Lasse Johannsen
· 04.12.2022
Seine großen Kreuzeryachten wollte der Schotte Alfred Mylne mit Anmut, Geschwindigkeit und Lebensraum ausstatten. Die „Mingary“ beweist noch nach 100 Jahren, wie gut ihm das gelang. Ein Porträt.
Nur eine wackelige Planke aus derbem, unbehandeltem Holz ist zu überqueren, um aus Maasholm ins viktorianische England zu gelangen. Wer diese Zeitreise vorhat, muss sich zur Bootswerft Modersitzky begeben. Er wird dort ein monumentales Rigg aus zwei honigfarben glänzenden Masten an der Wasserkante entdecken und, wenn er sich dem Szenario nähert, vor „Mingary“ stehen, einer 20-Meter-Gentlemen’s-Yacht aus dem Jahr 1929.
Eigner Christian Scheidtmann heißt an Bord willkommen. Der passionierte Holzhandwerker nahm das Schiff 2012 in seine Obhut und schenkte ihm ein neues Leben. Nur drei Jahre brauchte der Enthusiast für die umfassende Restaurierung des gewaltigen Schiffes. Seit 2015 ziert „Mingary“ in neuem Glanz die norddeutschen Gewässer. Auf den German Classics 2016 in Laboe erhielt Scheidtmann für sein Werk den Restaurierungspreis. Kein Klassiker der norddeutschen Flotte repräsentiert wie „Mingary“ die Ära ihres schottischen Konstrukteurs Alfred Mylne und seiner Zeitgenossen.
„Die Yachten aus den zwanziger und dreißiger Jahren haben mich stets fasziniert“, sagt Scheidtmann. Er hat im Deckshaus Platz genommen und erzählt mit Begeisterung, die malerische Schleilandschaft hinter den großen Fensterscheiben im Rücken.
Schon ihre Größe, mehr als 18 Meter misst der Rumpf über Deck, flößt Ehrfurcht ein. Ihre Linien sind elegant und straken, als sei sie eben erst fertiggestellt worden. Das Deck ist völlig frei bis auf die Skylights und das mannshohe Deckshaus, an dem sie als Kind ihrer Zeit zu erkennen ist. Schiffe wie dieses, sagt der Eigner, gebe es mittlerweile seit hundert Jahren, in denen sie immer für ihre Anmutung bewundert worden seien. „Das ist es, was mich so fasziniert: dass mit diesen Yachten etwas geschaffen wurde, was nie an Wert verloren hat.“ Anders als Möbelstücke, die der Mode unterworfen sind und nur mit Glück eine Renaissance erfahren, hätten die Klassiker der Vorkriegszeit immer Eigner gefunden, die ihrem Reiz erlegen sind und das zeitlose Werk unter hohem Aufwand bewahrt haben.
Aus den Fenstern geht der Blick über das makellose Stabdeck aus Burma-Teak und die glänzenden Lackflächen von Schandeckel und Setzbord. „Die ‘Mingary’ ist immer gehegt und gepflegt worden“, sagt Scheidtmann, der diese Aufgabe mit sichtbarer Freude weiterführt.
Entstanden ist die 20 Meter lange Kreuzeryacht im Jahr 1929 für John und Alan McKean bei Bute Slip Dock am River Clyde in Schottland. Seit 1911 betrieb Alfred Mylnes Bruder Charles die gemeinsame Werft auf der Insel Bute. Fortan war es der wichtigste Bauplatz für den international operierenden Konstrukteur. Unweit von seinem Glasgower Büro gelegen, konnte er hier in Augenschein nehmen, wie seine Ideen umgesetzt wurden, er konnte neue entwickeln und Einfluss nehmen auf den Bauprozess.
Seine Baunummer 319 verkörpert Alfred Mylnes Philosophie in Vollendung. „Grace, Pace and Space“ – Anmut, Geschwindigkeit und Raum, dieser Dreiklang dünkt dem Designer alles zu beinhalten, was eine Kreuzeryacht für den Gentleman ausmacht. Deren Ausstrahlung solle dazu inspirieren, sie gut zu behandeln. Mühelos erreichbare Geschwindigkeit müsse dazu motivieren, sie auf Reisen und Regatten zu segeln. Ein komfortabel zu bewohnendes Inneres sorge dabei für das Wohlbefinden an Bord.
Eigner Christian Scheidtmann schätzt vor allem einen weiteren seiner Gedanken. „Ich habe mich mit Mylne und dessen Philosophie sehr beschäftigt“, sagt er. Scheidtmann strahlt Ruhe aus, wenn er mit sanfter Stimme erzählt. Wer dem bärigen Typ an Bord gegenübersitzt, kann sich kaum vorstellen, dass einer wie er bei Mylne ins Büro geht und eine große Kreuzeryacht in Auftrag gibt. Ein unprätentiöser Typ, der an Bord eher in Zimmermannshose als mit weißer Mütze auftaucht. Und doch findet er sich in Mylnes Gedankenwelt sehr gut wieder.
Als 1906 die Meterformel entsteht, nach der es endlich möglich sein soll, international um die Wette zu segeln, sitzt Mylne mit am Tisch – und beobachtet in den folgenden Jahren, wie kurzlebig der Bootsbau wird. Dass Meteryachten, die er aufwändig konstruiert, nach nur einer Saison wieder verkauft werden. Dem akribischen Ingenieur ist das ein Graus.
„Mylne wollte nicht, dass der Segelsport derart elitär wird“, sagt Scheidtmann. „Er wollte nachhaltige Boote schaffen. Und da hat er angefangen, die großen Kreuzeryachten wie ‚Mingary‘ zu entwerfen.“
Der Name Alfred Mylne steht wie kaum ein anderer für diese Schiffe. Sein übriges Schaffen steht hingegen schon zu Lebzeiten im Schatten seiner Konkurrenten William Fife III und Charles Nicholson. Doch manch einem gilt Mylne rückblickend als verkanntes Genie.
Alfred Mylne kommt 1872 zur Welt und wächst in bürgerlichen Verhältnissen auf. Er studiert an der Technischen Universität in Glasgow und tritt 1892 ebenda in die Dienste des Konstrukteurs George Lennox Watson. Der Bootsbauer hat 1873 das erste Büro für Yachtdesign in ganz Großbritannien gegründet und sich schnell einen internationalen Ruf erarbeitet. Seine Konstruktionen für den America’s Cup beeinflussen die Konkurrenz am Ende für Jahrzehnte. Als Mylne bei ihm vorstellig wird, ist Watson gerade damit beschäftigt, dem späteren König Edward VII dessen „HMY Britannia“ zu entwerfen. Mylne macht sich trotzdem nur vier Jahre später mit seinem eigenen Büro, ebenfalls in Glasgow, selbstständig.
Kundschaft gibt es reichlich. Am Clyde boomt der Segelsport als Freizeitvergnügen der aufkeimenden Industriegesellschaft. Gesegelt wird auf den verschiedensten Booten und Yachten, äußerst beliebt sind lokale Einheitsklassen, Konstruktionsklassen, die dem Geschick des Designers viel abverlangen. Mit William Fife III ist bereits ein etablierter Konkurrent vor Ort, doch das Miteinander wird von den Chronisten als freundschaftlich beschrieben.
Während Fife seine Yachten ganz nach alter Schule intuitiv entwirft, setzt Mylne, der studierte Ingenieur, auf eine wissenschaftliche Herangehensweise. Seine Konstruktionen folgen aufwändigen Berechnungen, so, wie sein Vorbild Watson es ihn gelehrt hat. Mylnes Risse sind bei aller Eleganz ihrer Linien fülliger als die seines Konkurrenten Fife. Und doch gelten sie als schwer zu schlagen.
Christian Scheidtmann zeigt das fast hundert Jahre nach dem Stapellauf seiner „Mingary“ heute noch gern, wenn er mit seiner Crew an den Start der Klassikerregatten geht. Dann segeln sie in ihrer Gruppe häufig auf die vordersten Plätze.
Scheidtmann liegt das sportliche Segeln im Blut. Seine Leidenschaft für den Wassersport entdeckte er schon als Teenager beim Windsurfen, dem er viele Jahre alles unterordnete. Nach einer Tischlerlehre aber machte er sich selbstständig und widmete sich fortan ganz der Arbeit mit Holz. Als ihn ein Freund das erste Mal zum Segeln mitnimmt, ist es ein hölzerner Klassiker, auf dem sich der Handwerker sofort zu Hause fühlt.
Auch das erste eigene Boot ist eine klassische Yacht. Scheidtmann entdeckt sie hier, bei Modersitzky, als er Freunde besucht und sich sofort in die Schleilandschaft und den pittoresken Ort verliebt. Das Projekt eines anderen Freundes führt Scheidtmann wenig später zu Barney Sandeman. Der Classic-Yacht-Broker aus dem südenglischen Poole hat ein Schiff im Angebot, bei dessen Kauf und Überführung er helfen soll. „Ich bin mit Barney in Kontakt geblieben“, sagt Scheidtmann, der seither davon träumt, selber einmal ein Restaurierungsprojekt durchzuführen.
Von Sandeman erfährt er eines Tages, dass „Mingary“ zu haben ist. Die war bis Mitte der sechziger Jahre unter wechselnden Eignern in Greenock beheimatet, einer Stadt an der Clydemündung unweit ihres Bauortes. Anfang der Siebziger lag sie unter panamesischer Flagge in Palma de Mallorca. Mitte der Achtziger erhielt sie einen umfassenden Refit inklusive eines neuen Großmastes und wurde in die Karibik verlegt, wo sie im Hurricane Emily strandete, aber zurück in die südenglische Heimat ihres Eigners verfrachtet und wieder instandgesetzt wurde.
1990 erfolgte die zweite Jungfernfahrt aufs Mittelmeer, später segelte „Mingary“ mehrere Sommer in den westschwedischen Schären. Bis Scheidtmanns Voreigner eine umfassende Restaurierung bei Fairly Yachts in Southampton in Auftrag gab. Doch durch die Weltwirtschaftskrise geriet er ins Trudeln und musste sich von dem angefangenen Refitprojekt trennen.
Das Beste, was aus bootsbauerischer Sicht möglich ist
Barney Sandeman rät Scheidtmann, das Schiff zu übernehmen. Diese Yacht sei das Beste, was aus bootsbauerischer Sicht möglich wäre. Der Rumpf aus Teakholzplanken auf gewachsenen Eichenspanten, die metallenen Verbände sämtlich aus Bronze, und das alles in absolutem Originalzustand.
Scheidtmann schaut sich das seit zwei Jahren entkernt an Land stehende Schiff an und hat gehörigen Respekt. „Ich wollte wirklich nicht so eine große Kreuzeryacht haben. Das hätte mich ja leicht überfordern können.“ Mehrere Monate kalkuliert er besonnen Eigenarbeit, Fremdarbeit, Material und Zeit und nimmt schließlich Kontakt zu Will Stirling auf, einem englischen Holzbootsbauer, der das Schiff schon begutachtet hat. Der schaut auf Scheidtmanns Kalkulationen und stimmt zu. „Er beurteilte den Aufwand genau wie ich.“ Scheidtmann ist von seinem Plan überzeugt, kauft und lässt das Schiff im Mai 2013 an die Schlei verfrachten.
Dass es im ersten Sommer gelingt, schneller zu sein als der ohnehin schon ambitionierte Plan, habe er dem Geist und der Schaffenskraft seiner Mitstreiter zu verdanken: „Ich fand Leute, die große Lust auf das Projekt hatten“, so Scheidtmann, der Mitarbeiter von Modersitzky und aus seiner eigenen Tischlerei anheuert und den Briten Will Stirling, der noch einen Kollegen mitbringt.
„Ich habe jeden Arbeitstag akribisch geplant. Wenn das gut vorbereitet ist und logistisch gut durchdacht und die Disziplin stimmt und man dann noch Leute hat, die durchweg mit Begeisterung dabei sind, dann schafft man viel, viel mehr, als man denkt. Und so war dieser Sommer.“ Noch heute ist dieser Geist spürbar, Scheidtmann hat ihn festgehalten. In seinem Bautagebuch ist in aufwändig gemachten Filmsequenzen zu sehen, wie das Projekt damals Fahrt aufnimmt und schließlich im Herbst 2013 der Stapellauf erfolgt.
„Mir geht es darum zu zeigen, was diese Boote für eine Faszination auf die Menschen ausüben. Alle haben das als ihr Boot angesehen – und haben nicht für mich gearbeitet, sondern für das Boot. Und so kam eine unglaubliche Leistungsfähigkeit da rein.“
Scheidtmann kann vor Beginn der Arbeiten die ursprünglichen Pläne vom Mylne-Archiv erwerben. Er erkennt, dass die demontierte Einrichtung nicht dem Original entspricht. Anders der Rumpf; selbst Will Stirling, der schon seit Jahren an Projekten wie diesem mitarbeitet, habe fasziniert gesagt, dass er kein Boot kenne, welches so original erhalten sei. „Da ist nie eine Planke erneuert worden. Und alles war noch in Ordnung, nirgendwo war etwas verrottet.“
Da ist nie eine Planke erneuert worden. Und alles war noch in Ordnung.”
Die Arbeiten haben es trotzdem in sich. Alle 42 eisernen Bodenwrangen werden ausgebaut, zur ursprünglichen Form aufgespachtelt, in Siliziumbronze nachgegossen und wieder eingebaut. Die Hauptspanten im Bereich des Großmastes und etwa die Hälfte aller eingebogenen Nebenspanten haben Ermüdungsbrüche und werden erneuert. „Mingary“ bekommt neue Kielbolzen aus Bronze und eine neue Mastspur aus Eiche. Scheidtmann hält sich bei der Wahl der Materialien an das Konzept von Mylne, denn es habe dazu geführt, dass die Holzstruktur nirgends angegriffen sei.
Außen wird der Rumpf komplett abgezogen, über Wasser ausgeleistet, unter Wasser kalfatert und frisch lackiert. An Deck werden Setzborde und Schandeckel zu weiten Teilen erneuert, das Deck selber neu gelegt und das für den Transport abgenommene Deckshaus wieder montiert. Sämtliche Lackflächen werden abgezogen und neu aufgebaut. Schließlich kommt ein neues Motorfundament und der Antrieb wieder ins Schiff, dann kann es zu Wasser gehen. Im Herbst überführt Scheidtmann den restaurierten Rumpf in seine damalige Heimat im Ruhrgebiet und baut ihn in nur einem Jahr inklusive zeitgemäßer Technik vollständig aus.
Im Sommer 2014 geht es zurück nach Maasholm, wo das Rigg überholt und „Mingary“ wieder aufgetakelt wird. Als er mit seinen Mitstreitern im Oktober 2014 erstmals ausgelaufen sei, sagt Scheidtmann, habe alles einwandfrei funktioniert. Und seither hat sich daran nichts geändert.
Mittlerweile herrscht Betriebsamkeit an Deck. Die Crew ist eingetroffen, es soll gesegelt werden, ein Trimmschlag für eine weitere Klassikerregatta. Während Persenninge abgenommen und verstaut werden, wird gelacht, die Stimmung ist fröhlich. „Ich habe nie Probleme, eine Crew zu finden, weil alle immer Lust haben. Und es ist extrem harmonisch. Ich sage immer, ich mache das nicht, das macht das Boot. Aber manche sagen, das bist auch du. Es ist beides, wahrscheinlich. Und es kommen immer Leute zusammen, die sich mögen.“
Er hätte es nicht sagen müssen. Nach dem Auslaufen geht es aus der Schlei, und Hand in Hand wird die große Kreuzeryacht unter Segel und auf Kurs gebracht. Die kurze Ostseewelle ist an Deck kaum spürbar, unter dem Press eines frischen Nordwestwindes läuft die alte Dame mit Grandezza los; und nur der Blick auf das Log verrät, wie schnell sie dabei ist. Der Rudergänger hat indes nur eine Nebenrolle. „Mingary“ findet ihren Weg mühelos allein und lässt sich mit den Segeln sehr ausgeglichen trimmen.
So könnte es jetzt tagelang weitergehen. Für Scheidtmann waren große Reisen jedoch bisher noch nicht drin. Immer mal eine Woche Urlaubsfahrt in die Gewässer rund um Fünen und Seeland – aber der Besuch in Schottland, am River Clyde, wo sein Schiff gebaut wurde und die Hälfte seines Lebens zu Hause war, muss noch etwas warten.
Doch er wird eines Tages ganz sicher kommen, mit Grace, Pace and Space.