Lasse Johannsen
· 18.12.2022
Mit „Hamburg V“ kehrt Deutschlands erste Leichtdeplacement-Hochseeyacht zur heimischen Flotte zurück. Der neue Eigner schaffte es sogar, dem Klassiker die schlechten Segeleigenschaften auszutreiben
Veerhaven in Holland im Mai 2020. Eben ist die „Hamburg V“ nach einem Probeschlag mit ihrem neuen Eigner eingelaufen. Zwei Mitsegler machen sich nach dem Festmachen daran, die Bilge zu lenzen. Sie haben viel damit zu tun.
Eigner Jo Vierbaum sitzt abwesend auf dem Aufbau und versucht, seine kreisenden Gedanken zu sortieren. Unter Segeln hat sich die vom Voreigner erst vor zehn Jahren aufwändig restaurierte Yacht soeben als arbeitsintensives Projekt entpuppt. Doch der Kaufvertrag ist unterschrieben, die Überführung an die Schlei seit Langem geplant, und gemeinsam mit seinen beiden ihn begleitenden Mitarbeitern hat Bootsbaumeister Vierbaum bereits eine Woche Arbeit in den Mast gesteckt, um den überhaupt setzen zu können.
Und neben diesen harten Fakten ist längst auch Idealismus im Spiel. Denn was sie hier aufgetakelt haben, ist nicht irgendein Klassiker – bei der „Hamburg V“ handelt es sich um die erste in Deutschland gebaute Leichtdeplacement-Hochseeyacht. Der Hamburgische Verein Seefahrt ließ sie nur vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Henry Rasmussen in die RORC-Vermessung konstruieren und bauen. Dem Verein diente das Schiff nur wenige Jahre; es galt als schwierig zu segeln. In Belgien und Holland ging es durch viele Hände. Doch so richtig warm wurde niemand mit der historisch bedeutsamen Yacht.
Er habe mit den Tränen gekämpft, erzählt Vierbaum rückblickend über den Moment nach dem Probeschlag. Heute schwimmt das Schiff im Hafen der Yacht- und Bootswerft Stapelfeldt, die er leitet. Vierbaum sitzt in der Plicht der „Hamburg V“, mit der er eben noch souverän und vertraut über die Schlei gesegelt ist und wirkt – anders als in seiner Erzählung vom ersten Törn – äußerst zufrieden.
Hier in Kappeln-Grauhöft liegt damals auch schon sein erstes Boot, ein selbstgebautes Schmuckstück, es ist urlaubsklar, ein neues – so betrachtet – gar nicht nötig. Doch für die wachsende Familie soll mehr Platz auf dem Wasser geschaffen werden, und so warfen die Vierbaums auch immer mal einen Blick auf den Bootsmarkt. Die „Hamburg V“ ist ihnen dabei schon vor einiger Zeit aufgefallen.
Tatsächlich ist das Schiff eine Erscheinung. Der Rumpf lang und schmal, der Deckssprung eine für Rasmussens Handschrift geradezu temperamentvoll geschwungene Linie, darüber ein dezenter Aufbau mit klassischen Bullaugen, der in einem markanten Deckshaus endet. Weiß der Freibord, naturlackiert die Rothölzer, honigfarben die glänzend lackierten Spieren aus Nadelholz. Unter Deck ist die als Mannschaftsschiff konzipierte „Hamburg V“ ideal für die wachsende Familiencrew. Es gibt zahlreiche Einzelkojen, einen geräumigen Salon, lichten Platz im Deckshaus, eine großflächige Plicht und überall jede Menge Stauraum.
Angeboten wird das Schiff von einem Holländer, der es zehn Jahre zuvor auf einer Werft restaurieren ließ. Auf den Fotos der Verkaufsanzeige präsentiert sich die „Hamburg V“ wie im Auslieferungszustand bei Abeking & Rasmussen. Die lackierten Hölzer glänzen in der Sonne, der eigenwillige Ausbau mit dem Navigationsplatz im Niedergang, die Plicht mit abgeteiltem Platz für den Rudergänger hinter seinem winzigen Speichenrad, alles entspricht exakt den mit Rasmussens schwungvollen Kürzeln unterzeichneten Plänen.
Der soll gar nicht begeistert gewesen sein von der Idee, die gegen Ende der 1940er Jahre aus Großbritannien und den USA auf den europäischen Kontinent herüberschwappende Mode des Leichtdeplacement einzuführen. Für die immer populärer werdenden Hochseerennen entstanden vor dem Zweiten Weltkrieg eigene Vermessungsregeln – die CCA-Formel des Cruising Club of America und die RORC-Formel des britischen Royal Ocean Racing Club. Nach dem Krieg ergaben die aus der Not der Zeit geborenen Erfahrungen mit leichten Booten auf Hochseeregatten, dass diese bei bestimmten Bedingungen Vorteile hatten.
Im Jahr 1947 wurde mit der „Myth of Malham“ die wohl erste Leichtdeplacement-Yacht entwickelt. Laurent Giles und John Illingworth konstruierten das Schiff an die untere Grenze des nach der RORC-Formel im Hinblick auf ihre anderen Vermessungsgrößen möglichen Gewichts. Ihre Festigkeit verdankte die „Myth“ einer doppeldiagonalen Beplankung auf einem Gerüst von Stringern.
Auch die Formgebung brach mit sämtlichen Traditionen. Das Schiff machte als futuristische Erscheinung von sich reden, vor allem aber durch zahlreiche Regattasiege. Und so schien die Evolution der Hochseeyachten Ende der Vierziger eine neue Stufe erklommen zu haben. Die „Myth of Malham“ galt aufgeschlossenen Auftraggebern in dieser Zeit als wegweisend für neue Konstruktionen.
Warum sich der Altmeister Henry Rasmussen mit dieser Entwicklung nicht anfreunden konnte, ist nicht überliefert. Wohl aber, dass der gebürtige Däne konservativ und Ästhet durch und durch war. Und dass die vom Leichtdeplacement hervorgebrachte Formgebung seinerzeit den verbreiteten Idealvorstellungen von der hübschen Segelyacht keineswegs entsprach.
In der YACHT, Ausgabe 4 des Jahres 1951 wird der erste Auftritt der „Hamburg V“ auf der Kieler Woche wie folgt beschrieben: „Obgleich die ‚Hamburg‘ im Vergleich zu den neuen englischen Leichtdeplacement-Jachten keineswegs extrem moderne Formen hat, erregte sie, als sie nachher im Kieler Olympiahafen lag, ausgesprochene Abneigung und Unwillen bei vielen Seglern. Wir sind eben andere Formen gewohnt und haben ein ziemlich fest umrissenes Schönheitsideal.“
Henry Rasmussen selber würdigte diese yachthistorisch bedeutende Episode in seiner Autobiografie „Yachten, Segler und eine Werft“ übrigens mit keinem Wort. Dabei ließ sich dieses kurze Kapitel nach einem Sommer der Eingewöhnung gar nicht mal schlecht an.
In ihrer ersten Saison 1950 wurde „Hamburg V“ zur Nordseewoche gemeldet und ging dort, gerade mal drei Wochen nach Indienststellung, an den Start des Hochseerennens rund Skagen. Sie wurde nur Vierte in ihrer Gruppe nach den konventionell gebauten Konkurrentinnen „Roland von Bremen“, „Tanja“ und „Atalanta“.
Das Rennen rund Fehmarn im Rahmen der Kieler Woche musste sogar abgebrochen werden. Starkwind aus Südwesten zwang die Crew dazu, mit dem noch wenig vertrauten, neuen Boot in den Großen Belt abzulaufen.
Doch in der Saison 1951 sah die Welt schon anders aus. Da die RORC-Formel ausgerechnet während des Baus der Yacht geändert worden war, wurden im Winter 1950/51 bei Abeking & Rasmussen das Heck und der Segelplan noch einmal modifiziert und eine Neuvermessung vorgenommen. Vor allem bei mittleren Winden gelang es nun, nach vorn zu fahren. Die „Hamburg V“ errang erste Plätze in den Wettfahrten Cuxhaven–Helgoland und Cuxhaven–Hörnum und im darauffolgenden Sommer auf der Glückstadt-Regatta. Im Sommer 1953 belegte der HVS mit ihr einen ersten und einen zweiten Platz auf der Nordseewoche und im Sommer 1954 erste Plätze beim Rennen Cuxhaven–Helgoland, der Aalregatta und Fehmarn Rund.
Doch dann wurde eine Nachfolgerin in Auftrag gegeben. Ihre Erfolge hatte die „Hamburg V“ vornehmlich auf den nach der KR-Formel ausgesegelten regionalen Regatten errungen, auf den internationalen RORC-Regatten hingegen konnte sich das Leichtdeplacement nicht durchsetzen. Die Chronisten berichten von Ozeanwettfahrten, auf denen die neuen Konstruktionen ihre Vorteile nicht ausspielen konnten, weil sie nicht, wie erhofft, langanhaltend ins Gleiten kamen. Andererseits zeigten sich die konventionellen Yachten in schwerer See überlegen, weil sie weniger ausgebremst wurden.
Von den damaligen Segeleigenschaften der „Hamburg V“ ist überliefert, dass sie sowohl an der Kreuz als auch unter Spinnaker als überempfindlich am Ruder und hinsichtlich des Trimms in der Längsrichtung galt. Und: „Sie war auch ganz schön rank“, erinnert sich HVS-Mitglied Conrad Poppenhusen noch heute. Der Hamburger war als 18-Jähriger dabei, als das Schiff getauft wurde. Vor allem die ungewöhnliche Aufteilung der Yacht, mit der Navigation im Dog-House, ist ihm im Gedächtnis geblieben. Das Seeverhalten hingegen wird als sehr gut beschrieben. Das Schiff segele trocken und schiebe sich „wie eine Ente über die See“.
Es nützt ihr nichts. Im Sommer 1955 wird das Schiff nur noch an fünf Wochenenden bewegt, im darauffolgenden Frühjahr verkauft es der Verein nach Belgien. Vom neuen Heimathafen Antwerpen aus segelt die nun „Tenace II“ heißende Yacht unter dem Stander des königlich belgischen Yacht-Clubs, später als „Keikop“ in Holland, wo sie eines Tages ein Enthusiast erwirbt, der sie 2007 bei Rexwinkel in Numansdorp restaurieren lässt und wieder in „Hamburg V“ zurückbenennt.
Es ist eine originalgetreue Totalsanierung, bei der es an Steven und Tothölzer, Kielbolzen und Bodenwrangen sowie die Beplankung der Außenhaut geht. Dem Eigner ist das so viel wert, wie ein vergleichbar großes Schiff neu kosten würde. Und am Ende ähnelt die Erscheinung des in die Jahre gekommenen Schiffes tatsächlich wieder dem Auslieferungszustand. Das gilt allerdings auch für die konstruktiven Schwachstellen, die dem heutigen Eigner gleich beim ersten Schlag unter Segeln ins Auge springen.
„Am Liegeplatz war das Schiff noch dicht, unter Segeln lief es wie ein Wasserfall“, erinnert sich Jo Vierbaum, der im Bereich des Kielansatzes, wo auch der Mast steht, starke Bewegung feststellt, die zur Undichtigkeit führt. Doch sein Entschluss steht fest. Mit seinen Mitstreitern dichtet er den Rumpf provisorisch ab und läuft aus, um über Terschelling und Helgoland den Limfjord anzusteuern, wo die Familie zusteigt.
Die Reise wird ein voller Erfolg, nur das Segeln macht keinen Spaß. „Es war freudlos“, sagt Vierbaum rückblickend. Das Schiff sei träge gewesen, schwierig zu steuern, habe sich mit dem schweren Rigg schnell auf die Seite gelegt, ohne loszufahren. Doch in dem Riss habe er das Potenzial gelesen. Und auch das Verhalten im Seegang und der ausgewogene Geradeauslauf habe ihm Mut gemacht, die Probleme zu beheben.
Auf der heimischen Werft verlagert Vierbaum das Ruder an den Heckspiegel. Dann holt er Gewicht aus dem Rigg. Der schwere Holzmast wird durchgehobelt, die massiven Bronzebeschläge werden durch leichtere aus Kohlefaser ersetzt. Aus dem Kutter wird eine Slup, sodass die „Hamburg V“ jetzt mit etlichen Drähten weniger auskommt und keine Backstagen mehr bedient werden müssen. Und die zwei Rollanlagen sind einem dünnen Dyneema-Vorstag gewichen.
Im Rumpf werden die Kräfte des Riggs besser eingeleitet und der Mast auf einen längeren Fuß gestellt. Es werden Planken getauscht und Nähte ausgeleistet. An Deck entstehen neue Lackoberflächen, nachdem schadhafte Bereiche von Schandeckel und Fußreling ausgebessert worden sind. Im Deckshaus verschwindet der prominente Kartentisch.
Die Kinder, sagt Vierbaum, hätten das Schiff vom ersten Moment an als das ihre in Beschlag genommen. Er selber habe eine langsame Annäherung erlebt, die viel mit Arbeit an dem außergewöhnlichen Klassiker zu tun hatte.
Doch wenn er heute auf der Kante sitzt, den Pinnenausleger in der Hand, und das völlig neue Segelverhalten des Schiffes genießt, das er mittlerweile ohne zu zögern „seins“ nennt, dann ist Jo Vierbaum froh darüber, wie er sich nach dem ersten Probeschlag in Holland entschieden hat.