Das Setzen des Großsegels dauert seine Zeit. Zunächst nämlich müssen zwei Männer im Klettergurt auf halbe Höhe zur ersten Saling gezogen werden. Sie haben dort die Aufgabe, das enorme Kopfbrett an die Mastrutscher anzuschlagen. Danach sollen sie die oberen durchgehenden Latten spannen, während sich das knapp 250 Quadratmeter große, pechschwarze Großsegel langsam dem Masttopp entgegenreckt.
Überwacht wird das Manöver vom Amerikaner Ken Read, der dazu lässig an der Reling angelehnt im Heck steht. Der Ausnahmesegler und Präsident von North Sails ist für den Maxi Yacht Rolex Cup im italienischen Porto Cervo als Taktiker an Bord und soll mit seiner enormen Erfahrung im Umgang mit großen Regattayachten das neu zusammengestellte Team auf der „My Song“ coachen. Seine Anweisungen an die überwiegend italienische Mannschaft sind kurz, präzise, unmissverständlich.
Am Trainingstag vor dem ersten Einsatz herrscht an Bord der brandneuen ClubSwan 80 spürbare Professionalität. Gearbeitet wird ruhig, überlegt, ohne jede Hektik. Jeder weiß, was zu tun ist, denn alle in der 15-köpfigen Mannschaft sind bezahlte Profis, und sie verfügen über entsprechende Leistungsnachweise auf dieser Art von großen Rennyachten. Wer nicht genau weiß, wo er wie hinlangen soll, hält sich besser raus. So wird der YACHT-Reporter auf seine Frage, ob er in den Manövern mit anpacken soll, erst mal zurückgewiesen. „Am besten, du setzt dich einfach mal in den Heckkorb und hältst dich fest“, lautet die triviale Anweisung von Meister Read.
Die Konstruktion von Juan Kouyoumdjian ist kompromisslos auf Leistung gebürstet. Das Potenzial ist enorm
Nach rund 30 Minuten ist das Großsegel gesetzt. Eigner und Steuermann Pier Luigi Loro Piana übernimmt das Ruder und fällt auf halben Wind ab. Dazu wird die Genua gesetzt. Die Beschleunigung ist schlichtweg brachial. Auf den großen farbigen Digitalanzeigen am Mast stehen sofort 17 Knoten Speed bei etwa gleichviel Wind, und dabei scheinen die Segel noch nicht mal richtig gut getrimmt.
Dann folgt der kurze, prägnante Befehl von Read: „Hoist!“ Im schnellsten Gang zieht nun eine der beiden riesigen elektrischen Keramik-Winschen am Niedergang mit erschreckend violenter Kraft den riesigen Gennaker aus einer Luke im Vorschiff zum Topp. Wenn sich das große Segel mit einem gewaltigen Schlag entfaltet, kennt das Schiff nur noch eine Richtung: nach vorn! 23, 24, 25 Knoten stehen auf der Anzeige, das sind mehr als 45 Stundenkilometer. Auf dem Wasser ist das seine Wahnsinns-Geschwindigkeit. Und selbst das üppig motorisierte Begleitboot hat Mühe zu folgen.
Nach ein paar tadellos ausgeführten Halsen wird der Gennaker wieder eingesogen, und das im Wortsinn. Rund 700 Quadratmeter Stoff werden dabei durch eine Luke im Vorschiff in einen Strumpf gezerrt, der sich unter Deck durch das ganze Boot vom Bug bis zum Heck erstreckt. In nur fünf Sekunden ist von der riesigen Blase an Deck nichts mehr zu sehen. Auf einer Jolle dauert der Vorgang kaum weniger lang.
Zurück an der Kreuz schafft die „My Song“ bei gleichbleibenden Bedingungen elf Knoten Speed. Weil auf Yachten von diesem Kaliber und diesem Potenzial nur und ausschließlich die scheinbaren Windwinkel leistungsrelevant sind, ist auch das Steuern besonders anspruchsvoll. Eigner Pier Luigi Loro Piana gilt als ein sehr kompetenter und erfahrener Steuermann, ist aber dennoch froh über die guten Tipps, die ihm Ken Read als Steuerberater ins Ohr flüstert.
„Pigi“, wie der schillernde Modezar aus Italien von seiner Mannschaft genannt wird, will und kann nicht nur steuern, sondern er muss es auch. Auf kurzen Regattakursen dauerhaft, auf der Langstrecke zu definierten Zeiten, während der Startphase sowie beim Zieldurchgang. So fordern es die Vorschriften der Internationalen Maxi Association IMA sowie auch die Regeln, die für die ClubSwan 80 als Einheitsklasse bereits ausgearbeitet sind.
Einheitsklasse? Ja, so jedenfalls ist es geplant und in Vorbereitung. Dabei positioniert Nautor Swan seinen neuen 80-Fuß-Racer zwischen der arrivierten ClubSwan 50, die sich als One-Design-Klasse bereits erfolgreich und mit stattlichen Teilnehmerzahlen aufgestellt hat, und der ClubSwan 125. Vom Flaggschiff der Reihe ist mit dem atemberaubenden Segel-Monstrum und Rekordbrecher „Skorpios“ ebenfalls bereits ein Schiff im Einsatz.
Die Yachten vom Typ ClubSwan 80 werden wie die „My Song“ nicht in der Werft von Nautor Swan in Finnland, sondern in Kooperation bei den Kohlefaser-Spezialisten von Persico Marine in Italien gebaut. Rumpf, Deck, Bodengruppe, Schotten und Rumpfverstärkungen sowie auch der Kiel und die Ruderblätter entstehen in der Hightech-Schmiede nahe Bergamo aus Carbon mit Epoxidharz, teilweise mit Vakuum-Infusion, partiell unter Verwendung von Prepregs, vorgetränkten Laminatgelegen. Besser, leichter und steifer kann man Boote heute nicht bauen.
Pier Luigi Loro Piana war bei der Entwicklung seiner „My Song“ tief mit eingebunden. Sein Wunsch an Nautor Swan beim Konzept-Briefing lautete: eine Yacht, mit der man nicht nur erfolgreich im exklusiven Maxi-Regattazirkus mitmischt, sondern mit der er selbst auch fahrtensegeln kann, etwa mit der Familie, mit Freunden und Bekannten sowie einer kleinen Stammcrew als professionelle Unterstützung. Allerdings scheut „Pigi“ die Kompromisse und will die beiden Themen auf seinem Wunschboot sehr konsequent trennen können. Das heißt siegfähiger Racer einerseits und luxuriöses Fahrtenboot andererseits. Wie aber soll das funktionieren?
Die Antwort kommt von Nautor Swan in Form von modularen Einbau- und Ausbaukomponenten an und unter Deck. So ist die „My Song“ im Cruising-Modus innen sehr komfortabel ausgestaltet. Mit einem vornehmen Eignerbereich, bequemen Gästekabinen, Toilettenräumen mit Duschen sowie einer großzügig installierten Pantry. An Deck im Cockpit stehen Sitzgruppen, Cockpittische, eine Sprayhood sowie eine große Liegefläche zum Sonnenbaden zur Verfügung. Wenn man so will, ist die „My Song“ in dieser Variante eine Art Weekender im XXL-Format.
Plant das Team allerdings, demnächst an einer Regatta teilzunehmen, müssen sämtliche Annehmlichkeiten bezüglich Luxus und Genuss den kompromisslosen Bedürfnissen nach Sport und ultimativer Performance weichen. Das heißt: Sämtliche Einrichtungen zum Wohnen, alle Möbel, die Kojen, Stauräume sowie die ganze Küche und Teile der Nasszellen müssen wieder raus und von Bord. Die Teile sind so gefertigt, dass sie zerlegt entweder durch die Luke im Vorschiff oder durch den Niedergang passen. Auch das Cockpit wird geräumt. Duchten und Tische werden abgebaut, genauso wie alles andere, was für den Regattaeinsatz nicht zwingend gebraucht wird.
Der Umbau zum Racer dauert zwei Tage
Für den Umbau vom Performance-Cruiser zur ultimativen Regattayacht und umgekehrt benötigt ein fünfköpfiges Shore-Team jeweils zwei volle Tage. In dieser Zeit müssen Einbauteile mit einem Gesamtgewicht von rund einer Tonne demontiert und auf einen Laster verladen oder aber wieder eingebaut werden. Und: Soll die „My Song“ zum Cruisen hergerichtet werden, muss das Boot natürlich innen komplett herausgeputzt und entsalzen werden. Denn im Regattamodus gelangen allein durch den Bergeschlauch des Gennakers stets große Mengen Wasser in das Schiff.
Bei Yachten dieser Größe ist der Tiefgang ein relevantes Thema. Die Club-Swan 80 bekommt einen Canting-Kiel eingebaut. Das bedeutet: Die schlanke Flosse mit der über sieben Tonnen schweren Ballastbombe in Torpedoform wird bei Bedarf jeweils um 45 Grad hydraulisch nach Luv geschwenkt. Die größere Hebelwirkung potenziert das aufrichtende Moment. Der Neigekiel kann bei gleicher Performance also kürzer sein als ein Festkiel und kommt zudem mit weniger Ballast aus. Das ist einer der Gründe, warum die „My Song“ mit einem segelklaren Gesamtgewicht von 19,2 Tonnen im Regattamodus leichter ist als viele andere vergleichbare Rennyachten. Der Tiefgang beträgt zwar trotzdem noch stattliche 4,75 Meter, was aber reicht, um beim Cruisen problemlos die meisten größeren Häfen am Mittelmeer anlaufen zu können.
Wenn der Kiel bei Krängung vollständig nach Luv ausgeschwenkt ist, fehlt dem Boot unter Wasser jedoch die wirksame Lateralfläche. Gegen die Abdrift kommt dann ein sogenanntes Canard zum Einsatz, eine Art zusätzliches Schwert, das vor dem Kiel eingebaut ist. Bei der ClubSwan 80 lässt sich das Profil je nach Krängung und Stand des Canting-Kiels hydraulisch hoch- und runterfahren. Und die Flosse ist in der vertikalen Achse um sechs Grad auf jede Seite anstellbar. Das soll zusätzlich Auftrieb generieren und die Yacht mit der resultierenden Kraft förmlich nach Luv ziehen.
Muskelmänner braucht es an Bord der „My Song“ kaum noch. Die sieben riesigen Winschen im Cockpit sind elektrisch betrieben, und zur Verstellung von Canting-Kiel und Canard sorgen umfangreiche und kompliziert aufgebaute hydraulische Anlagen für schnelle und kraftvolle Bewegungen. Kurz: Alle Funktionen zum Trimmen der Segel und der Unterwasser-Anhänge sind nur und ausschließlich über Knopfdruck steuerbar. Winschkurbeln gibt es an Bord keine, auch keine Grinder. Selbst für die transversal im Deck versenkten Holepunkt-Verstellungen stehen den Trimmern Drucktaster zur Verfügung.
Natürlich sind diese Erleichterungen auch mit einem erhöhten Energieaufwand verbunden. Deshalb läuft der große Einbaudiesel beim Segeln dauerhaft mit und liefert als Generator Strom nicht nur für die elektrischen Antriebe der Winschen, sondern auch für die umfangreichen hydraulischen Anlagen. Immerhin braucht der gewaltige Zylinder für den Neigekiel mindestens 500 Bar Druck, um die Ballastflosse nach oben schwenken zu können. Ein kleines, aber durchaus erwähnenswertes Detail beim Antrieb: Die Propeller und Welle lassen sich über eine ausgefeilte Mechanik beim Segeln komplett in das Schiff einziehen. Eine Abdeckplatte verschließt dann die Öffnung im Rumpf nahtlos.
Eigner Pier Luigi Loro Piana hat sein letztes Schiff, ebenfalls mit Namen „My Song“, vor vier Jahren auf tragische Weise verloren. Damals ist der bei Baltic Yachts in Finnland gebaute 130-Fußer während einer Transatlantik-Überführung vom Frachter gefallen. Der Grund für das Unglück war wohl ein kollabiertes Transportgestell an Deck. Vor Menorca ging der knapp vierzig Meter lange Vollcarbon-Racer deshalb über Bord und auf Tiefe. Die Yacht konnte zwar später wieder geborgen, musste aber als Totalschaden taxiert werden. „Ich habe an diesem Tag meine Liebe verloren“, sagt der umgängliche Modemogul und Multimillionär aus Italien, der einen großen Teil seines Lebens an Bord von Schiffen verbringt.
Jetzt macht „Pigi“ mit seiner ClubSwan 80 auf Downsizing. „Ich bin ganz happy mit meinem neuen, kleinen Spielzeug“, sagt der Segel-Enthusiast, und dies ganz ohne Schalk. Mittlerweile haben sich auch die Erfolge eingestellt. Im Mai 2023 hat die „My Song“ die IMA Maxi European Championships in Sorrento nahe Neapel gewonnen, gegen 26 Konkurrenten zwischen 60 und 80 Fuß Länge – nach berechneter Zeit.
Mögen manche fragen, was eine Yacht wie die „My Song“ wohl gekostet haben mag – nur so aus Neugier freilich. Darüber aber schweigen sowohl der sprichwörtliche Gentleman wie auch die Werft und der Eigner. Die Vorgängerin soll 33 Millionen US-Dollar gekostet haben. Etwas günstiger wird die Neue wohl geworden sein.
Die beiden Layouts links verdeutlichen, was zum Tourensegeln an Bord kommt und was für die Regatta wieder raus. Für den Umbau werden Möbel mit einem Gesamtgewicht von rund einer Tonne durch die Luken und durch den Niedergang aus dem oder ins Schiff hinein bugsiert. Der Vorgang dauert rund zwei ganze Tage.