Am späten Nachmittag des 16. Juni wurde die kroatische Adriaküste von schweren Unwettern getroffen (wir berichteten). Die Westküste der Halbinsel Istrien war besonders stark betroffen, wobei die beliebte Urlaubsstadt Rovinj im Zentrum des Sturms stand. Messungen ergaben Windgeschwindigkeiten von bis zu 110 Kilometern pro Stunde. Die Auswirkungen des Unwetters waren verheerend: Bäume wurden entwurzelt, Häuser und Autos beschädigt und etwa 30 Boote strandeten. Das Ehepaar Schmidbauer lag in diesem Sturm vor Rovinj vor Anker und erlebte dort dessen volle Wucht. Peter Schmidbauer schildert die Vorbereitung auf den Sturm, die bangen Minuten, während die Böenwalze über das Boot herfiel und zieht Lehren aus dem Unwetter, die jeden Segler interessieren sollten.
Von Peter Schmidbauer
Meine Frau Ernestine und ich waren mit unserer Jeanneau SunOdyssey 36.2 „Namaste“, Baujahr '98 mit diversen Refits in den vergangenen vier Jahren, auf einem kurzen einwöchigen Törn von Umag aus entlang der Küste Istriens mit einem kurzen Abstecher über die Kvarner Bucht zur Insel Unije. Wir hatten zwei Gäste an Bord, die am 16.6. zurück in Rovinj sein mussten, wir selbst wollten dann noch gemütlich weitere zwei Tage zurück nach Umag in unsere Marina segeln. (Hier finden Sie Törnvorschläge für Kroatien.)
In den Wettermodellen (ECMWF, ICON) deutete sich schon einige Tage ein hoher CAPE-Wert und damit für Montag eine hohe Gewitterwahrscheinlichkeit für ganz Istrien an.
Beim Deutschen Wetterdienst heißt es dazu: der CAPE-Wert (CAPE = Convective Available Potential Energy) wie auch der "Lifted Index" dienen zur Beurteilung der Stärke/Intensität von Gewittern. CAPE (die maximale verfügbare potentielle Energie für Konvektion) ist ein Maß dafür, wie stark ein Luftpaket gehoben werden kann. Hohe CAPE-Werte (>2000 J/kg) in Kombination mit deutlich negativem Lifted Index sind ein Indiz für das Auftreten von sehr hoch reichenden und demzufolge meist unwetterartigen Gewittern.
CAPE ist also umso größer, je wärmer das aufsteigende Luftpaket im Vergleich zu der Umgebungsluft ist. CAPE ist ebenfalls umso größer, wenn zu der vorangegangenen Bedingung der bodennahe Wasserdampfgehalt umso höher ist. Diese Bedingungen führen zu einem positiven Auftrieb - CAPE.
CAPE [J/kg] | Labilität /Gewitter |
0 bis 500 | schwach |
500 bis 1000 | mäßig |
1000 bis 2000 | stark |
2000 bis 3000 | sehr stark |
3000 + | extrem |
Allgemein wurde eine mittlere Bora angekündigt. Der kroatische Wetterdienst gab die gelbe Warnung (1. von 3 Stufen) für die istrische Küste aus. Ursprünglich war unser Plan, am Montag für die Gewitter sicher an einer Boje in Rovinj festzumachen. Am Montag hatten wir unsere Windy-App (Premium Version) mehrmals im Blick, um die Modelle zu vergleichen. Von allen Modellen war ICON-D2 das Einzige, das die Möglichkeit von extremen Winden vorhersagte, bei jeder Aktualisierung allerdings mit unterschiedlicher Stärke, Richtung und über fast die gesamte Küste Istriens bis über die Kvarner Bucht verteilt. (Zur Übersicht der besten Wetter-Apps.)
Kurz überlegten wir, ob wir es schaffen könnten, noch nördlich oder südlich auszuweichen. Die Ankündigung war jedoch zu großräumig, und so war relativ schnell klar, dass das zu riskant wird, wenn die ICON-D2 Vorhersage recht behält.
Also ging unser Fokus auf Vorbereitung. Unsere Gäste setzten wir sicher mit dem Dinghy an Land ab (Tipps zum Dingi-Handling), wir beide spielten im Anschluss die verschiedenen Strategien durch. Trügerisch war, dass es zu dem Zeitpunkt noch ein wunderschöner Badenachmittag war - außer im ICON-D2 Modell war von dem Chaos, das später hereinbrechen sollte, nichts zu ahnen.
Wir hofften natürlich, dass die Vorhersage des ECMWF Modells recht behält und sich die Windgeschwindigkeit bei maximal 30 Knoten bewegen wird. Trotzdem gingen wir ab ca. 16.00 Uhr vom Worst-Case aus.
Die Frage war dann: ACI-Marina in Rovinj, Bojenfeld in der Bucht südlich der Altstadt oder vor Anker in der Bucht nördlich der Altstadt? Aufgrund der westlichen auflandigen Winde hatten wir bei dem Gedanken an Marina und Boje kein gutes Gefühl. Von vorherigen Aufenthalten wussten wir, dass die Nordbucht grundsätzlich guten Ankergrund bietet und dort vermutlich auch nicht viel los sein wird, wir also Platz haben werden. An normalen Tagen ist dort das Problem eher der unangenehme Schwell, der Anker hat dort aber immer auf den ersten Versuch sehr gut gehalten.
Die Entscheidung fiel dann aus folgenden Gründen für den Anker:
Wir haben einen 15 Kilogramm schweren Rocna-Anker und 55 Meter Kette und damit bei etwa neun Metern Wassertiefe geankert, die vollen 55 Meter wurden gesteckt. Nach der Berechnung mit der "Anchor Chain Calculator"-App sollte das System in unserem Fall um die 60 Knoten halten können. In dem Moment wagte ich mir nicht vorzustellen, dass wir genau diese 60 Knoten später ganz real testen würden. Hier geht es zum großen, dreiteiligen Anker-Spezial.)
Den Anker fuhren wir mit maximaler Motorleistung bereits auf westliche Winde ausgerichtet ein, also fast 180 Grad (und sozusagen in falscher Richtung) zum zu dieser Zeit noch vorherrschenden Npordortwind. Zur Markierung haben wir unsere Grippy-Ankerboje gesetzt. Neben dem Ankeralarm auf dem iPhone haben wir die Ankerposition auch am Plotter markiert.
Gesichert wurde das Ganze mit einer Ankerkralle, als zweites Backup dahinter noch ein Dyneema-Softschäkel durch die Kette mit Hahnepot aus einer Festmacherleine auf beide Klampen. (Anleitung, um Dyneema-Softschäkel selbst herzustellen.)
Neben uns war ein Kreuzfahrtschiff vor Anker, hinter uns kam etwa 30 Minuten vor dem Unwetter noch eine Charter-Crew in die Bucht, die aber bei dem noch herrschenden Wind aus Nordost relativ weit in den östlichen Teil der Bucht beim Campingplatz ankerte.
Wir hatten wie erhofft Platz zum Schwoien und etwas Puffer für eventuelle Abdrift.
Wir machten alles am Boot sturmsicher, alles wurde festgezurrt, doppelt gecheckt, Unnötiges unter Deck verstaut - so harrten wir der Dinge, die da kommen werden, das Live-Wetter-Radar und die Prognose im iPhone ständig im Blick.
Der Wind schlug kurz vor der Front um auf West um und hinter der kleinen Landzunge, an der wir lagen, zeichnete sich eine dunkle Walze am Himmel ab. Kurz darauf war in der Ferne schon fliegendes Wasser zu sehen. Beim nächsten mal Hinsehen war das nahe Kreuzfahrtschiff in Gischt gehüllt. Dann verschwand auch die Altstadt von Rovinj, nur der Kirchturm oben auf dem Hügel war noch zu erahnen, alles andere nur eine Wand aus weißer Gischt.
Für uns bedeutete das, den Motor zu starten, wie wir es immer bei Gewitter tun, und Schwimmwesten anzulegen. Mit der ersten Böenwalze drückte es uns sozusagen von 0 auf 100 mit extremer Krängung auf die Seite. Unsere Anzeige endet bei 35 Grad, daher gibt es hier keinen genauen Wert, aber die Fußleiste war definitiv im Wasser und wir waren nur damit beschäftigt, uns irgendwie an Bord zu halten.
In kürzester Zeit bauten sich hohe Wellen auf, die uns in Kombination mit den heftigen Böen wild von einer auf die andere Seite legten. Ernestine keilte sich in der Nische des Niedergangs ein, ich war hinten am Steuer und versuchte, mit Motorunterstützung dagegenzuhalten, um das Ankergeschirr zu entlasten.
Dieses Gegenanfahren mit dem Motor klingt in der Theorie deutlich einfacher, als es dann in der Praxis war: überfährt man die Kette, drückt der Wind das Schiff mit dem Bug sofort seitlich weg und man liegt quer zum Wind, die nächste Böe hat dann die volle Längsseite als Angriffsfläche. Außerdem kann man in dem Getöse nicht mehr beurteilen, wie es dem in unserem Fall nur 27 PS starken alten Yanmar-Motor bei der Aktion geht, denn man hört durch den heulenden Wind und den sintflutartigen Regen, der auf einen einprasselt, nicht einmal mehr, ob er überhaupt noch läuft.
Nach etwas Eingrooven und weniger hektischen Motorschüben, zu denen man am Anfang automatisch neigt, konnte ich das Schiff einigermaßen stabilisieren und im Wind halten, dazu mit jeder Welle im Wechsel Ruder hart backbord und Ruder hart steuerbord - Sport am Steuerstand, der in Kombi mit der Nässe und plötzlichen Kälte ordentlich Energie kostete.
Wir haben einen Regenschutz, den wir bei Schlechtwetter zwischen Sprayhood und Bimini zippen können. Das erzeugt zwar etwas mehr Windwiderstand, brachte aber definitiv Schutz vor dem massiven Regen, der mit 110 km/h Wind auf uns geschleudert wurde. Da das Wasser von allen Seiten kam, war trotzdem schnell alles nass, aber es war nicht ganz so schmerzhaft im Gesicht. Ungeschützt müsste man zumindest eine Klarsichtbrille tragen, sonst wäre das vor allem in den Augen nicht lange auszuhalten.
Sehr hilfreich war, dass unsere Ankerposition am Plotter markiert war und die Schiffsposition als Track mitlief. So konnte ich gut einschätzen, wo der Anker relativ zu uns liegt und ob wir abtreiben, was zum Glück nicht der Fall war. Optische Orientierung zum Land hatten wir durch die massive Gischt in den ersten Minuten absolut keine - das Display des Plotters war da die einzige Referenz.
Apropos abtreiben - das Kreuzfahrtschiff war mehrere 100 Meter Richtung Stadtpier versetzt, als wir es bei der ersten leichten Beruhigung der Lage wieder, jetzt plötzlich schräg hinter uns, sehen konnten.
Die Phase mit den 60 Knoten Wind, die unser Windgeber am Masttop anzeigte, dauerte etwa 15 Minuten. Leider hatten wir keine GoPro montiert, und für das iPhone hatten wir in dem Moment wirklich keine Hände frei. Nach 15 Minuten war das Schlimmste überstanden. Insgesamt beruhigte sich die Lage dann nach drei Stunden gegen 22:00 Uhr, die Welle blieb noch etwas länger stehen, der Wind drehte wieder auf Nordost.
Wind gegen Welle war dann kurz nochmal eine Herausforderung am Steuerstand, um das Querliegen zu den Wellen und das damit nochmal heftige Rollen etwas zu kontrollieren.
Gegen 23:00 Uhr konnten wir unter Deck gehen und sogar relativ gut schlafen. Der Ankeralarm blieb die ganze Nacht stumm. Ungefähr um 5:00 Uhr kam dann eine mittlere Bora mit rund 25 Knoten, die sich im Vergleich aber wie ein Wellness-Urlaub anfühlte.
Später konnten wir nachlesen: genau so sieht eine klassische Nevera aus.
Eine Nevera ist ein schlagartig einsetzender thermischer Gewitter-Wirbelsturm mit Windböen bis Orkanstärke. Sie kommt immer aus der Richtung des offenen Meeres (West) und ist im Gegensatz zur Bora lokal nicht vorhersagbar. Die Nevera dauert nur etwa 15 bis 45 Minuten, hat aber eine ungewöhnlich große Zerstörungskraft auf ihrer lokal eng begrenzten Bahn von wenigen Kilometern. Am Ende des Sturms setzt in der Regel schwerer Regen ein. Nevera-Stürme treten fast ausschließlich im Sommer auf, mit deutlicher Konzentration auf die Monate August und September.
Die Kollegen auf der Charteryacht hinter uns haben es geschafft, nicht zu stranden - allen Respekt dafür, so auflandig, wie sie geankert hatten. Allerdings sah deren Großsegel aus, als wäre es im Wind ausgerissen und beschädigt worden. Auch die Genua hat sich bei ihnen ein Stück ausgewickelt.
In der nahen Werft an Land wurde eine aufgeständerte Segelyacht umgeworfen, Mastbruch inklusive. Im Bojenfeld sind mehrere Yachten gestrandet. Ob es in der Marina auch Yachtschäden gab, wissen wir nicht.
Am Campingplatz direkt in unserer Bucht wurden Bäume entwurzelt, und es gab leider eine lebensgefährlich verletzte Person, die unter einem Baum eingeklemmt wurde.
In Rovinj war die ganze Nacht Ausnahmezustand, überall Blaulicht. Rettungswagen fuhren in alle Richtungen. Schon in der Nacht konnte man dann überall Kettensägen hören, mit deren Hilfe umgestürzte Bäume und Äste kleingesägt und zur Seite geräumt wurden.
Wir haben dieses Unwetter völlig unbeschadet überstanden und sind sehr stolz auf unsere doch schon 27Jahre alte „Namaste“, die uns sicher vor den Naturgewalten beschützt hat. Lediglich die Ankerkralle mussten wir Neptun opfern, da ist die Leine gerissen. Das Back-Up mit dem Softschäkel und der Festmacherleine war hier unsere Rettung, da die Winsch die Kräfte vermutlich nicht gehalten hätte, genauso wohl auch nicht die Sicherungsleine, die wir am Ende unserer Ankerkette haben. Dann wäre das ein ganz anderes Szenario geworden.
Die Vorbereitung auf den Worst-Case hat sich ausgezahlt. Alles was man vorher erledigt hat, ist Gold wert, denn in der Situation geht es so schnell so wild zu, dass man nicht mehr viel ausrichten kann. Die auftretenden Kräfte sind massiv und schwer zu beschreiben.
Während der 60 Knoten Wind und der Welle, in der das Boot wie ein Spielball hin- und hergerissen wurde, ist man schon im Cockpit beschäftigt, nicht von Bord zu gehen. Hier auf das Vorschiff zu müssen und da dann noch etwas Sinnvolles ausrichten zu wollen, halte ich für sehr gefährlich und auch fast unrealistisch. Selbst als sportlicher Mensch und eingepickt, wir haben entsprechende Strecktaue an Bord, würde ich das nur als allerletztes Mittel in Betracht ziehen wollen.
Im Sturm selbst waren wir beide sehr klar, hatten nie das Gefühl, dass wir es nicht schaffen könnten. Wir vertrauten auf das Schiff und auf uns, waren untereinander ein sehr gutes Team mit klarer Kommunikation und Aufgabenverteilung. Erst als der Spuk vorbei war, haben wir gemerkt, wie aufgekratzt wir vom Adrenalin waren.
Es war eine Situation am Limit, bei der Kleinigkeiten ein Desaster auslösen hätten können.
Gleichzeitig war es eine unglaubliche Erfahrung, die das Vertrauen in unser Schiff enorm gestärkt aber auch unseren Respekt vor der Natur neu bestätigt hat.
Grundsätzlich waren wir gut vorbereitet und sind dankbar, dass wir es zusammen mit unserer „Namaste“ so gut überstanden haben. Allen, die zu Schaden gekommen sind, wünschen wir auf diesem Weg das Beste, vor allem den Verletzten eine schnelle und vollständige Genesung.