Dieter Loibner
· 23.04.2023
Die „Rigmor von Glückstadt” ist Deutschlands ältestes fahrtüchtiges Segelschiff. In diesem Jahr feiert das Traditionsschiff 170. Geburtstag
Langsam schiebt sich der Kutter im Elbhafen von Glückstadt rückwärts Richtung Kai. Die böige Brise packt den eleganten Klipperbug und versetzt ihn nach Lee, Richtung Außensteg. Wenn das bloß gutgeht. Doch mit Hilfe der riesigen Pinne, einiger Gasschübe und ein bisschen Unterstützung von außen ist das Schiff bald sicher fest – und bereit für die nächste Ausfahrt mit der nächsten Crew und den nächsten Gästen, die schon schwatzend und lachend an Land stehen.
Die Schiffsübergabe verläuft wie am Schnürchen. Muss sie auch, denn die „Rigmor von Glückstadt“ ist gut gebucht: Rund 65-mal pro Jahr wird gesegelt. Für Interessierte bietet der Fahrplan der „Rigmor“ auch in diesem Jahr wieder verschiedene Möglichkeiten zum Mitsegeln an. Ein dreistündiger Kurztörn auf der Elbe vor Glückstadt kostet 30 Euro inklusive Kaffee und Kuchen. Sehr beliebt sind auch die Abendfahrten. Nähere Informationen gibt es unter www.rigmor.de. Manchmal werden auch längere Schläge gesegelt, zum Hamburger Hafengeburtstag etwa oder zur Kieler Woche. Mitte Mai nimmt die „Rigmor” wieder Kurs auf Flensburg und ist Teilnehmerin der diesjährigen Rumregatta, die vom 18. bis 21. Mai 2023 stattfindet.
Die „Rigmor“ wird auch weiterhin liebevoll von den Mitgliedern des „Förderverein der Rigmor von Glückstadt e. V.“ gepflegt und hat als Traditionsschiff unter deutscher Flagge ein Sicherheitszeugnis der BG Verkehr.
Einen hohen Stellenwert hat die Ausbildung der Vereinsmitglieder, die aktiv beim Betrieb des Schiffes mitwirken. Es werden regelmäßig theoretische und praktische Schulungen angeboten, die einen sicheren und organisierten Schiffsbetrieb gewährleisten.
Gebaut wurde der Kutter als Zollkreuzer auf der Schröder-Werft im Hafen von Glückstadt vor ewigen Zeiten: 1853, als in Schleswig-Holstein noch die Dänen das Sagen hatten. Stolz nennen die Betreiber das Boot heute das „älteste fahrtüchtige Segelschiff Deutschlands“. Was überlebt da noch? Spurenelemente der ehemaligen Bausubstanz zwischen den Bodenwrangen, hauptsächlich aber: der Geist.
Dennoch wird Authentizität großgeschrieben: manuelles Ankerspill, mit Leder bekleidete Blöcke, geschlagenes Tauwerk, saubere Spleiße und Taklings, Beschläge aus galvanisiertem Eisen und eine gigantische, geschwungene Pinne aus Eiche, die auf einem Ruderkoker aus Holz steckt. Fast alles wie damals. Auch „Manila-Billy“, so heißt die Leine, die griffbereit an der Schanz hängt. „Die braucht man zum Bändigen der Pinne bei Hack und Welle“, erläutert einer aus der Mannschaft.
Der Klassiker steht gut im Lack, es ist ein Prestigeobjekt. Kein privates, sondern ein kommunales. Die „Rigmor“ ist ein Schiff fürs Volk und ein Denkmal zu Ehren der maritimen Kultur der Region. Natürlich stecken viele Tausender an privaten Spenden drin, aber auch beträchtliche Mittel aus öffentlicher Hand.
Die Gäste sind mittlerweile an Bord und legen Rettungswesten an. Unter dem Kommando vom Skipper tuckert das schwarze Schiff los, bei Stauwasser und guten 5 Beaufort aus West. „Reff eins und Fock!“, lauten die Anweisungen an die Crew. Die imposanten Seitenschwerter, Markenzeichen des Schiffs, bleiben oben. Schade. Seit dem Boot ein Eisenkeil untergebolzt wurde, sind sie nicht mehr zwingend erforderlich.
Dennoch segelt „Rigmor“ tüchtig los, mit schäumender Welle vor dem breiten Bug. Entschlossen zieht sie im gleißenden Sonnenlicht ihre Bahn elbaufwärts. Der Anblick lässt erahnen, wie es früher gewesen sein mag: Als Zollkreuzer Nr. 5 mit flatterndem Dannebrog hinter Schmugglern her war, ihnen mit der Falkonette einen Schuss vor den Bug knallte, um sie aufzubringen.
1864, nach der Niederlage der Dänen gegen Österreich und Preußen, wurde das Schiff als Prise nach Hamburg geschleppt. Ein Däne namens Gerret Jacob Matzen ersteigerte es günstig und baute es zum Frachtsegler „Treue“ um. Damit begann eine neue Karriere für den Kutter, der fortan unter verschiedenen Namen in Dänemark und Schleswig-Holstein auftauchte. 1917 übernahm ein gewisser Christen Christensen das inzwischen zum Steinfischer degradierte Schiff und benannte es nach seiner Tochter Rigmor. Mit Maschine, Ladekran und Steuerhaus versehen, baggerte „Rigmor“ über die folgenden Jahrzehnte Findlinge aus der Ostsee oder Sand und Schotter aus Fahrrinnen. Besonders in kleinen, seichten Häfen war sie mit ihrem geringen Tiefgang gefragt. Und weil sie ihren Eignern Geld verdiente, wurde sie auch leidlich in Schuss gehalten.
Wiederentdeckt wurde der Klassiker vor nunmehr 45 Jahren von Joachim Kaiser. Der ist heute im Vorstand der Stiftung Hamburg Maritim, damals war er mit einem Jugendkutter auf der Ostsee unterwegs. Bei einem Aufenthalt auf Falster filmte und fotografierte er das Baggerschiff, wobei die Form des Rumpfs dessen Vergangenheit als Segler verriet.
Doch erst Jahrzehnte später begann Kaiser zu recherchieren, und je mehr er über das Schiff erfuhr, desto mehr wollte er wissen. „Es war Detektivarbeit und brauchte ziemlich viel Ausdauer“, sagt er im Rückblick auf seine Nachforschungen. Die führten durch zahllose Archive und Sammlungen, verliefen sich zuweilen in Sackgassen und kamen oft nur durch Zufall wieder auf Kurs. Trotzdem war am Ende das Puzzle zusammengesetzt.
Ein ganz anderes Kunststück war es, die Granden von Glückstadt zu überzeugen, dass diese „Rigmor“ die maritime Tradition des Ortes versinnbildliche und daher ein würdiges Restaurierungsprojekt wäre. Erst als das geschafft war, konnte gekauft werden. 150.000 Kronen, umgerechnet gut und gern 20.000 Euro, mussten für den Packen alter, maroder Planken aufgebracht werden. Und das war erst der Anfang. Nach der Überstellung von Dänemark nach Glückstadt im Herbst 1992 sollten acht Jahre ins Land ziehen, bis das Schiff wieder im Originalzustand hergerichtet war.
Ein Aufriss des Rumpfs war nötig, bevor er auf der Dawartz-Werft in Tönning ausgeschlachtet werden konnte – was mehr an archäologische Ausgrabungsarbeiten als an Bootsbau denken ließ. Es fanden sich unter anderem Kielbolzen aus Bronze, die vermutlich vom ursprünglichen Bau stammten.
Am 21. Oktober 1995 lief der restaurierte Rumpf feierlich vom Stapel, und man wähnte sich schon auf der Zielgeraden. Die indes zog sich in die Länge, sechs Jahre dauerte es noch bis zur Vollendung.
Da waren richtige Durststrecken dabei“, sagt Kaiser, der sich auch erinnert, manchmal „fast bis zum Diebstahl“ Material requiriert zu haben, „damit die Jungs was zwischen den Fingern hatten“. Förderer, die der Bank gegenüber hafteten, begannen, Fragen zu stellen. Neben den obligaten Spendenaufrufen wurde mit Hilfe bekannter Maler wie Hinnerk Bodendieck, Uwe Lütgen, Kurt Schmischke oder Hans-Peter Wirsing Kunstprojekte aufgezogen, deren Verkaufserlöse den Restaurierungsarbeiten zuflossen.
Der entscheidende Anschub kam aber 1998, als Bundeskanzler Gerhard Schröder Geld für 100.000 Ausbildungsplätze zwecks Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit versprach. Damit stiegen die Chancen für den Abschluss der Restaurierung als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Den Antrag hatte Kaiser fertig in der Schublade, er musste nur noch durchgerechnet und eingereicht werden. Das Projekt war auf zwei Jahre angelegt, mit 25 Teilnehmern und neun Ausbildern.
In Ulrich Grobe fand Kaiser zudem einen Förderer bei der Industrie- und Handelskammer Elmshorn. Bürgermeisterin Brigitte Fronzek setzte sich für die teilweise Übernahme der Projektkosten ein und genehmigte einen Bauplatz am Hafen. Es war eine Containerburg, die man ein bisschen keck „Museumswerft Elmshorn“ nannte. Dort wurde „Rigmor“ der teure letzte Schliff verpasst, wobei penibel nach historischen Vorlagen gearbeitet wurde.
Für den Betrieb mit Fahrgästen musste nicht nur im Bug eine Kombüse installiert werden, sondern auch eine Toilette mit Abwassertank achtern. Im Maschinenraum gleich nebenan röhrt ein restaurierter 63-PS-Bukh-Diesel, wenn Segeln Pause hat.
Weitere Zuwendungen kamen von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und dem Landesamt für Denkmalpflege. Das Schiff wurde beim Land Schleswig-Holstein als technisches Denkmal eingetragen und galt somit als förderungswürdig. Doch Geld gibt es nie umsonst. Auf der Bank waren Kredite abzustottern, und es galt, Baufristen einzuhalten. Die nötig gewordene Teilsanierung des Vorstevens und der vom Germanischen Lloyd geforderte Außenballast zur Verbesserung der Stabilität verzögerten und verteuerten die Angelegenheit. Aber mit vereinten Kräften wurde unverdrossen gerackert, sodass die „Rigmor“ am 27. Oktober 2000 segelfertig in Dienst gestellt werden konnte – dem Original bis ins Detail nachempfunden.
Draußen auf der Elbe ist unterdessen der Strom gekentert, nun geht es gegenan. Der Skipper gibt der „Rigmor“ raumschots die Sporen, dass das Wasser unter dem Klipperbug nur so zischt und gurgelt. Das kommt bei den Gästen gut an. „Ich bin schwer begeistert“, sagt Andreas Pätzmann aus Hamburg. Er buchte die Fahrt als Geburtstagsgeschenk für Rainer Rathje, der auf der Alster Centaur-Jolle segelt. „Es ist wie auf einer Riesenjolle“, sagt Rathje über das Segelgefühl auf diesem schwimmenden Denkmal.
Viel zu bald kommt vom Schiffsführer der Befehl, die Segel zu bergen – das harte Kreuzen gegen Kabbelwelle rangiert weit unten auf der Prioritätenliste. Das Schiff dreht zurück nach Glückstadt, wo die Geschichte dieses Schiffes einst ihren Anfang nahm, damals 1853.
Dieser Artikel erschien erstmals in YACHT 9/2015.