Lasse Johannsen
· 13.10.2022
Gustaf A. Estlander plante 1927 einen 75-qm-Schärenkreuzer. Fast 100 Jahre später wurden diese Pläne von Josef Martin am Bodensee umgesetzt. Der Schärenkreuzer “Gustaf” im Porträt.
Der Herbst hat Einzug gehalten am Bodensee, die Tage sind kurz geworden, und der Morgennebel weicht der tiefstehenden Sonne erst im späten Tagesverlauf. Auf dem klassischen 75er-Schärenkreuzer „Gustaf“ im Hafen der Bootswerft von Josef Martin mahnt der zur Eile: „Mehr als eine Stunde wird der Wind nicht durchhalten.“
Als das 18 Meter lange Gefährt im engen Becken mithilfe eines leise brummelnden Elektroantriebs havariefrei gedreht ist und seine nicht endenwollende Nase aus der Einfahrt steckt, bietet es selbst Insidern einen unwirklichen Anblick – nagelneu und doch aus einer anderen Zeit. Denn „Gustaf“ ist der erste offiziell als 75er-Schärenkreuzer klassifizierte Neubau seit fast hundert Jahren. Entstanden hier, in Radolfzell am Untersee, auf der Bootswerft von Josef Martin.
Der sitzt am Ruder. Und als die Segel stehen, legt sich die Schäre ohne merkliche Bootsbewegung ganz leicht auf die Seite und schiebt ihre acht Tonnen geräuschlos durchs Wasser. Zu Martins Besatzung gehört auch Konstrukteurin Juliane Hempel. Beide haben den Namen „Gustaf“ bis heute kaum mit elegischer Stimmung in Zusammenhang gebracht. Denn auf den enervierenden Endspurt des Projekts schlossen sich vor wenigen Tagen die Vermessung und die Abnahme als klassenkonformes Boot durch das Technische Komitee der Schärenkreuzerklassen an. Was für Außenstehende klingt wie eine Formalität, war tatsächlich, so erzählt Hempel, ein Drahtseilakt.
An Bord erklärt sie die Besonderheiten dieses extremen Schärenkreuzers. „Der Konstrukteur Gustaf Estlander hat bei dem Entwurf alle Grenzmaße der Vermessungsregel ausgereizt“, sagt Hempel. Und dass eine solche Konstruktion beim Bau keinen einzigen Fehler duldet, weil sonst, im Gegensatz zu anderen Klassen, wo die Vermessungstoleranzen größer sind, keine Klassenkonformität zu erreichen sei.
Gustaf Axel Estlander, ein aus Finnland stammender Wahl-Schwede, hatte sich um die Jahrhundertwende als Architekt niedergelassen. Seine Vorliebe, rasante Regattaboote zu entwerfen und zu segeln, ist zunächst ein Steckenpferd. Als 1908 die Schärenkreuzerklassen eingeführt werden (siehe Erklärung unten), ist er Mann der ersten Stunde, am Zeichenbrett und an der Pinne. Zehn Jahre später lebt er allein von und für die Yachtkonstruktion.
Das Ausreizen der Schärenkreuzerformel wird zu seinem Markenzeichen. Die extremsten seiner Konstruktionen lässt Estlander seit Beginn der zwanziger Jahre auf der Pabst-Werft in Berlin-Köpenick bauen, deren Teilhaber er ist. Viele der Estlander-Risse sind aus diesem Grund in deutscher Sprache beschriftet, so auch der von „Gustaf“. Juliane Hempel fand den Schatz in einem kleinen schwedischen Privatarchiv.
Auf dem Boot gewordenen „Gustaf“ wird die Wende eingeleitet. Drei Mitsegler sind beschäftigt, mehr sollten nicht erforderlich sein, um den großen Schärenkreuzer zu händeln. Während seine Mitsegler Genuaschot und Backstagen bedienen, legt Josef Martin die Pinne. „Mein Auftraggeber träumte von einem Original-Schärenkreuzer, der etwa 18 Meter lang sein sollte“, erinnert sich der Werftchef an den Beginn des Projekts. Daneben sei die Ästhetik ein wichtiges Kriterium gewesen – nicht zuletzt die der Aufbauten.
Die gelten bei den ganz alten Schärenkreuzern als Problemzone. „Die Boote wurden bald nach Entstehen der Klasse zur Karikatur ihrer selbst“, sagt Juliane Hempel. „Immer länger und schmaler, und Aufbauten wie Telefonzellen, damit der regelkonforme umbaute Raum zustande kam.“
Estlander mit seinen extremen Entwürfen war an dieser Entwicklung nicht ganz unbeteiligt. Im Jahr 1925 reagiert der Schärenkreuzerverband mit einer neuen Vermessungsregel: Die Boot werden breiter, und man sieht wieder gefälligere Aufbauten. Die Pläne für „Gustaf“ entstanden zwei Jahre nach Einführung der neuen Regel. Dass sie 90 Jahre später umgesetzt wurden, begann mit der Feststellung, dass kein passendes Restaurierungsobjekt am Markt ist.
Josef Martin unterbreitet seinem Kunden daher die Idee, alte Pläne zu suchen, nach denen noch kein Schiff gebaut wurde. Und mit dieser Idee wendet er sich damals an Hempel.
„Ich habe dann Kontakt zu Torkel Sintorn aufgenommen, dem Chef des Technischen Komitees der Schärenkreuzerklassen“, erzählt die Konstrukteurin. Zusammen durchforsten sie die einschlägigen Museen, ohne jedoch fündig zu werden. Erst kurz vor der Abreise, am Tag vor Heiligabend 2014, fallen ihnen in einer kleinen Privatsammlung die Pläne des 75er-Schärenkreuzers aus dem Jahr 1927 in die Hände.
Auffällig sind hinterlegte Bleistiftstriche. Ob es sich um den Vorentwurf einer gemäßigteren Konstruktion handelt, ist nicht überliefert. Als der Fund bei Josef Martin landet, wird dem jedenfalls klar, warum das Schiff nie gebaut worden ist: Das Vorhaben ist auch mit den heutigen Mitteln eine echte Herausforderung.
Der Experte beauftragt Juliane Hempel daher, das gesamte Schiff am Computer nachzukonstruieren. „Was ich hatte, waren vier Zeichnungen, der Linienriss, das Baubesteck und die Aufmaßtabelle“, sagt Hempel. „Alle hölzernen Bauteile entstanden dreidimensional am Rechner, die Steven inklusive Sponung, die Stahlspanten mit Schmiegewinkeln und Löchern für die Planken.“
Um deren genauen Platz zu bestimmen, strakt Hempel am Rechner jede einzelne Planke aus. Und auch dieser Schritt hat seine Tücken. „Das Plankenbild muss ja harmonisch sein, es darf vorn und achtern nicht hängen.“ Der Verlauf jeder einzelnen Lamelle für die formverleimten Spanten wurde ebenfalls am Rechner konstruiert. Denn damit sich die an den unebenen Rumpf schmiegen und doch lotrecht von der Bordwand zum Kiel verlaufen, müssen sie kurvig sein.
Auch für die Werftmannschaft ist der Auftrag exotisch: Die Bauweise soll dem entsprechen, was zu Estlanders Zeiten üblich war – und stellt mithin eine Zeitreise dar. „Wir haben alles von Hand zu Fuß gebaut wie damals“, sagt Josef Martin. „Anders allerdings als 1927 üblich, haben wir die Stöße der Planken aus Khaya verleimt, das Deck aus Sperrholz gefertigt und die Stahlspanten der Komposit-Konstruktion aus einer nicht rostenden Legierung anfertigen lassen“, führt der Werftchef aus, „und alles in Absprache mit dem Technischen Komitee.“ Dreimal reist die Truppe an den Bodensee, um den Bau zu begutachten: Torkel Sintorn, der das Komitee leitet, Konstrukteur Bo Bethge, der schon sämtliche Zeichnungen geprüft hat, und Bootsbau-Koryphäe Thomas Larsson, der ein Auge auf die Praxis wirft und jedes Holzteil und jeden Bolzen vermisst.
Wir haben alles von Hand zu Fuß gebaut wie damals“
Dass die Schweden während ihrer Besuche regelmäßig vor den Tücken der Extremkonstruktion warnen, senkt den Stresslevel der Beteiligten nicht. „Die Vermessungsregel der Schärenkreuzer ist sehr komplex“, erklärt Juliane Hempel. Sie weiß: Wenn es nicht gelingt, dass das Schiff bei der Vermessung exakt in der Schwimmwasserlinie liegt, gibt es anders als beispielsweise bei Meteryachten keine Ausgleichsmöglichkeiten – ein Baufehler oder ein Patzer am Computer, und die Chance auf Vermessung und Klassifizierung ist ein für alle Mal verspielt. „Wir haben schlaflose Nächte gehabt“, räumt Hempel ein, die nicht für Übertreibungen bekannt ist.
Doch die Sorgen sind unbegründet: Schärenkreuzer „Gustaf“ schwimmt am Tag der Vermessung auf den Millimeter genau dort, wo er schwimmen soll. Und seine Zeitreise ist spätestens jetzt im Heute angekommen. 90 Jahre hat sie umfasst. Führte vom Stockholmer Konstruktionsbüro Gustaf Axel Estlander über Archive ins Computerzeitalter. Erlebte eine dreidimensionale Wiederauferstehung durch die Schiffbauingenieurin Juliane Hempel und bekam schließlich durch die Martin-Werft Gestalt verliehen.
Und wer nun hat diese Gestalt am stärksten geprägt? Eine Frage, auf die es keine Antwort gibt. Von Gustaf A. Estlander sind ihre Linien: die traditionelle Aufteilung mit geschlossenem Hauptschott, die Plicht auf Deckshöhe und Design-Details wie die Richtung der Stäbe im Skylight oder die senkrechten Nuten der Aufbauschotten und Plichtwände. Und doch trägt die Schäre unverkennbar Josef Martins Handschrift: Der hochfeste Rumpf, moderne Beschläge, die Formgebung zahlreicher Details und nicht zuletzt die Ziergöhl weisen „Gustav“ als echten Martin-Bau aus.
Zufrieden sieht der aus, als die Segel fallen und er den Schärenkreuzer vor den erneut aufziehenden Nebelschwaden heim in den Werfthafen steuert. „Einmal im Leben“, sagt Josef Martin, „hat man solch eine großartige Aufgabe.“
Er hat sie gemeistert.
Als sich 1906 die erste internationale Vermessungsformel in Vorbereitung befand, verfolgte man diese Entwicklung an der schwedischen Küste mit Skepsis – zu wenig geeignet für das sportliche Kreuzen in den engen Fahrwassern zwischen den Schären wirkten die geplanten Schwergewichte. Und zu teuer erschienen sie den schwedischen Seglern auch. Um eine nationale Alternative anzubieten, machte man sich im Dezember 1907 in der „Kungliga Svenska Segelsällskapet Stockholm“ an die Schaffung einer nationalen Regattaklasse.
Daraus resultiert der Schärenkreuzer. Im Februar 1908 verkündete man das Ergebnis: Es werden sieben Typen unterschieden mit 22, 30, 45, 55, 75, 97, 120 und 150 Quadratmetern. Die Konstrukteure haben anfangs weitgehend freie Hand. Es entstehen äußerst leichte Boote mit hohen Riggs, anfangs gaffelgetakelt. Nach und nach werden die Klassenvorschriften präzisiert.