„Molly”Vom Arbeitsboot zur Klassiker-Augenweide

Marc Bielefeld

 · 21.06.2023

Originalgetreu erhalten und restauriert: das schlanke wie schnelle Arbeitsboot
Foto: YACHT/S.Lipsmeier
Die „Molly” im Detail
Dieser Klassiker ist eine Augenweide! Einst als Arbeitsboot unterwegs, um Krabben zu fischen, liegt die „Molly” jetzt fein restauriert im spanischen Sitges

An diesem Morgen im Ja­nuar scheint die Sonne über der Costa del Garraf. Vor einem der Cafés unten im Hafen von Sitges trinken zwei Männer ihren Cortado und winken kurz rüber, als Tobias Wuttke über den Steg läuft. „Hola Tobias, buen dia!“, rufen die beiden. Wuttke – Jeans, Cappy, Sonnenbrille – winkt fröhlich und grüßt zurück; man kennt sich in der hübschen kleinen Marina. Kennt sich vom Segeln, von gemeinsamen Cervezas in den Bars, von so manchen Anekdoten, die seit Jahren die Runde machen. Palmen stehen an der Promenade, ab mittags liegen die Meeresfrüchte vor den Restaurants aus. Ob er zum Segeln raus will, wollen die beiden Spanier noch wissen. „Si, claro“, ruft Wuttke zurück. Der Wind sei gut, das Wetter herrlich. Dann geht er zu seinem Klassiker.

Die spanischen Segler von Sitges wundern sich schon lange nicht mehr über diesen Mann namens Wuttke – Deutscher eben. Tut, was er nicht lassen kann. Handwerklich besessen, Perfektionist. Da muss alles sitzen und blitzen, auch und vor allem, wenn es um die lieben Schiffe geht.

Ein besonderes Boot im Hafen der heutige Klassiker fällt auf

Das Boot von Wuttke war denn auch der zentrale Anlass, weshalb die Spanier ihn zunächst für verrückt erklärten, als er vor 20 Jahren das erste Mal mit seinem sagenhaften Zossen in Sitges auftauchte. Ein Klassiker mit meter­langem Bugspriet und aufgetuchten roten Segeln dümpelte da auf einmal im Hafen. Kleine Kajüte, Bull­augen und Belegklampen aus Bronze und galvanisiertem Stahl, hölzerne Blöcke. Nirgends an Bord war eine Winsch auszumachen, die Fallen und Schoten sahen aus, als seien sie noch aus Hanf gedreht wie vor hundert Jahren – ein Boot wie ein Relikt aus den Tagen der alten Teerjacken. Das Irrste unter der heißen spanischen Sonne war denn auch dieser Tatsache geschuldet: Das Schiff des neuen Seglers namens Wuttke war komplett aus Holz konstruiert. Und auch beim Baujahr staunten die mediterranen Segelfreunde nicht schlecht: 1914.

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Wuttke, 61, springt auf seinen Klassiker, die „Molly Q“. Heute schwimmt die betagte Preziose perfekt restauriert im Wasser und ist einer von lediglich zwei Klassikern im Hafen. Wuttke nimmt die Kappe vom Kopf, öffnet das Niedergangsluk und sagt: „Hier ein Holzboot zu besitzen ist die absolute Ausnahme.“ Er klettert in den Salon seiner kleinen Yacht. Gemütlich ist es da, eine patinierte Petroleumlampe baumelt unter dem Skylight, die grüne Front eines klassischen dänischen Sailor-Radios ist an ein Schott montiert. Sofort taucht man ein in eine vergangene Epoche des Segelns. Die beiden Kissen auf den Kojen – gehalten im Design des englischen Union Jack – bringen auf den Punkt, womit man es hier zu tun hat.

Die „Molly” war früher ein Arbeitsboot

Die „Molly Q“ ist ein englischer Klassiker der besonderen Art, ein Morecambe Bay Prawner, auch „Nobby“ oder „Half-Decker“ genannt, dessen Riss und Konstruktion von den alten Fischerbooten aus Lancashire stammen. Ein herbes Arbeitsboot, mit dem die Briten früher Krabben fischten, von der Werft Crossfield & Sons weiland allerdings als Yacht konzipiert und entsprechend gebaut. Der lange Kiel verläuft tiefer, aufs flache Deck ist eine Kajüte gesetzt. Seine wesentliche Eigenschaft hat das kleine Segelschiff durch diese Variante allerdings niemals eingebüßt: Geschwindigkeit.

Wuttke hievt zwei Segelsäcke aus dem Vorschiff, als er weitererzählt. Natürlich kennt er jeden Millimeter aus der Historie seines Krabbenflitzers. In den Zeiten um die vorletzte Jahrhundertwende fuhren die Fischer an der Nordwestküste Englands raus, um die begehrten Shrimps zu fischen. Sie hatten bei jedem Fang nur eine Tide Zeit, mussten bei steigender Flut so weit wie möglich raus, bei ablaufender Ebbe so schnell wie möglich wieder rein.

Die gefangenen Krabben kochten sie noch während der Heimfahrt an Bord, hockten unten im Vorschiff neben einem dampfenden Kessel, oft auch noch im großen Cockpit neben einer mit Kohle befeuerten Kochstelle. Denn wer seinen Fang im Hafen als Erster anbieten konnte, bekam am meisten Geld. Und die frischen Schalentiere erzielten gute Preise. Damals waren „Potted Shrimps“ eine Delikatesse. Die gekochten pinken Krabben wurden zum Tee serviert, eingelegt in Kräuterbutter, dargeboten in einem Tontopf.

Das Schiff musste den Anforderungen gerecht werden

Die Fischer rasten dafür bei Wind und Wetter durch die Gezeitenreviere, schossen über die Sände und brauchten neben Mut und Segelexpertise vor allem eines: schnelle, handliche Boote. So entstand der rassige Typ des Morecambe Bay Prawner, und auf alten Fotos sind diese segelnden Fischerboote noch heute zu sehen: hölzerne Flundern zur See, schlank und lang, ausgestattet mit einem schieren, flachen Deck und einem völlig übertakelten Gaffelrigg. Der Baum ragt weit übers Heck hinaus, vorn fliegen zwei Vorsegel im Wind, derweil der drei Meter messende Bugspriet aufs Meer ragt wie die Schnauze eines Sägefischs. Die Boote kamen zwischen dem Solway Firth und North Wales zum Einsatz, hießen je nach Region auch „Shrimpers“ oder „Smacks“. In einem alten Bericht steht über sie zu lesen: „Die Boote sind stabil, schnell und in der Lage, unter 50 Grad am Wind zu segeln, wenn sie durch die gewundenen Kanäle und durch die Kreuzseen preschen.“

Beinhartes Segeln also, während die Boote beim Trawlen auch noch Netze durch die Fluten zogen. Der Aufwand aber lohnte sich. Das Geschäft mit den Shrimps boomte in jenen Zeiten, als an den englischen Küsten die Seebäder immer populärer wurden, die gehobene Gesellschaft das Dasein am Strand entdeckte und zur feinen englischen Lebensart erkor. Für die segelnden Fischer freilich geriet die Arbeit in den wütenden Tidenströmen oft zum halsbrecherischen Abenteuer.

Der Klassiker ist original erhalten

Ein Foto aus dem Jahr 1897 zeigt die hübschen Boote nach einem Einsatz am Southport Pier nördlich von Liverpool. Die Prawner liegen dicht an dicht, sehen aus wie eine geprügelte Rugby-Truppe nach einer Schlammschlacht. Die Segel hängen auf Halbmast, Männer in Mützen und dunklen Pullis turnen über die vom Seewasser pitschnassen Decks. Eine kleine Erinnerung daran, was Segeln über Jahrhunderte bedeutete: Es war kein Spaß, sondern ein Knochenjob.

Gut 120 Jahre später. Im sonnigen Sitges schlägt Tobias Wuttke die Segel an. „Das Boot müsste ziemlich genau so aussehen wie damals“, sagt der Deutsche. „Keine Winsch, keine moderne Curryklemme, das meiste ist original oder nach altem Vorbild.“ In dem Moment kommt ein Franzose über den Steg gelaufen, Jean-Charles, ein Bre­tone, der sich als Zweiter im Hafen die Mühe macht, ein altes Holzboot zu erhalten. Die beiden sind sich ihres Exotenstatus hier unten bewusst, nennen sich nicht umsonst „Partners in crime“. Zwei, die ihre Klassiker hegen und pflegen; zwei, die in der spanischen Glasfasermoderne eisern oder besser: hölzern zusammenhalten.

Jean-Charles hatte sich vor vier Jahren gerade von seiner Frau getrennt, stand mit seinen Siebensachen unten am Hafen, als ein Bekannter aus England ihm anbot, ein paar Nächte auf seinem Boot zu schlafen. Jean-Charles tat’s, verguckte sich auf der Stelle in sein segelndes Obdach und kaufte es dem Bekannten prompt ab: einen 10,50 Meter langen englischer Gaffelkutter, erbaut 1936, den er seither sein Eigen nennt. Er und Wuttke kennen sich inzwischen gut, arbeiten meist zusammen an ihren alten Schiffen. Ein Duo infernale im adretten Sitges, das nicht selten mit lackverschmierten Händen über die Stege läuft. Und heute wollen die beiden segeln. Jeder auf seiner Yacht.

Auf der „Molly” segelt es sich ursprünglich

Kaum sind draußen die Segel gesetzt, nimmt der fast zehn Meter lange Prawner Fahrt auf. Bei Windstärke drei bis vier läuft er auf halbem Wind durch die blauen Wellen, rauscht bald mit gut acht Knoten dahin. Selbst modernen Yachten dieser Längen­kategorie dürfte der alte Shrimper ernsthafte Konkurrenz machen, den meisten sogar einfach davonfahren. Auch Jean-Charles, der mit seinem Gaffelkutter querab segelt, bleibt zurück. An der Bord der „Molly Q“ sitzt derweil Bart van Dijk, ein Holländer, der mehrmals beim Fastnet Race skipperte, in seinem Leben Hunderte Yachten geführt und Dutzende Regatten bestritten hat; ein Freund von Wuttke, der heute als zweite Hand dabei ist. „Das Boot ist nicht nur schön und schnell“, sagt van Dijk. „Nach 25 Jahren Segeln mit elek­tronischen Instrumenten, Hydraulikpumpen und allerlei modernen Gadgets fühlt es sich wie eine Befreiung an, mal wieder die Ursprünge zu spüren. Die ,Molly’ ist eine elementare Erfahrung. Pures Segeln, null Schnickschnack.“

Der lange Baum spiegelt sich im Skylight, die Fallen hängen aufgeschossen am Mast, als das Boot krängt und in einer Bö noch einmal mehr Fahrt aufnimmt. Kaum Druck lastet auf der Pinne, scheinbar mühelos zieht der alte Prawner vor der Kulisse der Costa del Garraf dahin. Ein erstaunlich leichtes und behändes Segeln – das die Engländer schon vor 170 Jahren so erlebten.

Bereits 1849 nämlich hatte sich Francis John Crossfield dazu entschieden, am guten Geschäft mit dem Seafood teilzuhaben. Vom Zimmermann sattelte er um zum Bootsbauer, gründete eine Werft und begann, die schnellen Prawner in Serie zu fertigen. Die Fischer rissen ihm die Boote geradezu aus den Händen, derweil die Tidenflitzer immer weiter verfeinert wurden.

Der lange Weg der „Molly”

Die langjährige Erfahrung mit dem Gefährt zahlte sich aber nicht nur beim Fischen aus. Als die „Molly Q“ 1914 als Yacht ins Wasser glitt, gewann ihr erster Eigner, ein Dr. Edmondson of Lancaster, schon bald die erste Regatta damit: Noch im selben Jahr belegte der Praw­ner „Molly“ beim Midnight Race zur Isle of Man Platz eins.

Mehrere Eigner besaßen den Klassiker im Laufe der kommenden Jahrzehnte, segelten damit Regatten, nutzen es für Ausflüge. Den Zweiten Weltkrieg überlebte die Yacht auf­gedockt am Ulverston Canal, sie kam anschließend nach Fleetwood, wo sie ein Kinobetreiber erstand. 1950 gewann sie – inzwischen „Nahula“ getauft – abermals eine Regatta zur Isle of Man. Dabei kämpfte sich das Boot durch einen üblen Sturm, der über die Irische See zog, und erreichte am Ende als einziges das Ziel.

Ein weiterer Eignerwechsel stand bevor: 1980 – inzwischen 66 Jahre auf dem Buckel – kam die wackere Schalentierschaluppe nach Suffolk. Fast zwei weitere Dekaden wurde das Boot dort gesegelt, bis es 1997 ein Deutscher erblickte: Tobias Wuttke – es sollte sein erstes eigenes Schiff werden. Genau so eines hatte er haben wollen: „Gaffelsegel fand ich schon immer am schönsten, ihre Form, die Art und Weise, wie sie dem Rigg, dem ganzen Schiff Gestalt verleihen.“

In den neunziger Jahren stößt der heutige Eigner auf den Klassiker

Dass er es auf einen Klassiker abgesehen hatte, am besten ein englisches, mag seinen frühen Erlebnissen geschuldet sein. Schon als kleiner Junge segelte der gebürtige Hamburger mit seinem Vater auf der „Ata­lanta“, dem ehemaligen Lotsenschoner „Elbe 1“, erbaut 1900 auf der Peters-Werft. Mit elf lernte er schließlich selbst segeln, auf der Bosham Sea School nahe Chichester, die er bald besuchte – ohne ein Wort Englisch zu sprechen. Im Internat gehörte er danach zum Segelteam, zuletzt als dessen Captain, segelte mit dem Vater in den Sommern regelmäßig auf der Ostsee, überführte als Crewmitglied später eine Swan 42 von Kiel nach A Coruña und absolvierte als Erwachsener viele Törns im Mittelmeer.

1997 war es dann so weit: Wuttke, der inzwischen in Paris lebte, suchte ein eigenes Boot. Nichts von der Stange, eher etwas Exotisches – alt, britisch. Genauer gesagt: Ein englischer Gaffelkutter mit rostroten Segeln musste es sein. Den gestandenen Prawner entdeckte er in einem Inserat in einer eng­lischen Klassiker-Zeitschrift. Wuttke reiste daraufhin nach Woodbrige in Suffolk, sah, kam sofort ins Träumen, beauftragte einen Gutachter, hörte auf zu träumen – und kaufte. Noch im Frühjahr 1997 taufte er das Boot auf seinen alten Namen zurück und begann mit ersten Arbeiten am Klassiker.

Nicht alles ist rosig an Bord der „Molly”

Während einer stürmischen Fahrt über den Kanal brachte er seinen Klassiker „Molly Q“ zunächst nach Saint-Valery-sur-Somme in der Picardie, baute im ersten Sommer gleich das komplette Interieur neu aus, da dies nicht mehr original war. Ein neuseeländischer Boots­bauer half ihm, lebte in diesen Wochen auf dem Schiff. Dann folgten immer neue Einsichten: Diverse Decksbalken und der Ruderkoker waren rott. Wuttke segelte das Schiff zurück nach England, wo auf der Combes Boatyard in Bosham das komplette Deck erneuert wurde. Diverse Wochen gingen drauf, in denen Wuttke selbst mit anpackte. Ein Skylight kam hinzu, ein verlängertes Schiebeluk und ein nach Maß gefertigter Dieseltank unter dem Achterdeck. Es folgte ein herrlicher Sommer mit Wochen­end­törns entlang der französischen Atlantikküste, gefolgt von einem langen Törn über Guernsey bis nach Douarnenez. Doch wehe dem, der denkt, dass ein fast 100 Jahre altes Holzboot ein bequemer Lebenspartner sei.

Beim Abziehen der Unterwasser­anstriche stellte Wuttke im nächsten Winter fest, dass viele Nägel im Rumpf verrostet waren und teils als millimeterdünne Stifte regelrecht aus den Planken fielen. Es stand also der nächste große Akt an: die Restaurierung des Rumpfs, wobei fast alle Spanten und Wrangen sowie sämtliche Planken unterhalb der Wasserlinie erneuert wurden. Dies geschah jedoch nun im spanischen Vilanova y la Geltrú, denn Wuttke hatte es inzwischen in den Süden verschlagen – und somit natürlich auch die „Molly Q“, die per Tief­lader nachreiste. Neuer Lebensmittelpunkt: Sitges südlich von Barcelona, wo es gleich um die Ecke diesen schönen Hafen gab und das Schiff nur knapp südlich in Vilanova weiter restauriert werden konnte. Die Arbeiten erledigte ein junger englischer Bootsbauer, sämtliche Materialien wurden gemäß dem Original aus England importiert: gewachsene Eichenknie für die Rippen, gesägte Lärche für die Planken, geschmiedete galvanisierte „Rosehead“-Bootsnägel, dazu das benötigte Werg, plus ein paar Ladungen alte Mennige für Kitt und ersten Unterwasser­anstrich – alles sollte sein wie damals. Und als endlich auch dies überstanden war, kam Wuttke schließlich das erste Mal in seinen neuen Hafen gesegelt. Es war der Moment, als in Sitges die Kinnladen runterklappten.

Draußen auf dem Wasser ist Wuttke noch immer am Kreuzen. Es ist ein Sahnetag, und der Prawner, heute stolze 107 Jahre alt, zischt munter am Wind durchs Wasser. Wer Wuttke beim Segeln fragt, was er noch alles am Schiff getan hat, erhält ellen­lange Antworten. 2006 kamen Baum und Gaffel neu, beide selbstredend in England gefertigt. Wie übrigens auch der neue Mast, der 2019 fällig war.

Kürzlich erst hat Tobias Wuttke neues Teak im Cockpit verlegt, das laufende Gut erneuert, mehrere Blöcke durch historische Vorlagen ersetzt. „Ein altes Schiff verpflichtet“, sagt er, „ganz wie in alten Tagen.“

Dieser Artikel erschien erstmals in YACHT 14/2021 und wurde für diese Online-Version überarbeitet.


Technische Daten „Molly”

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  • Werft: William Crossfield & Sons
  • Baujahr: 1914
  • Bauweise: Karweel, Lärche auf Eiche
  • Länge über Deck: 9,80 m
  • Wasserlinienlänge: 7,90 m
  • Breite: 2,80 m
  • Tiefgang: 1,50 m
  • Gewicht: 8,0 t
  • Segelfläche: 61,0 m²
  • Segeltragezahl 3,9

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