Tatjana Pokorny
· 02.11.2024
Boris Herrmann: Ja! Der Sitz in der Mitte, im Durchgang vom Crewquartier ins Cockpit - da bin ich in den meisten Bedingungen am liebsten. Von da kann ich was sehen, arbeiten, essen und dösen. Das ist einfach mein Lebensplatz, mein Wohnort.
Viel größer als auf allen anderen Schiffen. Auch größer, als ich brauche. Die Grundfläche vom Cockpit ist ja zweimal so groß wie diese Bude hier (Red.: Boris bezieht sich auf die Größe eines Mini-Glasgartenhäuschens in seiner Lieblings-Brasserie in Hamburg-Ottensen, wo wir das Interview führen).
Eher nicht. Manche sagen sich bei der Vendée Globe, dass sie das Meer nicht sehen wollen, dass nur alles in Reichweite sein soll, um unnötige Wege zu vermeiden. So hat Charlie Dalin auf ‚Macif‘ beispielsweise alles extra kompakt gehalten.
Charlie Dalin nicht viel; Thomas Ruyant schon. Der hat es auch so gebaut: alles ganz eng zusammen und das Cockpit nicht zu groß. Die ergonomischen Gründe liegen auf der Hand. Du machst eine Bewegung und hast alles im Griff. Du musst keine Schritte hin und her machen, bei denen du theoretisch stolpern, danebentreten oder hinfallen könntest.
Ja, glaube ich auch. Aber ich würde jetzt nicht sagen, dass die Boote der anderen einfach nur schrecklich sind. Ich finde Thomas Ruyants Cockpit sehr gelungen. Auch das von ‚Paprec Arkéa‘ ist toll. Die haben zwar nicht so viel Platz, können aber gut rausschauen. Und es ist ergonomisch sehr gut gelöst.
Wir haben eine kleine Heizung eingebaut, noch etwas an der Ergonomie gearbeitet und den Sitz weiter verbessert. Sonst waren es nur Routine-Checks und normale Wartungsarbeiten. Es war immer das Ziel, das Boot mit den beiden Transatlantik-Regatten dieses Jahr zu validieren. Natürlich kriegt “Malizia – Seaexplorer” jetzt neue Segel. Bei den Foils haben wir auch nochmal ein bisschen geschliffen.
Nein, wir haben nur das Finish verbessert, sodass sie glatt und gerade sind.
Fast alle. Acht Segel haben wir insgesamt dabei. Die Sturmfock allerdings benutzt kaum jemand. Die ist meistens älter. Die kauft man immer nur einmal mit einem Schiff. Und dann bleibt sie meistens im Sack. Wir haben sie einmal kurz im Ocean Race verwendet, auf Etappe eins im Sturm vor Gibraltar. Und meinen Downwind-Gennaker behalte ich auch. Alle anderen kommen neu. Ab dem nächsten Jahr ändert sich übrigens die Klassenregel. Dann sind es mit Sturmfock insgesamt nur noch sieben Segel, die man dabeihaben darf.
Im Retour à La Base war mein Großsegel zwei Minuten nach dem Zieldurchgang durchgerissen. Das war das leichte North-Standardsegel. Unser Segel fürs Ocean Race hatten wir aber in weiser Vorausschau schon schwerer spezifiziert. Und das hat jetzt auch noch die beiden Transat-Rennen überstanden. So lassen wir auch das Vendée-Globe-Segel deutlich stabiler und schwerer bauen als üblich.
Ich hatte die J0 drauf, die anderen den großen Gennaker oder Masthead Zero. Das sah komisch aus, weil die großen Segel viel geflattert haben, wenn die Boote beschleunigten. Dann denkst Du, es sieht nicht so elegant aus, aber sie kamen doch ziemlich schnell voran, konnten die gleiche Geschwindigkeit laufen wie ich, dabei aber ein bisschen tiefer halten. Ich glaube, dass das nur gerade in dem Windfenster bis um die 22 Knoten so ging. Bei zwei Knoten mehr Wind oder etwas mehr Welle funktioniert das schon nicht mehr so gut.
North Sails, wie die meisten. Es gibt beim Vendée Globe noch Yoann Richomme mit Incidence-Segeln. Sein Vater ist der CEO der Incidence Group. Es ist ja gut, wenn nicht nur ein Segelmacher mitspielt.
Die sind da in Frankreich ein bisschen in zwei Camps eingeteilt, aber nicht total hermetisch gegeneinander abgeriegelt. Die haben sich die Flotte untereinander aufgeteilt, man tauscht sich jedoch aus.
Ich würde sagen, die Segel konvergieren schon sehr stark. Ich glaube, wir haben da nichts zu verstecken, was die anderen nicht auch hätten. Da gibt es nicht so viele Geheimnisse. Man sieht ja am Start und in Videos, was die Teams hochziehen, wie ihre Segel aussehen und funktionieren. Thomas Ruyant hat es beispielsweise extrem gemacht mit einer kleinen Fock. Mal sehen, wie er klarkommt, wenn nur noch sieben Segel zugelassen sind.
Er fährt gerne triple-headed, also mit drei Segeln vorn in Reihe. Die J2 ist dann so klein, dass sie als Stagsegel funktioniert. Also zwischen der J3 und dem, was auch immer er ganz vorn draufhat. Die haben ganz viele Aerodynamik-Studien durchgeführt und glauben, dass das ein großer Vorteil ist. In dem Modus sind sie auch die Schnellsten. In anderen Bedingungen muss er sein ganzes Segelset etwas anders abstimmen. Es wird interessant sein zu sehen, wie er damit zurechtkommt.
Der besteht aus Radar, AIS und SeaAI, das früher OSCAR hieß (Red.: einer Kombination aus Video- und Wärmebildkamera mit automatischer Mustererkennung). Die drei Systeme zusammen geben eine ganz gute Komplementarität ab. Mit dem Radar filtern wir alles weg, was näher als eine Meile ist, weil das Sea AI die Kollisionsüberwachung übernimmt.
Jeden Vogel. Das System piept bei jedem Vogel, der vorbeifliegt. Das ist manchmal auch ein Problem, vor allem im Südmeer, wenn uns Albatrosse begleiten. Aber da haben wir normalerweise keine Schiffsbegegnungen oder ähnliche Probleme. Da sind wir eher allein unterwegs. Einige Skipper haben berichtet, dass sie ohne das System richtig blöde Kollisionen gehabt hätten: mit unbeleuchtet vor der brasilianischen Küste umhertreibenden Holzfischerbooten ohne AIS beispielsweise. Die kannst du echt nicht sehen. Da gibt es Hauptschiffe und dazu kleinere Kanus, die sie losschicken. Die fahren auch bei hohem Seegang in einem Radius von ein paar Meilen um das Mutterboot herum und können plötzlich neben dir aus einer Welle auftauchen.
Wir gehen einen Schritt nach dem anderen. Zunächst einmal habe ich mich ganz akribisch darum gekümmert, unsere Kampagne für die kommenden Jahre weiterzuentwickeln und bestmöglich aufzustellen. Es ist für mich von existenzieller Bedeutung, dass unser Team nicht allein vom Verlauf der Vendée Globe abhängt. Ich muss wissen, was im Januar 2025 passiert, wenn ich wieder hier bin. Ich habe von einigen Olympioniken gehört, dass sich bei ihnen alles auf Olympia konzentriert. Ich frage mich, ob das wirklich professionell ist, diese Art der Lebensherausforderung über viele Jahre zu verfolgen, ohne in ein größeres Projekt eingebettet zu sein? Ich glaube, dass die Einbettung mehr innere Ruhe geben kann. Das ist mental komplett anders. Und du hast viel mehr Resourcen.
Wenn die Leute bereit wären zu sagen ‚Ich mache Segeln zu meinem Leben‘, dann nimmst du die auch in dein Team auf. Solche Leute suchen wir überall. Wir haben Olympioniken schon Jobs angeboten, aber da kam wenig zurück. Ich habe beispielsweise den Kontakt zwischen Thomas Ruyant und einer Olympiaseglerin hergestellt, weil er eine deutsche Seglerin suchte. Diese Vorstellungen sind aber nicht in deren Kopf.
Aber sich breiter und projektübergreifend aufzustellen, würde die totale Fokussierung und damit auch die finanzielle Abhängigkeit auflösen und gleichzeitig den Erfahrungshorizont mit oft positiver Wirkung erweitern. Siehe die spanischen 49er-Olympiasieger von Marseille, die auch im SailGP aktiv sind und sogar die Saisonmeisterschaft gewannen.
Ein Jochen Schümann ist nach seiner Olympia-Karriere mit den Schweizern in den America’s Cup gegangen und hat ihn zweimal gewonnen. Er ist immer noch in den Profi-Kielboot-Serien im Einsatz. Ein Timmy Kröger ist zweimal um die Welt gesegelt und dann ohne Französischkenntnisse erst mit den Franzosen und dann mit Südafrika in den America’s Cup gegangen. Das Segeln zum Beruf zu machen, bedeutet, die einzelnen Schritte auf dem Weg zu gehen, präsent zu sein, an Türen zu klopfen – und es zu machen! Jede deutsche Seglerin und jeder deutsche Segler kann für sich entscheiden, das zu tun. Man kann in Lorient abends in der Bar sitzen und dort mit den Leuten aus der Mini-Szene, Figaro, Class40, Imoca oder Ultime sprechen. Amélie Grassi ist ein tolles Beispiel: Vor ein paar Jahren war sie kaum bekannt, jetzt segelt sie die Trophée Jules Verne mit François Gabart. Mehr geht nicht!
Wir kümmern uns maximal vorausschauend um unsere Partner, das Team, das jetzige Schiff und weitere Zukunftsfragen, die wir bis Ende 2025 im Einsatz haben werden. Da sind 1000 Pläne mehr, die noch nicht alle spruchreif, aber sehr vielseitig sind. Wir arbeiten an der Kampagne der Zukunft.
Auch darüber denken wir nach. Aber ein Schritt nach dem anderen (lächelt).
An der Kampagnenzukunft über 2025 hinaus arbeiten wir. Dazu kann ich hoffentlich bald mehr sagen. Natürlich habe ich mir auch Gedanken gemacht, mit wem wir das Ocean Race Europe bestreiten wollen. Da denkt man im Geiste das Ocean Race 2027/28 gleich mit. Da habe ich Gespräche geführt und es gibt es eine Handvoll Leute, die wir im Visier haben. Verpflichtungen aber gibt es noch keine.
Ich würde sie gerne für Team Malizia gewinnen. Ich glaube, sie ist eine sehr gute Seglerin. Und eine coole Socke auch.
Da kämen einige in Frage. Ich habe aber inzwischen in einigen Gesprächen auch mit Olympioniken den Eindruck gewonnen, dass es sich viele zu kompliziert vorstellen. Es geht im Kern vor allem um Engagement, Verbindlichkeit und die Vision der Leute.
Ja, jetzt haben alle Kinder… (lacht). Wir sind etwa 20 Leute jetzt im Kern. In intensiven Bootsbauzweiten waren wir bis zu 55 Leute.
Das kann auch mal eine Herausforderung sein. Aber auf der anderen Seite sehe ich dazu nicht viele Alternativen. Man hört es von den großen Unternehmen, wie sie damit zu kämpfen haben, die Leute wieder ins Büro zurückzurufen. Es gibt wieder Anwesenheitspflichten bei großen Konzernen. Zum Teil verstehe ich, was dahintersteht: weil ein Zwischengespräch in der Kaffeeküche manchmal mehr bringt als ein langes Meeting. Auf der anderen Seite: Wenn alle ständig an einem Ort sein müssen, schmälert es stark die Anzahl der Kandidaten, die für eine Anstellung in Frage kommen.
Ich würde auf acht bis zehn tippen. Die Teilnahme bedeutet eine logistische Situation, die ein kleineres Imoca-Team schon herausfordert. Dann sage ich aber: Mensch, Leute, mietet euch einen Bulli, hängt einen Anhänger dran und macht einen Roadtrip.
Ich glaube, die Vendée Globe hat weiter die Attribute, die sie immer hatte: Dahinter steht kein großer Marketing-Sportkonzern, der das Rennen umkrempelt. Es ist immer noch der Präsident der Vendée der Event-Chef. Der kümmert sich auf süße und hemdsärmelige Art darum, dass da Bierbuden aufgestellt werden. Das ist sehr handfest, kein Marketing-Chichi. Manchmal ist das für uns aber auch ein bisschen schwierig, wenn wir das ein solches Sportereignis kommerziell nutzen wollen. Manchmal geht es so nicht.
An der Stelle ist das Ocean Race komplett komplementär. Da gibt es dann halt die VIP-Möglichkeiten, die es bei der Vendée Globe nicht gibt. Zur Vendée Globe kannst du noch nicht mal hinkommen und parken, kriegst auch keine Badges oder Karten für deine Gäste. Das kennen die alles nicht. Aber dafür ist es halt das große Spektakel. Beim Ocean Race können wir eine super Hospitality bieten. Insofern haben wir beide Welten, die wir mögen, mit Leidenschaft bestreiten und brauchen, gut zusammen abgedeckt.
Ich glaube, dass die Besitzverhältnisse in unserem Segment des Hochseesports einzigartig sind. Die Rennen werden von Leuten veranstaltet, die unterschiedlichen Interessengruppen angehören. Daneben steht die Klassenvereinigung. Daraus ergibt sich eine multilaterale Situation, die alle Interessen ganz gut moderiert. Alle meckern natürlich den ganzen Tag. Die einen finden dies doof, die anderen das – normal. Aber die Interessen sind schon sehr ausgewogen vertreten. Wenn ich mir dagegen etwa Olympia und das IOC ansehe, dann hast du einen riesigen Machtapparat, der dir genau sagt, was du darfst und was du nicht darfst. Bei uns ist es zumindest zu einem Teil ein wirklich partizipativer Prozess.
Zumindest wir als Klasse sind ja wie ein Verein organisiert und überlegen zusammen in Meetings, in WhatsApp-Gruppen, an der Bar in Lorient, in der kleinen Gouvernance-Gruppe oder sonstwo, was die jeweils nächsten richtigen Schritte sind und was mittel- und langfristig die richtigen Entwicklungen wären. Der Klassenpräsident Antoine Mermod teilt seine Gedanken mit allen, ruft uns Skipper regelmäßig an, ist mit Herzblut dabei. Der macht auch keinen Urlaub, das ist sein Lebenswerk. Das ist toll in so einer Klasse mit so einer Begeisterung und Leidenschaft.
Die Vendée Globe ist so ein bisschen der Counterpart, mit dem wir uns auch reiben. Weil denen das Rennen gehört. Sie könnten der Imoca-Klasse auch sagen: Ihr bleibt jetzt mal schön zu Hause, wir machen das künftig mit Class40s. Oder mit unserem eigenen Bootstyp. Theoretisch wäre das denkbar, weshalb es manchmal kleine Schluckauf-Momente gibt. In der Realität ist das natürlich nicht wirklich vorstellbar.
Ja. Es ist halt wie eine Ehe zwischen der Vendée Globe und der Imoca-Klasse. Man liebt sich, aber man hasst sich manchmal auch. Man streitet sich und versöhnt sich wieder. Dadurch kommt eine ausgewogene Sache heraus. Völlig einig sind sich beide im sportpolitischen Ansinnen, dass das Abenteuer-Element nicht verloren gehen darf. Dass das Rennen zugänglich bleiben muss für Leute mit kleinem Budget, wenn die sich ein paar Jahre engagieren, um sich zu qualifizieren. Dann dürfen die auch starten. Das soll nach wie vor gewährleistet bleiben.
Wir hatten auch schon einmal Drittel internationale Starter. Beim letzten Mal waren wir 33 Skipper, darunter ebenfalls elf Nicht-Franzosen.
Ich kann beide Seiten verstehen. Ich hätte gerne alle mitgenommen. Die zwei, die nicht die Wildcard bekommen haben (der Brite James Harayda und Francois Guiffant, d. Red.) waren perfekt vorbereitet, qualifiziert und finanziert. Das tut schon sehr weh zu sehen, an dem Punkt nicht mitsegeln zu dürfen. Sie haben vier Jahre Arbeit reingesteckt. Sie wussten aber von diesem Risiko. Vor allem ‚Fanch‘ (François Guiffant), der sogar eine Sondergenehmigung für sein altes Schiff hatte. Das ist übrigens mein früheres Barcelona-Round-the-World-Race-Boot, die ehemalige ‚Neutrogena‘, ein ganz tolles Schiff.
Aber andererseits: Wenn du Regeln aufstellst und sagst, es gibt 40 Plätze und eine Clarisse Crémer verliert ihren Job, weil es so unsicher ist, ob sie sich trotz Schwangerschaft noch qualifizieren kann, sich also solche Dramen abspielen, dann nivelliert man am Ende alles, wenn die Kriterien doch noch aufgeweicht werden. Da kann ich auch die Leute verstehen, die Angst haben vor entsprechender Kritik und lieber eine gerade Linie fahren wollen. Regeln sind Regeln.