“, so Burke. Nach eineinhalb Stunden werde man allmählich unaufmerksam.
Lehrgeld hat der Stralsunder im ersten Jahr seiner Einhand-Mini-Regatten gezahlt. „Ich bin immer im falschen Moment schlafen gegangen. Ich dachte, ich müsse die ersten 30 bis 35 Stunden wach bleiben, Vollgas geben, um im Feld vorn zu bleiben.“ Beim Azoren-Rennen schläft er während der ersten beiden Nächte gar nicht. „Am Ende der zweiten Nacht gegen fünf Uhr morgens gab es eine Flaute, in der ich steuern musste, weil der Autopilot es nicht geschafft hat. Ich bin an der Pinne eingenickt. Zwei Stunden lang hat sich mein Boot im Kreis gedreht – gruselig.“
Die erste Erfahrung mit Halluzinationen infolge von Schlagmangel macht Burke beim Qualifikationstörn, bei dem jeder Transat-Aspirant solo 1.000 Meilen segelt. Sieben Tage braucht er. Während der letzten zehn Stunden, in denen er nicht vom Gas gehen will, passiert es: Einbildung und Realität verschwimmen miteinander.
Im Jahr darauf legt sich der Nachwuchssegler daher schon mal kurz nach einem Regattastart hin, auch wenn das Feld da noch dicht beieinander segelt. „Das war gefährlich. Aber Einhandsegeln ist ja eh fern von jeglicher Seemannschaft. Das muss man sich nicht schönreden“, so Burke.
Zu Beginn seine Mini-Karriere hat er Kontakt zu einem renommierten Schlafforscher gesucht. Mittlerweile setzt er aber eher auf eigene Erfahrungen als auf den Rat eines Coachs. „Training ist für mich: Praxis! Rausfahren und ausprobieren!“
Empfehlungen eines Experten zum Thema Schlafen hat auch Michael Guggenberger vor seinem Einhand-Mammuttrip eingeholt. Von April bis September 2023 ist der Österreicher beim Golden Globe Race allein um die Welt gesegelt. Nach 249 Tagen und Nächten kam er als Dritter ins Ziel.
Das Ergebnis seiner Gespräche mit einem Arzt und einem Neurologen: entweder mindestens 45 Minuten schlafen oder unter 15 Minuten. Die brauche man, um in die Tiefschlafphase zu kommen. „Wenn man sich vorher wieder rausreißt, hat man zwar nicht wahnsinnig viel Energie getankt – aber auch nicht genommen“, weiß Guggenberger seither. Auf See war der kurze, für Einhandsegler typische Power Nap dann jedoch eher die Ausnahme. Der 46-Jährige hat vielmehr versucht, seinen Biorhythmus aus dem Leben an Land beizubehalten: tagsüber aktiv sein, nachts zumindest ruhen.
Der Schlüssel ist, schnell einzuschlafen”
„Ich habe mit der Sonne gelebt“, so Guggenberger. Der Sonnenuntergang war für ihn der Abschluss des Tages. Zwischen zehn und elf Uhr abends hat er sich hingelegt und den ersten Kaffee dann bei Sonnenaufgang getrunken. Tagsüber hat er gegessen, nachts nicht viel. Die Segel hat er vor Anbruch der Dunkelheit gerefft und sich in dem Moment, in dem nachts nichts zu tun war, wieder in der Koje gelegt. Sein Fazit: „Ich glaube, der Schlüssel ist, dass man übt, schnell einzuschlafen. Und schnell wieder einzuschlafen, wenn man zwischendurch doch mal wach wird.“
Wie aber gelingt das trotz Wasserrauschen am Rumpf, Wellenrodeo und Sorge vor einer Kollision oder der nächsten Front? „Das ist eine rein mentale Nummer“, sagt Michael Guggenberger. Man müsse sich selbst, dem Boot und den Wetterinformationen vertrauen, damit die Gedanken nicht im Kopf herumkreisten. Solosegeln mache es insofern einfacher, „weil man sowieso dauernd müde ist!“
Das eigentliche Erfolgsrezept des Österreichers war jedoch seine Koje. Damit sein Körper selbst bei heftigem Seegang entspannt liegen konnte, setzte er einen Tipp des Neurologen um: Statt eines Leesegels brachte er ein Leebrett vor einer Salonbank an, in der er „wie in einer Kiste“ lag. Gesichert mit Polstern, die er rechts und links neben sich stopfte, konnte sich sein Körper trotz Wellen kaum bewegen und damit auch kaum Energie verbrauchen. Sogar Gurte mit Klettverschluss montierte er.
„Diese Koje war eine der besten Ideen, die ich hatte“, resümiert der Weltumsegler. Unterwegs lüftet er außerdem täglich die Bettwäsche und stellt das feuchte Kojenpolster auf. Für den Fall, dass alles völlig durchweicht, ist Ersatz-Bettzeug samt Polster in großen Plastiksäcken an Bord.
Wie wichtig der richtige Ort zum Schlafen auf See ist, haben auch Mandy Entken und Alexander Arnold bei ihrer Atlantiküberquerung erlebt. Die Geräusche von Wellen und Motor machten sowohl die Achter-als auch Vorschiffskabine auf ihrer Beneteau Oceanis zum eher unbeliebten Schlafplatz. Auf Ohrenstöpsel, wie sie Jürgen Kirchberger mitunter benutzt, verzichtet Mandy Entken jedoch aus den gleichen Gründen wie Lennart Burke: Sie wollen nichts ausblenden, das Schiff und seine Geräusche wahrnehmen. „Nur einmal, als es richtig laut war, habe ich Kopfhörer mit Noise Cancelling benutzt. Aber damit kann man nur auf dem Rücken liegen“, berichtet Entken.
Eine weitere Herausforderung gab es an Bord ihrer „Blue“: Sohn Levi war bei der Tour erst sechs Monate alt. Um dennoch für ausreichend Schlaf und genügend Hände an Bord zu sorgen, hat das Paar einen Bekannten mitgenommen sowie auf ein rotierendes Wachsystem mit tagsüber vier und nachts drei Stunden gesetzt. Dennoch: „Ein richtiger Rhythmus ist schwierig mit Kleinkind. Alex hat oft übernommen, wenn ich stillen oder wickeln musste“, so Entken.
Immerhin litt bei der Ankunft in der Karibik keiner von ihnen unter Jetlag: Alle sechs bis sieben Tage wurden die Uhren an die neue Zeitzone angepasst.
Ein Patentrezept für guten Schlaf an Bord gibt es mithin nicht. „Viele wollen es dennoch von mir hören“, erzählt Lennart Burke. Er rät, statt Bücher zu dem Thema zu lesen und sich zu viele Gedanken zu machen, lieber Zeit auf dem Wasser zu verbringen und dabei auch Schlafen zu üben, und sei es zunächst nur viertelstundenweise.
Schließlich verhält es sich auch damit wie mit so vielem beim Segeln: Je mehr Erfahrung man sammelt, desto besser funktioniert es irgendwann.