Es braucht große Portionen Mut, Zuversicht, Selbstbewusstsein und Budget dazu, ein neues Schiff so weit außerhalb vom Rahmen des Gewöhnlichen und Bewährten zu entwickeln. Umso mehr: Was Jeanneau mit der neuen Yachts 55 auf den Markt bringt, ist kein massenmarkttaugliches Volumenboot, sondern vielmehr ein exklusives Blauwasserschiff mit über 16 Meter Rumpflänge und somit einer entsprechend gehobenen Preisansage für anspruchsvolle Eigner.
Die Yachtbauer in Westfrankreich haben die neue Yachts 55 im Januar als Weltpremiere auf der Messe boot in Düsseldorf gezeigt. Und sie ist dort zum viel beachteten Star der Ausstellung avanciert. Über kein anderes neues Schiff wurde während und auch nach der Messe so viel und vor allem auch so kontrovers diskutiert. Und kein anderes Konzept hat ähnlich polarisiert. In Summe: Die Jeanneau Yachts 55 ist die spannendste Neuerscheinung des Jahres.
Als Tochterunternehmen der übermächtigen Beneteau-Gruppe verfügt Jeanneau über die Möglichkeiten und über das solide Fundament, um Neues zu wagen und frische Ideen umzusetzen. Andere Hersteller können sich derart gewagte Entwicklungen, verbunden mit dem Risiko, zu floppen, kaum leisten. Speziell in diesen schwierigen postpandemischen Zeiten, in denen die Probleme wie Lieferketten und Fachkräftemangel weiterhin in der Yachtbaubranche die Produktion einbremsen und Margen drücken, halten sich viele Hersteller mit progressiven Neuentwicklung generell zurück.
Ähnlich couragiert hat Jeanneau schon 2019 gehandelt. Damals haben die Franzosen die ebenfalls sehr ungewöhnliche Sun Loft 47 vorgestellt, ein fülliges Boot, welches ausschließlich für die Bedürfnisse des Chartermarkts entwickelt worden ist und als reines B2B-Projekt auch nur direkt dorthin verkauft wird – nicht ohne Erfolg. Die neue Jeanneau Yachts 55 dagegen bedient genau den Gegenpol der Nachfrage. Das Boot ist exklusiv auf die gehobenen Wüsche von Eignern ausgelegt, die gerne alleine unterwegs sind und nur gelegentlich mal Gäste mitnehmen.
Auch wenn die Entwickler von Jeanneau dies nur ungern hören: Es gibt zwischen den beiden stark polarisierenden Konzepten Sun Loft 47 und Yachts 55 durchaus Parallelen. Dies vor allem an Deck. So sind auf beiden Booten die Steuerstände weit nach vorne gebaut, um auf dem Achterdeck riesige Lounge-Bereiche zu realisieren. Dazu kann das Cockpit in Ausbaustufen mit flexiblen oder festen Elementen teilweise oder auch komplett überdacht werden. Und auf beiden Booten sind die zwei Achterkabinen durch separate Niedergänge direkt aus dem Cockpit zugänglich.
Komplett unterschiedlich dagegen der Ausbau. Während auf der Sun Loft 47 insgesamt bis zu zwölf Kojen für Chartergäste zur Verfügung stehen, ist das Interieur der größeren Yachts 55 vielmehr wie ein Apartment nur für die Eigner gestaltet, mit großem Salon, Wohnküche, Schlafraum und einem geräumigen Bad – wenn man so will, eine Art Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in eine Yacht integriert. Die Aufteilung ist genauso ungewöhnlich wie auch spannend. Davon komplett abgeschottet baut die Werft achtern zwei zusätzliche Doppelkabinen mit eigenen Nasszellen ein. Hier wohnen bei Bedarf die mitsegelnden Gäste komfortabel, mit viel Privatsphäre und dank der gesonderten Zugänge aus dem Cockpit auch räumlich und akustisch weitestgehend separiert.
Zum generellen Konzept der Yachts 55 gehören der Targabügel sowie das feste Hardtop oder die flexible Sprayhood mit Windschutzscheibe vor dem Niedergang. Damit liegt wie auf dem Testschiff der gesamte vordere Cockpitbereich im Schutz vor Wetter, Wind und Sonne. Auf Wunsch lässt sich zudem auch das Achterdeck mit den üppigen Lounge-Bereichen durch ein festes Bimini weitgehend überdachen, ähnlich wie auf einem Katamaran. Das alles – außer dem standardmäßig angebauten Targabügel – gibt es wahlweise als Optionen gegen entsprechende Aufpreise.
Eine weitere Besonderheit: Die Navigation ist nicht unter, sondern an Deck im Cockpit installiert. Im Hort der Überdachung sitzt man erhöht und hat eine gute Sicht nach allen Seiten sowie auch in die Segel. Mit der Fernsteuerung vom Autopilot ließe sich das Boot bei Wind und Wetter auch von hier aus steuern.
Auf dem Achterdeck kann man schöne Partys feiern. Platz dafür gibt es so viel wie auf einem Katamaran
Auf dem Achterdeck dominieren die riesigen Sitzgruppen zu beiden Seiten. Dort können viele Personen zusammensitzen oder in der Sonne liegen, wenn die Tische abgesenkt und die Flächen mit Kissen geschlossen werden. Weiter vorne im Cockpit unter der geschützten Haube ist nochmals eine Sitzgruppe für fünf oder sechs Personen eingebaut, welche sich ebenfalls auf Wunsch zur Liegefläche konvertieren lässt. Und mit zusätzlich erhältlichen Polstern wird auch der flache Kajütaufbau auf dem Vorschiff zur Sonnenliege. Schön, so viel Platz an Deck zu haben. Nur drängt sich gleichermaßen die Frage auf, wer die riesigen Lounge-Bereiche letztlich nutzen soll – auf einem reinen Eignerschiff, mit dem üblicherweise nur wenige Menschen gleichzeitig unterwegs sind.
Für den YACHT-Test in Südfrankreich jedenfalls sind nur zwei Personen an Bord, was lässig ausreicht, um mit dem großen Boot beim Segeln bestens zurechtzukommen, selbst wenn die Bedingungen einmal nicht so lieblich sein sollten wie beim Testschlag. Der Steuermann arbeitet an den weit nach vorne gezogenen Steuerständen mit guter Übersicht sowohl in Luv als auch in Lee. Und er hat beidseits die Winschen für die Schoten, Trimmleinen und Fallen direkt vor der Nase.
Zum Segelsetzen und -trimmen steht man dabei am besten im Kanal des seitlich vertieften Laufdecks (Walkaround-Cockpit) und dreht hier an den Winschen auf guter Höhe unverkrampft und effizient. Dazu hat man in dieser guten Position auch das Steuerrad noch in Griffweite. Große Fallentaschen sorgen für Ordnung und Übersicht rund um den Ruderstand, und viel Platz zum Arbeiten an den Leinen gibt es überdies. Insgesamt ist das Handling tadellos und auch im Manöver denkbar einfach. Selbst Solisten können damit sehr gut klarkommen. Allerdings: Weil die Lasten auf den Schoten bei einem Schiff dieser Größe generell sehr hoch sind, lohnen sich elektrische Antriebe, zumindest für eine Winsch auf jeder Seite.
Die Konstruktion aus dem Studio von Philippe Briand überrascht im YACHT-Test bei zwischen acht und maximal zehn Knoten Wind mit dynamischen Segeleigenschaften. Das mit einem segelfertigen Gewicht von 18,5 Tonnen relativ schwere Tourenschiff zeigt sich vor allem hart am Wind sehr lebendig und reagiert mit den doppelten Ruderblättern direkt auf die Steuerimpulse. Trotz der langen Wege von den vorne angebauten Steuerständen zu den Ruderquadranten arbeitet die Anlage mit einer Übertragung per Dyneema-Zügen sehr leichtgängig und nahezu ohne Schlupf.
Mit der großen, weit überlappenden Genua kann die Jeanneau Yachts 55 bis 55 Grad an den Wind gehen und schafft dabei 7,1 Knoten Speed im Schnitt. Wer kreuzen muss, kommt mit der Selbstwendefock auf 6,2 Knoten auf einem Winkel von 45 Grad zum wahren Wind. Das Testschiff ist im Standard mit einem Rollmast von Sparcraft ausgestattet. Dieses Rigg mit den auffällig stark gepfeilten Salingen wird mit sehr viel Spannung und auffällig viel Mastbiegung getrimmt. Damit soll das Pumpen des Mastes im starken Wellengang vermieden werden. Hersteller Sparcraf hat dazu eine neue Mechanik entwickelt, damit der Rollvorgang im Mast trotz starker Biegung einwandfrei funktioniert.
Für den wohnungsähnlichen Ausbau unter Deck mit dem ungewöhnlichen Layout bietet Jeanneau keine Ausbaualternative an. Es bleibt in jedem Fall bei der räumlichen Dreiteilung im vorderen Innenbereich mit Salon, Schlafraum und Bad. Damit untermauert die Werft das Konzept als kompromissloses Eignerschiff, bietet aber mit den zwei zusätzlichen Gästekabinen achtern auch Wohnmöglichkeiten für die Gäste an Bord oder für die Kinder. Einzige Varianz zum Standardausbau ist für die Vorpiek geplant, wo die Werft im Normalfall eine geräumige und begehbare Segellast einbauen wird. Optional kann dort aber auch eine zusätzliche Kabine für den Skipper mit eigener Toilette und separatem Eingang realisiert werden.
Der Innenausbau gefällt mit einem offenen, hellen und mediterranen Wohnambiente sowie durch ein überwältigendes Platzangebot, insbesondere in der riesigen Eignerkabine, welche sich über die gesamte Schiffsbreite von fast fünf Metern erstreckt. Das Doppelbett im Queen-Size-Format ist seitlich auf der Backbordseite angebaut. Steuerbords gibt es nochmals ein kleines Sofa mit einem Schmink- oder Arbeitstisch davor. Viel Platz ist auch im Bad vorhanden. Speziell gut gefällt dabei der sehr geräumige Duschbereich mit soliden Trennwänden. Hier hat man auch ausreichend Bewegungsfreiheit.
Maximale Punktzahl erhält die lange Wohnküche, welche in J-Form über eine Länge von nicht weniger als 3,40 Metern auf der Steuerbordseite den Salon ergänzt. Die Arbeitsflächen sind enorm groß, und das Angebot an Stauräumen ist nahezu unermesslich. Ohne Zweifel setzt Jeanneau mit dieser Pantry die Messlatte im Konkurrenzvergleich nochmals ein ganzes Stück höher. Dazu kommt, dass die Arbeitsfläche sehr hoch eingebaut ist, rund 96 Zentimeter ab Boden. Vor allem unterwegs bei Krängung ist das für die Arbeit in der Pantry von Vorteil. Die markante Ausbaukomponente unter Deck ist der zentrale Korpus, welcher zwischen Salon und Küchenzeile als Raumteiler und vor allem auch als willkommene Festhaltemöglichkeit dient. Allerdings steht das Möbel dafür nicht besonders stabil.
Innovativ und reich an guten Ideen. Jeanneau hat einmal mehr ein äußerst kreatives Werk abgeliefert
Die beiden Achterkabinen bieten den Gästen ebenfalls hohen Komfort mit jeweils einer Doppelkoje in vernünftigen Abmessungen, eigener Nasszelle mit Dusche und vor allem mit viel Privatsphäre als komplett abgetrennte Kabine mit einem separaten Niedergang. Wünschenswert wäre vielleicht, dass die Werft für den Einsatz als Blauwasserschiff eine der beiden Achterkabinen in einer Version als begehbare Backskiste oder sogar als Werkstatt und Technikraum anbieten würde. Diese Annehmlichkeit ist in den Optionen leider derzeit nicht vorgesehen.
Der Einbau-Dieselmotor von Yanmar bringt eine üppige Leistung von 110 PS ins Wasser, mit Dreiblatt-Faltpropeller und Wellenantrieb. Alternativen dazu sind nicht vorgesehen und auch nicht nötig. 9,2 Knoten macht das Schiff mit voller Leistung, 8,6 Knoten sind es in Marschfahrt. Weil das kräftige Aggregat im Technikkanal zwischen den Achterkabinen eingebaut ist, macht es sich in den Kammern mit 76 Dezibel Lärm bei Marschfahrt relativ deutlich bemerkbar. Jeanneau baut schon im Standard sowohl ein Bug- als auch ein Heckstrahlruder ein und hebt damit einmal mehr die Bedeutung des Schiffes als reines Eignerboot hervor, das meist mit einer kleinen Crew betrieben wird.
Rund 820.000 Euro brutto kostet die Yachts 55 mit ihrer recht umfangreichen und zudem hochwertigen Grundausstattung, inklusive Rollmast und einem einfachen Satz Segel. Dennoch ist die Liste aller möglichen Optionen relativ lang. Das Testschiff, die auf der Messe in Düsseldorf gezeigte Baunummer eins, ist zu Probe- und Demonstrationszwecken mit allen nur möglichen Extras ausgestattet. Mit dem komplettem Beiwerk kostet das Boot schließlich knapp 1,3 Millionen Euro.
Jeanneau hat mit der Yachts 55 ein ungemein spannendes, sehr attraktives und smartes Komplettpakt geschnürt und richtet sich damit an anspruchsvolle und verwöhnte Eigner, die gerne uneingeschränkt komfortabel auf dem Schiff wohnen und höchstens in kleiner Gesellschaft bleiben wollen. Im YACHT-Test funktioniert das aparte Konzept der Franzosen sehr gut. Ob es allerdings auf dem Markt den Durchbruch schaffen kann, steht noch auf einem anderen Blatt. Immerhin: Jeanneau hat alleine auf der boot in Düsseldorf 15 Boote vom neuen Typ direkt verkaufen können. Das ist ja schon mal eine echte Ansage.
GKF-Sandwich, aufgebaut im Vakuum-Infusionsverfahren. Volllaminat im Kielbereich. Durchgehende Innenschalen eingeklebt
Elektrische Badeplattform, Rollmast, Selbstwendeschiene, Vorsegel-Rollanlage, Targabügel, fester Bugspriet, Bug- und Heckstrahlruder
Ab Werft wird ein Vierzylinder Dieselmotor von Yanmar mit 110 PS Leistung, Wellenantrieb und Dreiblatt-Faltpropeller eingebaut. Zu dieser Standard-Motorisierung sind keine Alternativen vorgesehen
Das Roll-Großsegel und die Selbstwendefock gehören zur Grundausstattung. Die große und weit überlappende Rollgenua (120 Prozent) wie auf dem Testschiff bietet sich als zusätzliches Segel an. Ein Code Zero oder ein Gennaker werden am festen Bugspriet angeschlagen
Decksausstattung von Harken und Stopper von Spinlock. Im Standard sind vier 46er-Schotwinschen vorgesehen. Elektrische Winschen (Harken 60.2) mit Rewind-Funktion für 11.800 Euro (brutto) Aufpreis
Chantiers Jeanneau, 85505 Les Herbiers (Frankreich); www.jeanneau.de
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Spannendes und aufregend neues Tourenboot von Jeanneau ausschließlich für die anspruchsvollen Wünsche von Eignern. Dafür stehen der ungewöhnliche Innenausbau und eine komplett neuartiges Layout an Deck, das im Test sehr gut funktioniert hat