Jochen Rieker
· 24.01.2023
Im südöstlich gelegenen Korridor der Halle 16 stehen sie Seite an Seite: Hallberg-Rassy, Oyster, Amel, CNB, Contest; auch die aufregende Neo 570 ist dort zu bewundern – und die Swan 55, die neben der neuen 48 Mk II Deutschlandpremiere feiert. Sie ist die schlichteste unter den spektakulären Schönheiten
Um einen gern vorgebrachten Einwurf gleich an dieser Stelle zu kontern: Nein, wir berichten nicht nur über Luxusyachten im siebenstelligen Bereich. Auch testen wir nicht nur Boote der oberen fünf Prozent der Einkommenspyramide. Wir stellen hier auf der boot alle aus unserer Sicht relevanten Premieren vor (s. Pointer 30, Saffier 24). Dazu zählt natürlich auch Nautors Neue, die zu den elegantesten Erscheinungen in Halle 16 zählt und noch einige andere Besonderheiten aufweist.
Klar, sie kostet 1,8 Millionen Euro. Ohne Mehrwertsteuer. Ohne Segel. Kaum eine der bisher zwölf bestellten Yachten wird real unter 2,5 Millionen Euro an die Eigner übergeben werden. Bei wem da Sozialneid aufkommt – bitte nicht weiterlesen! Alle anderen Ship Lover, die sich über solche Preziosen einfach nur freuen können, nehmen wir gern mit an Bord.
Aber lassen Sie uns zunächst – wertfrei – beim Preis bleiben. Verglichen mit der Jeanneau Yachts 55, die knapp 80 Meter weiter westlich vom Nautor-Stand ihre Weltpremiere auf der boot Düsseldorf gibt (Vorstellung hier!), ist die Swan rund 2,6-mal so teuer. Man könnte also annehmen, dass die Finnen aus dem Vollen schöpfen können. Und doch sind Entwicklung und Bau einer für Swan vergleichsweise kleinen Yacht alles andere als trivial.
Die Eigner erwarten in diesem Segment des Yachtbaus ein Höchstmaß an Individualisierbarkeit. Anders als im Bereich von 80 Fuß und darüber würden konstruktive Sonderwünsche die Fertigung jedoch enorm komplizieren – und die Boote vollends unerschwinglich machen. Deshalb muss man sich die Swan 55 wie einen Baukasten aus vielen voll durchdachten und statisch berechneten Modulen denken, die an die 100 Kombinationsmöglichkeiten ergeben. Unter anderem darin unterscheidet sie sich grundsätzlich von der Jeanneau Yachts 55, die weit weniger Variabilität bietet.
Wie weit die Swan 55 an die Wünsche der Eigner anpassbar ist, können wir hier nur skizzieren. Vor dem Mast zum Beispiel kann man an Backbord eine Gästekabine wählen, wahlweise aber auch eine zum Salon hin öffnende Fernseh-Lounge – oder man gemeindet den Bereich in die Eignerkammer ein und lässt sich ein großzügiges Boat Office oder einen Ankleideraum einrichten. Die Optionen sind jeweils so überzeugend, dass es unmöglich erscheint, eine falsche Entscheidung zu treffen.
Auch Backbord achtern besteht Gestaltungsspielraum auf der Swan 55: Hier lässt sich wahlweise eine Werkstatt unterbringen, eine Lotsenkoje nebst Waschmaschine und reichlich Stauraum oder gar ein vom Cockpit erreichbares Quartier für zwei Crewmitglieder, falls man das Schiff nicht ohne fremde Hilfe segeln mag.
Für den gesamten Ausbau stehen vier Holzarten zur Wahl: Eiche, Eiche hell, Eiche dunkel oder Walnuss. Die Verarbeitung und das Finish suchen ihresgleichen – das darf man sicher erwarten von Nautor, und doch ist es jedes Mal eine Freude, die Qualität zu spüren, die aus Finnland kommt.
Teak-Interieurs dagegen stehen bei Nautor auf dem Index, weil es die Furniere nicht mehr in der für die Werft einzig akzeptablen Qualität (1st grade) gibt. Für die Decks sucht Nautor noch nach Alternativen und prüft nach YACHT-Informationen neben Iroko- auch Kork-Stabdecks. Eine Entscheidung ist aber noch nicht getroffen.
Auf Dringen von Werft-Besitzer Leonardo Ferragamo erhielt die Swan 55 eine Badeplattform, die einzigartig ist – “Leo’s Transom”. Sie öffnet nicht nur das Heck, sondern auch den achteren Teil des Decks, wodurch eine Art privater Beach Club entsteht – groß genug für zwei, drei Sonnenliegen. Eine aufwändige Mimik mit in der Heckklappe versteckten Stellmotoren macht aus der Swan eine Art Sesam-öffne-Dich. Spielerei? Vielleicht ein kleines bisschen, vor allem aber spektakulär.
Was ihre Leistungsfähigkeit betrifft, bietet die Swan 55 zumindest den Spezifikationen der Werft zufolge gehobenen Fahrtenyacht-Standard. Sie verdrängt mit 22,5 Tonnen mehr als andere Boote dieses Formats; die eingangs erwähnte, wenngleich simpler konstruierte Jeanneau Yachts 55 wiegt 4 Tonnen weniger.
Das kompensiert Nautor freilich durch einen großzügigeren Segelplan. Mit Groß und Genua kommt die Swan 55 am Wind auf stattliche 175 Quadratmeter Fläche; das entspricht einer schon ins Performance-Segment reichenden Segeltragezahl von 4,7.
Da sie in den Rumpflinien der Swan 58 ähnelt, die wir bereits 2021 testen konnten, sind sehr agile Segeleigenschaften vom kleineren Schwesterschiff zu erwarten. Die 58 ließ sich sehr präzise auf Kurs halten, wirkte reaktionsfreudig, aber nicht nervös - genau die richtige Auslegung für ein Boot, mit dem man anstrengungsfrei lange Strecken segeln möchte. Unter Code Zero zeigte sie sich dank der hohen Stabilität aus dem achtern breiten Rumpf auch bei Brise sehr steif. Auch darin spürt man German Frers jahrzehntelange Erfahrung und sein geradezu pedantisches Streben nach Perfektion. Ob und in welchem Umfang ihr die Swan 55 darin gleicht, wird sich aber erst nach einem für die kommende Saison geplanten Tests sicher sagen lassen.
Im Programm von Nautor löst die Swan 55 mittelfristig die höchst erfolgreiche Swan 54 ab; diese bleibt aber vorerst noch bestellbar - für jene Eigner, die deren klassischere Linien bevorzugen.