Seit zwei Jahren bereite ich mich auf das seglerische Highlight meines Lebens vor, und nun ist es endlich so weit. Aus zwei Jahren werden zwei Monate, aus zwei Monaten zwei Wochen, und irgendwann sind es nur noch zwei Tage bis zum Rennstart. Die Spannung steigt und damit auch die Aufregung. Habe ich alles organisiert für zehn Monate Abwesenheit? Ist meine persönliche Ausrüstung vollständig? Bin ich körperlich und mental bestmöglich vorbereitet?
Doch wie bereitet man sich überhaupt auf eine Atlantiküberquerung mit einer Rennyacht vor? Oder auf 25 Fuß hohe Wellen auf dem Pazifik, auf 40 Grad heiße Außentemperatur, auf acht bis neun Windstärken auf einem nächtlichen Downwind-Kurs, auf mehr als 15 Knoten schnelle Raumschots-Ritte?
In der dritten Trainingswoche vor dem Rennen ist das Niveau bereits einigermaßen hoch. Alle, die noch dabei sind, haben die Hürden geschafft, die Vorrunden bestanden und sind sich selbst sicher, das Richtige zu tun. Sämtliche Grundlagen wie Knoten oder Leinenarbeit werden vorausgesetzt.
Sicherheit wird allem vorangestellt, sodass uns Sicherheitseinweisungen immer wieder vorgebetet und MOB-Manöver täglich wiederholt werden. Während des dritten Trainings kommt das Segeln mit dem asymmetrischen Spinnaker, dem Gennaker, hinzu. Jedes Boot ist mit drei Tüchern ausgestattet (Code 1 bis 3), die sich für unterschiedliche Windstärken bis 30 Knoten und 150 Grad Einfallswinkel eignen, sowie mit einem sehr leichten Windseeker. Da ein großer Teil der Rennstrecke als Downwind-Kurs geplant ist, ist das schnelle Setzen, Bergen und kontinuierliche Trimmen des bis zu 330 Quadratmeter großen Spinnakers Voraussetzung für eine erfolgreiche Platzierung. Hinzu kommen natürlich sowohl das Halsen unter Spinnaker als auch mögliche MOB-Manöver. Da ist er wieder, der Sicherheitsdrill.
Zirka drei Monate vor Rennstart findet der Crew Allocation Day in Portsmouth statt. Bei dieser Veranstaltung, die mit etwa 450 Personen gut besucht war, erfuhren wir, in welchem Team wir segeln und wer unser Boot führt. Der Event erinnerte ein bisschen an eine Mischung aus Versicherungsvertreter-Konferenz und Helene-Fischer-Konzert, machte aber den meisten Anwesenden trotz langwieriger Präsentationen sichtlich Spaß. Mittels Leuchtbändern am Arm fand die Zuteilung der einzelnen Crews statt, was bei elf Booten und elf Teams durchaus Zeit in Anspruch nahm. Als vorletzte Crew wurde ich dem „Team Hannah“ zugeteilt. Auf die acht Etappen um die Welt verteilt, besteht unser Team aus insgesamt 50 Männern und 17 Frauen im Alter zwischen 23 und 69 Jahren aus 19 Nationen, wobei neun Menschen sich für die gesamte Weltumsegelung entschieden haben, es sind bei uns an Bord drei Frauen und sechs Männer.
Das Rennen startet in Portsmouth am 3. September. Von hier führt die erste Etappe über einen Zwischenstopp in Cadiz/ Spanien nach Punta del Este in Uruguay (ca. 7.250 nm). Weiter geht es nach Kapstadt (4.200 nm) und von dort durch den Indischen Ozean nach Fremantle in Westaustralien (5.500 nm). Die vierte Etappe landet Ende des Jahres in Sydney (4.000 nm). Anfang 2024 segelt die Flotte weiter nach Zhuhai in China, wobei ein oder zwei noch nicht genannte Zwischenstopps vorgesehen sind (6.300 nm). Die sechste und längste Etappe stoppt in Qingdao und führt dann über den nördlichen Pazifik nach Seattle (8.000 nm). Während der siebten Etappe fährt das Feld die Westküste der Vereinigten Staaten herunter, durch den Panamakanal und wieder nach Norden an der Ostküste hoch bis nach New York City oder Washington (7.200 nm). Die finale Etappe führt dann zurück nach England, wo das siegreiche Team Ende Juni/Anfang Juli 2024 gekürt wird (4.400 nm). Insgesamt segelt die Flotte in rund elf Monaten rund 40.000 Seemeilen.
Mit eigener Crew und unserer Skipperin Hannah ging es Mitte Juni los mit dem vierten und letzten Training. Da wir keine vollständige Crew aus unserem Team versammeln konnten, wurden wir mit einem anderen zusammengelegt. Die Wachen wurden jedoch so eingeteilt, dass die meiste Zeit ausschließlich Mitglieder eines Teams an Deck waren. Da unser Teil der Mannschaft nur aus sechs Leuten bestand, war die Arbeit entsprechend anspruchsvoll, aber auch sehr lehrreich: Mit lediglich sechs Leuten zu steuern, zu trimmen und gleichzeitig mitten in der Nacht einen 330 Quadratmeter großen Spinnaker einzuholen ist keine leichte Aufgabe; doch solche Herausforderungen bereiten optimal auf das eigentliche Rennen vor.
Den Höhepunkt des Trainings stellte ein simuliertes Rennen mit mehreren Yachten von Südengland durch den Englischen Kanal nach Frankreich und zurück dar. Die knapp 200 Seemeilen wurden, je nach Wind, in etwa 24 Stunden gesegelt, jede Wache war somit zweimal in der Verantwortung. Einige Stunden vor dem Rennen übten wir den Le-Mans-Start: Hierbei darf das Team die beiden Vorsegel nur vorbereiten, jedoch nicht setzen. Zehn Minuten vor dem Start versammelt sich die Crew im hinteren Teil des Cockpits und darf erst beim Startsignal nach vorn stürmen, um Staysail und Yankee zu heißen. Das Boot ist als Kutter getakelt, es gibt also zwei kleinere Vorsegel anstelle einer größeren Genua.
Das simulierte Rennen ist die erste wirkliche Gelegenheit, Regattaluft zu schnuppern, da hier Manöver zur Anwendung kommen, die vorher nur, wenn überhaupt, theoretisch angesprochen wurden: Wann führt die Crew eine Halse durch, wann und wie tauscht sie einen Code 2 gegen einen Code 1, welche Zeit wird hierfür eingeplant, und was bedeutet eigentlich das ominöse „Velocity Made Good (VMG)“. Wer nicht bereits aus der Regattawelt kommt, lernt spätestens hier die ersten Grundregeln des Wettsegelns.
Ähnlich wie beim Ocean Race erfolgt die Wertung nicht über die gesegelte oder eine berechnete Zeit, sondern durch Punktevergabe analog zur Platzierung. Pro Etappe werden ein oder zwei Rennen gefahren und mit 1 bis 11 Punkten bewertet; je mehr Punkte, desto höher die Position. Zusatzpunkte kann jedes Team durch Ocean-Sprints von einigen 100 Meilen erlangen, in denen Boot und Team einiges mehr abverlangt wird als bei den längeren Rennetappen.
Mit den „Gates“ hat sich die Rennleitung eine taktische Schikane ausgedacht: Außerhalb der Ideallinie des Rennverlaufs werden virtuelle Tore aufgestellt, die bis zu drei Zusatzpunkte pro Rennen bringen können. Entscheidet sich ein Team, das Tor zu passieren, riskiert es daher einen Zeitverlust. Ob der Punktgewinn den Verlust der Ideallinie aufhebt, bleibt die taktische Entschei-dung des Skippers. Während des gesamten Rennens kann ein Team einmalig einen Joker einsetzen, um die doppelte Punktzahl für eine Wettfahrt zu erhalten.
Die von Tony Castro konstruierten Einsatzyachten des Typs Clipper 70 unterscheiden sich von den Vorgängermodellen Clipper 68 unter anderem durch zwei Steuerräder und ein doppeltes, redundantes Rudersystem. Alle Fallen und Strecker sind ins Cockpit geführt, was die Teamarbeit zwischen Steuermann und Mannschaft sehr vereinfacht. Der Navigationsbereich wurde von der Mitte des Bootes ins Heck verlegt und ist für eine bessere Kommunikation nur noch durch eine Klappe vom Steuer getrennt. Auch wurde der Pantrybereich der 70er-Yachten zentral angelegt und U-förmig gestaltet, mit Bänken back- und steuerbords, sodass die Mannschaft die Freiwache besser gemeinsam verbringen kann. Alle elf Clipper 70 sind identisch ausgestattet. Elf Segel sind an Bord der kuttergetakelten Offshore-Yacht. Ist ein eingerissenes Segel nicht mehr reparierbar und muss ausgetauscht werden, gibt es Strafpunkte für das Team.
Unter Deck befinden sich 20 Kojen sowie immerhin zwei kleine Toilettenzellen. Ausgelegt sind die Schiffe für eine Mannschaft von 21 Crewmitgliedern, zuzüglich Skipper und AQP (Additional Qualified Person). Da meist in zwei Wachen gesegelt wird, ist nur die Hälfte der Kojen nötig. Die Abwesenheit jeglichen Luxus zeigt sich durch nur eine winzige Handdusche, die mit Salzwasser betrieben wird, sowie die Größe der Kojen, die je nach Position im Schiff gern auch nur 60 Zentimeter breit sind.
Die Boote sind konventionell aus GFK-Sandwich gebaut, kommen aber durch ihre große Segelfläche dennoch auf eine hohe Segeltragezahl von 5,4 und damit auf ein sehr perfomantes Leistungsgewicht.
Den aktuellen Stand des Rennens übermittelt die Rennleitung alle sechs Stunden an die Crews; stündliche Updates können Zuschauer über die Website von Clipper einsehen. Einmal pro Etappe darf ein Team den „Stealth-Modus“ aktivieren, sodass es über einen Zeitraum von 24 Stunden für andere Teilnehmer und Zuschauer unsichtbar ist. Eine Crew kann auch Strafpunkte bekommen, beispielsweise bei Verlust oder irreparabler Beschädigung des Equipments einschließlich der Segel, beim Durchqueren von Gebieten, die von der Rennleitung gesperrt wurden (zum Beispiel Verkehrstrennungsgebiete oder militärische Sperrzonen), oder bei der Abweichung vom Kurs in zu weit südlich gelegene und damit eisgefährdete Gefilde, beispielsweise auf der Etappe zwischen Südafrika und Australien.
Sicherheit hat für den Veranstalter Clipper Ventures oberste Priorität, und das ist den Engländern keine hohle Phrase. Jede der Einheits-Yachten verfügt über fünf Abteilungen, die bei Wassereinfall unabhängig voneinander abgeschottet werden können. Der Bug ist eine einzige Knautschzone, die bei einem frontalen Crash relativ viel Schaden abdämpft. Zwei unabhängige MOB-Systeme sind an Bord installiert sowie drei große Rettungsinseln für jeweils acht Personen. Jeder Teilnehmer erhält eine eigene, fabrikneue Spinlock-Rettungsweste mit Druckauslösung (statt wie früher mit empfindlicher Salztablette) sowie eine Lifeline mit neuartigen Karabinern. Hierfür sind mehrere redundante Jackstays über die gesamte Schiffslänge und auch an Mast, Bug und im Steuerbereich installiert. Die Westen sind mit eigenem AIS ausgestattet, die bei Wasserdruck auslösen und ein Notsignal senden. Auch die Markierungsboje verfügt über AIS, was das Auffinden bei Dunkelheit und hohem Seegang sehr erleichtert. Vor den Steuerrädern sind Wellenbrecher installiert, die überkommenden Wellen die Gefahr nehmen, den Steuermann über Bord zu spülen oder zu verletzen.
Und die Sicherheitsregeln sind streng: Ab 15 Knoten Wind und/oder bei Dunkelheit muss die Crew sich einpicken. Außer zum zügigen Durchqueren darf man sich nicht in der CCZ aufhalten, der Cockpit Cautionary Zone, einem etwa zwei Meter langen Bereich zwischen hinterem Grinder und Steuerrad. Und bei einem Windeinfallswinkel größer als 90 Grad muss man auf dem Weg zum Heck (und zurück) unter dem nur 40 Zentimeter hohen Traveller hindurchkriechen, um nicht im Fall einer Patenthalse von der Großschot erwischt werden zu können. Das ist in voller Offshore-Klamotte eine Herausforderung.
Die umfangreichen Sicherheitssysteme und die wiederholten Übungen sorgen für eine ständig wachsende Bordroutine im Umgang mit dem Boot und dem Equipment. Eine gewisse Aufregung vor dem Rennstart bleibt jedoch bestehen, zusammen mit der sich wiederholenden Frage: „Warum mache ich das eigentlich?“
Relativiert werden solche Gedanken allerdings schnell, als Sir Robin Knox-Johnston, Segellegende und Clipper-Gründer, in seiner „Suhaili“ grüßend an uns vorbeifährt: Dieser Mann ist damit einhand und nonstop um die Welt gesegelt, ohne GPS, Grib-Daten oder sonstigen technischen Schnickschnack. Worüber mache ich mir eigentlich Sorgen?
Der Autor: Andreas Zerr. Der 1971 geborene Hamburger hat erste Segelerfahrungen im Alter von acht Jahren im Opti gesammelt und ist seit 2019 mit seiner Ohlson 8:8 in der westlichen Ostsee unterwegs. Der freiberufliche Filmproduzent kennt Reviere wie die Atlantikküste, Nordsee, Kanal oder Mittelmeer und arbeitet zeitweise als Ausbildungsskipper auf SKS-Törns von Kiel aus.