EssaySegeln bei Facebook, Insta und Co. Der Tod der klassischen Segelliteratur?

Marc Bielefeld

 · 10.02.2023

Schmökern in handgeschriebenen Logbüchern früher ...
Foto: YACHT/N. Krauss

Das Segeln wusste schon immer außergewöhnliche Geschichten zu erzählen. Aus den großen Berichten der Entdecker und den Klassikern der Segelliteratur ist heute ein medialer Informationsreigen geworden – dem sich einige inzwischen verweigern. Ist das gut oder schlecht?

Schweigen ist Gold? Vornehme Zurückhaltung das Maß der Dinge? Pustekuchen! Wenn es heute um biografische Selbstdarstellung geht, wird in die Vollen gegriffen und die Klaviatur der modernen Eigeninszenierung bis zum letzten Pixel ausgeschöpft.

Das gilt inzwischen für so ziemlich jede Lebenslage. Von der lautstarken Positionierung der Karriere bis zur vollumfänglichen Darbietung der Freizeitaktivitäten. Vom Tattoo, das schon beim Stechen gepostet wird, bis hin zum letzten Katzenvideo. Und es hört hier keinesfalls auf: beim Segeln. Der heutige Mensch ist zum Publizisten des eigenen Daseins geworden – selbst wenn es auf dem Wasser spielt und die Beweggründe im Grunde rein erholungstechnischer Natur sind.

Rekordsegler von heute beamen ihre spannenden Fahrten live ins Internet, verfolgt von einem Millionenpublikum

Auf den Kanälen der sozialen Medien wird rausgehauen, was die Filter hergeben. Allerorten herrscht Schnappschussalarm, während aus der alten Kunst, ein Reisetagebuch zu führen, eine digitale Nabelschau in Endlosschleife geworden ist. Gibt man allein bei Instagram den Hashtag „Sailing“ ein, werden einem 11,8 Millionen Ergebnisse präsentiert. Schiffe in allen Größen sind dort zu bestaunen, segelnde Schönheiten auf sämtlichen sieben Meeren. Träume und Schäume werden uns unter die Augen gerieben, inklusive mitsegelnder Badenixen, die sich auf dem Vordeck vor türkisem Meer räkeln.

Gerade beim Segeln, sollte man meinen, müsste eigentlich das Gegenteil vorherrschen: eine Lust am stillen Eskapismus. Wer die Segel setzt, der sucht in der Regel das Weite. Der will seine Ruhe haben, mit sich und dem elementaren Erlebnis seinen Frieden finden; und höchstens der eine oder andere mag seine Erlebnisse irgendwann reflektiert aufarbeiten. Stattdessen wird heute jede Mittwochsregatta breitgetreten. Der Sommertörn gerät zum plakatierten Abenteuer, die Charterwoche zur Multimediashow. Selbst die Winterpause wird zum gelikten Happening hochgejazzt – in die Welt trompetet auf Blogs, in Videos, Posts und Pics. Segelreisen füllen inzwischen ganze Homepages, in Foren tummeln sich Skipper mit tausend Ratschlägen, und mancher startet gleich seinen eigenen Podcast.

Video-Bloggerin Nike Steiger beschreibt den Bordalltag auf ihrer Reinke S 10 „Karl“ und ihr Engagement im Umweltschutz auf dem Youtube-Kanal „White Spot Pirates“
Foto: White Spot Pirates

Die Devise lautet: Ich segle, also bin ich – und muss darüber berichten. Dabei entstehen wunderbare Bilder und dürfen wir an fantastischen Momenten teilhaben. Der Sundowner vor Anker, das Champagnersegeln vor Mallorca oder der stürmische Ritt durchs Kattegat. Oft werden noch von Bord aus Storys geteilt, Fotos gepostet und Geschichten erzählt, die Sekunden später weltweit auf diversen Kanälen wahrgenommen werden. Die Rekordsegler von heute beamen ihre spannenden Fahrten sogar live ins Internet; im Profisport nicht mehr anders denkbar. Über Tracker, Videoschalten und Satellitenübertragungen verfolgt ein Millionenpublikum die Husarenritte der Stars – gefühlt hautnah. Die Zuschauer von heute können Routen, Positionen und haarige Segelmomente in Echtzeit abrufen, selbst wenn die Szenen im stürmischen Südpolarmeer spielen.

Ist Segeln Teil digitaler Dauerbeschallung?

Die mediale Präsenz von Tausenden von Seglern und ihren Abenteuern hat viele Vorteile. Man darf träumen und mitfiebern, man lernt dazu. Man kann sich gezielt informieren, sich mit den Akteuren oftmals austauschen. Dies sind die Reize der Informationsgesellschaft: kaum ein Anholt-Törn, der seinen Weg nicht ins mediale Weltgeschehen findet.

Die Ausstellung der eigenen Abenteuer und Abenteuerchen reiht sich nahtlos ins Zeitgeschehen ein: Die digitale Dauerbeschallung ist zur Normalität geworden.

Doch wäre das Segeln nicht das Segeln, wenn es nicht auch beim Thema Verkündungseifer leicht aus dem Rahmen fallen und seine eigenen Neerströme produzieren würde. Und das mag im Rückschluss durchaus daran liegen, dass dieser Zeitvertreib im Prinzip nun einmal eine stille, vielleicht sogar meditative Angelegenheit ist. Segeln ist von Natur aus eher leise als laut. Es mag das Marktschreierische eigentlich nicht so sehr, hat im Kern der Sache schon immer mehr mit Rückzug und Erleben zu tun gehabt als mit Kundgebung und Zurschaustellung. Meer und Wind schreiben nun mal ihre eigenen Heldengeschichten. Und in der Regel schaut einem da draußen auf dem Wasser auch keiner zu. Beifall gibt es – anders als im Fußballstadion, anders als beim Tennis oder Skifahren – niemals live und sofort.

Mit der Nussschale auf den Ozean. Viele erfolgreiche Abenteuerreisen wurden schon mit primitivsten Booten gesegelt. Nicht immer sind Berichte davon überliefertFoto: YACHT-Archiv
Mit der Nussschale auf den Ozean. Viele erfolgreiche Abenteuerreisen wurden schon mit primitivsten Booten gesegelt. Nicht immer sind Berichte davon überliefert

Gegenmodell: Ich segle, also bin ich – und halte lieber den Mund

Das Publikum sitzt irgendwo auf dem Trockenen, fern des Geschehens, während die Aktiven sonst wo über die Wogen reiten. Und auch, wenn in den Hafenpinten später gern mal teuflische Epen gesponnen werden – dem Segeln ist es grundsätzlich inhärent, seine großen Momente nicht hinauszuposaunen. Die wahre Magie lässt sich eh kaum fassen. Nicht in Worten, nicht in Bildern.

Dies dürfte jedoch nur einer der Gründe sein, weshalb es inzwischen eine gewisse Gegenströmung zum medialen Dauerfeuer gibt – keineswegs nur, womöglich aber besonders im Segelsport.

Nennen wir es vornehme Zurückhaltung oder ostentatives Entsagen, nennen wir es null Bock auf Selbstdarstellung oder auch nur einfach ein Schweigen im Mastenwald. Doch scheint es nicht wenige Seglerinnen und Segler zu geben, die ihre durchaus bemerkenswerten Biografien nicht nur äußerst ungern veröffentlicht sehen, sondern die von ihren Erfahrungen nicht einmal mehr ein Sterbenswörtchen in die Welt tragen wollen. Motto: Ich segle, also bin ich – und halte lieber den Mund.


Nicht wenige Segler wollen von ihren bemerkenswerten Biografien nicht mal ein Sterbenswörtchen in die Welt tragen

So zum Beispiel hält es ein Skipper, der an der Ostsee wohnt, inzwischen über 80 Jahre alt ist und wohl gleich mehrere Seesäcke voller Geschichten aus seinem prallvollen Segelleben auspacken könnte. Der Mann aber will sich partout nicht zu Wort melden.

In den späten sechziger Jahren fuhr er mit einem bemerkenswert kleinen Segelschiff einhand über den Atlantik. Das Boot war eine der ersten Leisure 17, die damals auf den Markt kamen. Ein Bötchen, das nur 5,18 Meter lang ist und lediglich 65 Zentimeter Tiefgang besitzt. Eine Nussschale, ausgestattet mit Kimmkiel und Miniatur-Kajüte – heute gelegentlich noch gebraucht zu haben für rund 3.000 Euro. Damit querte der Mann damals solo den Großen Teich, um mit dem segelnden Novum rechtzeitig bei der New York Boat Show einzutreffen. Ohne Zweifel: Der Marketing-Coup für die neue Mini-Yacht wäre gelungen.

Drei Jahre hatte der erfahrene Seemann und Navigationsoffizier die Fahrt vorbereitet. Im September 1967 setzte er schließlich die Segel. Ein damals 28-jähriger deutscher Marineoffizier, der 5.000 Seemeilen vor sich hatte. Er segelte über die Kanarischen Inseln in die Karibik, wollte via Florida die Ostküste der USA hochkreuzen bis nach New York. Ein sagenhafter Törn, noch dazu in so einem winzigen Boot. Doch es kam anders.

Deutscher Segler schon totgeglaubt

Nach gut einem Monat auf See machte der Mann zunächst heil in Antigua fest. Auf seiner Fahrt weiter nach Norden allerdings fehlte bald jede Spur von ihm. Unterwegs in der Karibik bekam er es mit mehreren Stürmen zu tun, und nach einigen Sucheinsätzen hielt es die US-Küstenwache für ausgeschlossen, dass der deutsche Segler und sein winziges Schiff das schwere Wetter überlebt hatten.

Inzwischen berichteten die Zeitungen. Doch von dem deutschen Segeldesperado kam nicht ein Lebenszeichen. Bei der Bootsmesse in New York tauchte er niemals auf. Was war geschehen? Im Seegebiet vor Kuba hatte er im Sturm Schiffbruch erlitten. Mit havarierendem Boot strandete er auf der Insel, wurde dort prompt als Spion verdächtigt und landete im Gefängnis. Es folgte ein langes Hin und Her, amerikanische Journalisten recherchierten, deutsche und amerikanische Botschaften wurden eingeschaltet – bis sich die Geschichte zu einem veritablen Krimi auswuchs. Es dauerte, bis man dem verrückten Deutschen sein Vorhaben am Ende abkaufte und ihn endlich wieder auf freien Fuß ließ. „Deutscher Segler in Kuba als Spion verhaftet“: Die Schlagzeilen im Kalten Krieg hatten es in sich – doch damit ist die Story noch lange nicht erzählt.

Im kubanischen Knast nämlich, keineswegs segelmüde, hatte der Mann Pläne für die Rückfahrt geschmiedet, die er nach seiner Freilassung antreten wollte – und zwar abermals unter Segeln.

Zudem hatte er auf Kuba eine Windsteueranlage ausgetüftelt: Marke Eigenbau. Diesen Autopiloten konstruierte er dann tatsächlich, schraubte ihn an sein Boot und segelte damit zurück nach Europa.

In der Heimat fertigte er die Windsteueranlage in Serie. Es wurde eine kleine Firma daraus, betrieben in einer abgelegenen Werkstatt auf einem Reiterhof nahe Mölln. Doch der besagte Herr veräußerte das Unternehmen schon bald wieder – und tauschte Geschäft und Erfindung gegen eine größere Segelyacht, um in den siebziger Jahren erneut seines Weges zu segeln.

Wie viele Seemeilen mag er danach noch gemacht haben? Wohin trieben diesen verwegenen Seemann die Winde? Noch im Alter von 80 Jahren besorgte er sich Jahrzehnte später erneut ein Segelschiff und ging damit auf Törn in der Ostsee. Und wieder war es eine Leisure 17 – nach 50 Jahren wollte er noch einmal mit jenem Bötchen aufbrechen, mit dem er damals sein großes transatlantisches Abenteuer gewagt hatte. Karibik und zurück, mit Zwischenstopp im kubanischen Knast.

Alexander Arnold lebt und segelt mit seiner Partnerin Mandy Entken seit vier Jahren an Bord auf dem Mittelmeer und berichtet davon im Youtube-Kanal „See the little things“Foto: See the little things
Alexander Arnold lebt und segelt mit seiner Partnerin Mandy Entken seit vier Jahren an Bord auf dem Mittelmeer und berichtet davon im Youtube-Kanal „See the little things“

Abenteurer will anonym bleiben

Ein Leben wie ein Stück Zeitgeschichte. Dazu eine Biografie, die allemal abenteuerlich genug ist, um viele heutige Seglerkarrieren wie gemütliche Gute-Nacht-Geschichten aussehen zu lassen. Allein: Große Worte hat der Mann über seine Reisen nie verloren. Den genauen Bericht seiner atemberaubenden Atlantikquerung hat noch nie ein größeres Publikum gelesen oder gehört. Kein Buch, kein Post, kein Artikel.

Der Mann will nicht erzählen. Nicht mal seinen Namen will er gedruckt sehen. Seine Segelabenteuer sollen bleiben, wo sie sind: in seinem Kopf. Bei einem Gespräch im deutschen Winter erzählt er, dass sämtliche Logbücher über all die Jahre verschwunden sind, dass kaum mehr Fotos seiner Reisen existieren. Und weiter: „Warum soll ich mich an Zeiten erinnern, die lange vorbei sind?“, sagt er. „Die Kapitel sind geschlossen. Fertig. Aus.“ Zudem würde er sich doch sehr wundern, was heute alles in die Welt gepustet wird. Das Internet und die modernen Medien seien tolle Erfindungen, aber er würde da nicht mitmischen wollen. Ein haltloser Überfluss an Informationen, Bildern, Meldungen und Selbstdarstellungen. „Ich weiß nicht, wohin das am Ende führen wird.“

Der Mann sagt’s und schweigt. Die wahren Details seines großen Törns und seiner Lebensgeschichte unter Segeln wird er vermutlich mit ins Grab nehmen.

Vielleicht, weil er den großen Auftritt nie mochte. Vielleicht, weil er der heutigen Selbstdarstellungseuphorie skeptisch gegenübersteht. Vielleicht auch, weil er Bob Dylan mag. The answer, my friend, is blowin’ in the wind.

Geschichte nur eine von vielen

Der weit gereiste Mann von der Ostsee ist nur einer von jenen, die ihre Segelreisen lieber für sich behalten, als sie publik zu machen. Und selbst wenn sie explizit nach ihren Bootsabenteuern gefragt werden, winken einige inzwischen ab. Ihre Worte erinnern ein wenig an den so berühmten wie erratischen Satz, den Herman Melville seinem Protagonisten Bartleby in den Mund gelegt hat: „Ich möchte lieber nicht.“ In der Erzählung – der ersten, die Melville nach „Moby Dick“ herausbrachte – verweigert sich der schmallippige Kopist nicht nur seinem Chef, sondern am Ende dem gesamten (und womöglich schon damals leicht überdrehten) Weltgeschehen. Eines Tages ist dieser Bartleby einfach verschwunden. Ohne Kommentar. Tschüs und adieu.


An der Elbe, unweit schiefer Kapitänshäuser, wohnt eine ältere Dame, die ebenfalls ziemlich unterhaltsam aus ihrem seglerischen Nähkästchen plaudern könnte – die ihr Dasein auf den Segelschiffen jedoch gleichfalls lieber für sich behält. In den siebziger Jahren kreuzte sie jahrelang durchs Mittelmeer, sie war eine der frühen Frauen, die sich im Bann von Moitessier und Wilfried Erdmann einem freien Leben auf den Segelschiffen verschrieben.

Auch sie könnte jede Menge erzählen – will aber nicht

Im Laufe ihres Lebens besaß sie diverse Holzyachten, vagabundierte zwischen Griechenland und Spanien, lag wochenlang in den damaligen Fischerhäfen. Jahrelang lebte sie auf ihren Schiffen, befuhr die Ostsee, segelte nach England.

Eine Segelverrückte ersten Ranges, die Stürme auf dem Atlantik abwetterte und selbst gestandene Salzbuckel bleich werden ließ, wenn sie tage- und nächtelang ohne Pause an der Pinne saß, glücklich und zufrieden zwischen Wind und Wellen.

Auch sie könnte jede Menge erzählen – will aber nicht. Alte Fotos liegen bei ihr auf dem Tisch, Logbücher, vergilbte Seekarten und jede Menge handschriftliche Notizen. Es sind Zeugnisse eines bewegten Seglerlebens, das jedoch unter Verschluss bleiben soll. Familie und Freunde freilich kennen die irren Anekdoten der unermüdlichen Schiffsfrau, die noch mit 80 Jahren staubumwolkt unter ihrem Kahn stand und den Rumpf schliff – per Hand. An die Öffentlichkeit aber will sie ihre wässrige Vita nicht bringen. „Wozu?“, fragt sie. „Ich weiß, was ich erlebt habe. Lass mal lieber andere von sich erzählen.“ Ihre Erklärungen klingen kurzsilbig. Vielleicht weil sie weiß, dass alle Worte und Bilder den Zauber des Segelns nicht wirklich ersetzen können?


Verborgene Geschichten, die sich in den Köpfen von Seglern verstecken, scheint es so einige zu geben

Doch sind es bisweilen nicht nur die alten Haudegen, die ihre Segeleskapaden lieber für sich behalten. Ein Bootsbauer an der Weser, er ist im besten Alter, hätte ebenfalls einiges zu berichten. Als junger Mann segelte er im Mittelmeer, kreuzte später quer über die Nordsee, von Norwegen bis Schottland, wobei an Bord des Schoners schwer erziehbare Jugendliche weilten, die man auf See wieder für ein anständiges Leben begeistern wollte. Vor Finisterre kam er auf seinem eigenen Schiff in einen Sturm, woraufhin sein altes Holzboot besorgniserregend viel Wasser machte und er mit seiner Mutter umkehren und Portugal anlaufen musste.

In der Nachkriegszeit wurde diese Dokumentation einer Seereise an Bord der „Senta“ handschriftlich festgehalten und mit Fotos vom Bordalltag illustriert
Foto: YACHT/S. Reineke

Als Bootsbauer betreute er später Dutzende von Segelyachten, zudem hält der Mann eine historische Werft am Leben – würde aber einen Teufel tun, seine Geschichte an die große Glocke zu hängen. Dem Bootsbauer sind die Lippen mit Bronzestiften zugenagelt, wenn es darum geht, seine Liebe zum Segeln öffentlich zu machen. „Lieber würde ich im Skagerrak absaufen“, lautet sein Kommentar.


Verborgene Geschichten, die sich in den Köpfen von Seglern verstecken, scheint es so einige zu geben. Und vielleicht liegt es in der Natur der Sache, dass einige ihre Lebensläufe nicht lauthals kundtun wollen. Die Rezeptur eines aufregenden Seglerlebens kennt nun mal viele Ingredienzien, und nicht jeder möchte groß darüber sprechen.

Wie sagte schon Goethe? „Es verrät keiner dem anderen die Handgriffe einer Kunst oder eines Handwerks, geschweige denn die vom Leben.“

Kann dies auch fürs Segeln gelten? Nicht reden, machen – weil sonst das Geheimnis verpufft?

Liegt es also tatsächlich in der Natur der Sache?

Denkbar ist allerdings auch, dass die Lust am diskreten Schweigen noch andere Gründe hat – und heute am Ende womöglich eine bewusste Anti-Position spiegelt. Die vornehme Enthaltung als Stilmittel, um sich von den Niederungen der modernen Zeiten und digitalen Selbstdarsteller abzuheben. Motto: Bloß nicht mit der Masse mitschwimmen, sondern sich seinen Status durch elitäres Abkapseln sichern. Demnach allerdings würde sich die mediale Verweigerung in ihr Gegenteil umkehren: In die derzeit wohl hippste und eitelste Variante der Selbstdarstellung, die vorstellbar ist. Man kennt das von den alten Charles-Bronson- und Clint-Eastwood-Streifen: Die Coolsten sind die, die am wenigsten sagen.

Der erste deutsche Einhand-Weltumsegler Wilfried Erdmann 1966 im Gespräch mit Bernard Moitessier (l.). Der Franzose hatte seinerzeit schon das Kap Hoorn im Kielwasser. Beide segelten damals ohne Öffentlichkeit, sollten später aber auch große Autoren viel gelesener Bücher werdenFoto: W. ERDMANN
Der erste deutsche Einhand-Weltumsegler Wilfried Erdmann 1966 im Gespräch mit Bernard Moitessier (l.). Der Franzose hatte seinerzeit schon das Kap Hoorn im Kielwasser. Beide segelten damals ohne Öffentlichkeit, sollten später aber auch große Autoren viel gelesener Bücher werden

Vielleicht nehmen die biografischen Abstinenzler unter den segelnden Zeitgenossen aber auch einen Trend voraus, der sich irgendwann in einer gesamtgesellschaftlichen Gegenreaktion äußern könnte. Als Antidotum gegen das mediale Bombardement würde sich dann eine kollektive Enthaltsamkeit einstellen. Eine Art kathartische Resonanz wider die ausufernden Bilderfluten und digitalen Selbstbeweihräucherungen: Dann, wenn niemand mehr etwas hören und sehen will – und auch niemand mehr etwas berichten und zeigen möchte.

Film aus. Ende der Vorstellung. Dies wäre einerseits verständlich, andererseits schade. Denn besonders das Segeln kann immer wieder erstaunliche Storys erzählen. Mehr noch: Das Segeln hat einige der ältesten, faszinierendsten und prägendsten Formen der Berichterstattung überhaupt erst hervorgebracht.

Segelgeschichten als Teil unserer Kultur

Was wäre unsere Kulturhistorie ohne die großen Reiseberichte von Magellan, James Cook, Columbus und Konsorten? Was hätten wir verpasst, hätten große Entdecker wie Charles Darwin, Marco Polo oder Humboldt ihre Reisen nicht dokumentiert und preisgegeben? Wobei die Akteure damals wohlgemerkt mit ausgemachter Hingabe und Akribie ans Werk gingen. Sie führten Log- und Tagebücher, übten sich in detaillierten und literarischen Beschreibungen.

Einige der Pioniere fertigten sogar kunstvolle Zeichnungen von den Erlebnissen, Tieren und Phänomenen an, die ihnen weiland an exotischen Ufern vor den Bug kamen. Bücher wie Joshua Slocums „Allein um die Welt“ wurden später zu Klassikern, danach waren es Bücher von Moitessier, Wilfried Erdmann und diversen anderen Seglern, die uns packende Reportagen und erhellende Biografien lieferten. Das Segeln, die Schiffe und die Berichte über die damit verbundenen Erlebnisse – seit jeher ist beides unmittelbar miteinander verquickt.

Was ist daraus geworden? Sicher, Quantität und Qualität der Berichterstattung haben heute völlig andere Kategorien angenommen. Die Wege und Technologien der Darbietung haben sich massiv verschoben – was bisweilen in Serien kitschroter Sonnenuntergänge und Kaskaden von mit Fahrstuhlmusik unterlegten Segelszenen mündet. Die Hashtags, Themen und Motive kennen kaum mehr Grenzen. Zu bewundern sind Donnerritte durch den Orkan, sagenhafte Walbegegnungen, aber auch inflationäre Darbietungen, die unter Rubriken wie „Sailing Madness“ oder „Hund an Bord“ laufen.

Darum aber wird das Segeln noch lange nicht müde, aufregende und oft überaus unterhaltsame Geschichten zu produzieren. Es erzählt sie heute nur anders. Vielfältiger, bunter, knalliger, schriller, schneller. Auch sind viel mehr Menschen selbst zu Protagonisten und Akteuren geworden, gleichzeitig aber auch zu Rezipienten: zu Lesern und Betrachtern. Die Prozesse und Methoden der Kommunikation kennen heute völlig andere Muster.

Die Segelgeschichten sind geblieben, Wege und Technik ihrer Darbietung anders. Bunter, knalliger, schneller, schriller

Das alles hat zwangsläufig zu gewissen Ausuferungen geführt, ebenfalls zu einer Herausforderung bei der Selektion – allerdings auch zu demokratischeren Verhältnissen. Die einsamen Helden und Koryphäen gibt es so heute nicht mehr. Ihre einstigen Alleinstellungsmerkmale haben ordentlich Konkurrenz bekommen.

Heute kann sich jeder zeigen, darstellen und vermarkten. Jeder kann von seinen Wagnissen, Träumen und Erlebnissen berichten – ungefiltert, nach Belieben, und dies vor den Augen eines weltweiten Publikums. Ein Klick, und der Urlaubstörn ist online. Ein Wisch übers Handy, und der neueste Hafenkommentar ist gepostet.

Das Abenteuer Segeln ist – wie so vieles – keine den Experten vorbehaltene Domäne mehr. Es ist quasi gläsern geworden. Und manchmal kann dabei eben auch ein schnelles Selfie Bände sprechen und das atemberaubende Foto eines stinknormalen Hobbyseglers den ersten Preis gewinnen.

Das Segeln schreibt noch immer die schönsten Geschichten

Überschaubarer ist die Segelwelt dadurch sicher nicht geworden. Vielleicht ein bisschen verrückter und rasanter, eine Spur greller und lauter, doch darum keineswegs zwingend flacher. Über Sinn und Verstand der Berichterstattung lässt sich dabei bekanntlich streiten – wie eh und je. Ebenso über die Vorzüge und Nachteile, seine Leidenschaft mit möglichst vielen zu teilen.

Fest steht: Wenn es um Lebensinhalte und ihre Darstellung geht, dürfen wir heute wie einst staunen – und uns dabei einer alten Wahrheit zum Glück gewiss sein. Das Segeln schreibt noch immer die schönsten Geschichten. Meer und Wind bieten nach wie vor eine fulminante Kulisse, und auf den lieben Schiffen spielen bis heute unglaublich starke Stücke.

Aber wem erzähle ich das?


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