SelbstversuchSo verläuft eine Nacht in der Rettungsinsel

Marc Bielefeld

 · 01.12.2025

Erst der Anfang. Als der Mond über der Ostsee aufgeht, driftet die Insel östlich von Großenbrode einsam und verlassen ins blaue Nichts.
Foto: YACHT/Jozef Kubica
​Leichter Wind, ruhige See. Und es ist nur eine Übung. Doch schnell wird deutlich, wie hart und fragil das Überleben im  Rettungsfloß  sein kann. YACHT-Autor Marc Bielefeld über die Grenzerfahrung in einer kalten, klammen, Klaustrophobie-auslösend engen Gummizelle.

​Noch ist es ein geschlossener Kasten, rechteckig, gerundete Kanten, 31 Kilo schwer. ISO 9650-2 steht auf dem Deckel. Die Internationale Organisation für Normung meint damit: zugelassen für Küstengewässer, konzipiert für Seenotfälle bis zu 24 Stunden Dauer.

Die Box liegt auf dem Heck der Yacht parat, wie ein Koffer, der auf eine seltsame Reise gehen will. Der weiße Container verströmt eine gewisse Aura. Ich sehe hohe Wellen vor meinem geistigen Auge, Schaumbahnen, fliegende Gischt. Nichts, was man sich wirklich wünscht. Schon gar nicht, wenn man gezwungen ist, vom Boot aufs Floß umzusteigen, vom Segler zum Insulaner zu mutieren.


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Tritt dieser Fall ein, endet jeder Törn. Die Yacht brennt, sinkt oder ist schon auf Tiefe gegangen. Was danach kommt, ist der bloße Kampf ums Über­leben. In der Rettungsinsel werden die Insassen zum Spielball der See. Nicht mehr Segler, nur noch eine Art willenloser Korken.

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Viele Yachten haben so ein Floß an Bord. Meist ist es an Deck gelascht, wie ein ungeöffnetes Menetekel. Die meisten haben es noch nie in Aktion erlebt, nie probehalber ausgelöst, sich nie mit Technik und Ausstattung befasst. Selbst die Wartungs­intervalle werden oft großzügig ignoriert. Devise: Wird schon funktionieren!

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In einer Gummizelle auf Drift

Es ist eine eigenartige, geradezu absurde Ignoranz. Denn die Rettungsinsel ist die letzte Alternative zum Treiben im Meer. Zum Absaufen. Da sollte jeder Skipper eigentlich aus dem Effeff wissen, wie genau das Ding funktioniert. Verdammt vorteilhaft wäre es zu wissen: Wie gut kommt man da rein? Wie schließt man das Dach? Wie viel Wasser nimmt so eine Rettungsinsel über, wenn sich zwei, drei, vier pitschnasse Segler mit Ölzeug, Stiefeln und Westen in ihr Inneres wuchten? Wie fühlt es sich an, in so einer Gummizelle auf Drift zu gehen?

Die meisten wissen es nicht. Kaum jemand löst sein Floß freiwillig aus, um es bei guten Bedingungen einfach mal zu testen. Denn die Wiederin­betriebnahme ist viele hundert Euro teuer – wenn sie überhaupt gelingt. Manche Hersteller verweigern nach einem Einsatz im Salzwasser jede Wartung. Und es sind wohl auch nicht besonders viele Skipper, die ein gezieltes Sicherheitstraining absolviert haben, inklusive Evakuierung der Yacht und geordnetem Rückzug auf die Rettungsinsel.


484 Tage auf See: Die wohl längste Drift Schiffbrüchiger währte mehr als anderthalb Jahre. Der japanische Handels­kapitän Oguri Jukichi musste von Oktober 1813 bis März 1815 auf dem Pazifik ausharren. Allerdings trieb er nicht auf einem Ret­tungs­floß, sondern auf seinem Frachtsegler, dessen Masten er im Sturm hatte kappen lassen. Die Crew ernährte sich fortan von der Ladung: Sojabohnen. Von 13 Mann Besatzung überlebte außer Oguri nur einer.


Bezug der Rettungsinsel

An einem Montag Anfang September findet auf der Ostsee genau deshalb eine Ausnahmeübung statt, die den Seenotfall zumindest im Ansatz nach­erlebbar machen soll: Den Container über Bord wuchten, auslösen – und sich eine Nacht lang treiben lassen in dem seegehenden Kokon. Was genau passiert dann? Wie fühlt sich das Ausgesetztsein an? Wie gemütlich oder ungemütlich wird es auf
0,4 Quadratmeter Gummifloß pro Person?

Nordwestwind, 3 bis 4 Beaufort, kaum Welle. Die Sonne senkt sich dem Horizont entgegen, als unsere Yacht südlich von Fehmarn Richtung Großenbrode segelt. Das Wasser ist mit 16 bis 17 Grad noch recht warm. Das Plastimo-Floß, Modell Coastal 6, klatscht ins Wasser und taumelt achteraus. Ein Ruck an der Leine – nichts. Noch ein Ruck, ener­gischer diesmal – wieder nichts. Nur die Leine wird länger. Erst beim dritten Reißen ertönt ein dumpfer Knall, gefolgt von lautem Zischen.

Dann klappt der Deckel auf, und schwarzes Gummi entfaltet sich, bläst sich auf, wird dick und rund, kippt kurz auf die Seite, richtet sich prompt wieder auf. Nicht einmal zehn Sekunden später schwimmt unser Rettungsfloß für diese Nacht. Ein Quadrat aus zwei prall gefüllten Gummiwülsten – und das erste, was wir staunend bemerken: „Die hat ja gar kein Dach! Das Floß ist komplett offen!“

Einer nach dem anderen steigen wir über, eine einfache Übung bei diesen Bedingungen. Die Insel wackelt und schwabbelt ein wenig, doch jeder Sprung sitzt. Wir lassen uns auf den dünnen Boden sacken, lehnen uns an die runden Wülste. Noch immer zischt es aus der außenbords hängenden CO2-Patrone. Oder ist da vielleicht – ein Leck?!?


133 Tage auf See: Der Chinese Poon Lim überlebte im Südatlantik mehr als vier Monate allein auf einem hölzernen Rettungsfloß, nachdem sein Frachtschiff am 23. November 1942 von einem deutschen U-Boot versenkt worden war. Aus einer Keksdose bastelte er sich ein Messer, aus Nagel und Taschen­lampendraht Angelhaken.


Ganz schön eng

Wir horchen, spüren ihm nach, tasten die Wülste entlang. In mir steigt Unbehagen auf. Aber Michael holt mich wieder auf den Boden zurück: „Das ist der Überdruck, die Kammern sind zu prall gefüllt.“ Er sucht eines der Ventile, lässt etwas Luft raus. Endlich verstummt das Zischen. „Ganz normal“, sagt Michael. Im Ernstfall wäre die Erfahrung bitter gewesen, der Vertrauensverlust ins Floß unermesslich. Wenn man eh schon um sein Leben bangt, erscheint die Sorge, in einer womöglich defekten Insel zu sitzen, vollends unerträglich.

Wir aber haben es – eigentlich – ganz gut. Wir sind nur zu dritt: Rike, Michael und ich. Die Rettungsinsel ist für sechs Passagiere zugelassen. Es dürfte folglich eine recht bequeme Nacht werden, denken wir noch in unserer Naivität.

Doch die Stunden werden uns schnell lehren, was Raum, Zeit und Kälte bedeuten, wenn man das Schicksal nur einmal herausfordert. Wenn man die Komfortzone Yacht verlässt – und die Notunterkunft zur See betritt.

Sieben Uhr am Abend, die Sonne hängt schräg über der graublauen Ostsee. Wir lösen die Verbindungsleine zur Yacht, schweben bald langsam nach Osten davon. Zwölf Stunden wollen wir ausharren, bis die Sonne am Morgen im Osten aufgeht.

Wir alle haben noch nie länger in so einer Insel gesessen. „Gehockt“, korrigiert Rike, Binnenseglerin von der Alster mit ersten Törns auf Yachten. Sie runzelt die Stirn, schaut sich um. Dann fallen das erste Mal die Worte: „Ganz schön eng hier drin.“ Michael, segel- und technikerfahren, findet: „Das wird schon gehen.“ Mich überzeugt er damit nicht: „Da haben ja die russischen Kosmonauten in ihren Sojuskapseln mehr Platz. Hier drin sollen sechs Leute Platz finden? Du spinnst!“

Selbstversuch unter Laborbedingungen

Wie eingequetschte Gummibärchen liegen, kauern, knien wir auf der winzigen Fläche. Doch haben wir erst mal damit zu tun, das Zelt aufzubauen – denn noch haben wir kein Dach überm Kopf. Wir halten das Tuch hoch, überlegen, ob ein Paddel das Zelt stützen könnte. Erst dann kommen wir auf die Idee, die beigelegte Ausrüstung nach Brauchbarerem zu untersuchen. Dort sind Stangen gestaut – wie die eines geodätischen Zelts.


117 Tage auf See: Marilyn und Maurice Bailey überlebten 1973 fast vier Monate in einer Rettungs­insel, nachdem ihre Yacht bei Galapagos auf Tiefe gegangen war. Sie ernährten sich von rohem Fisch, Schildkröten und Seevögeln, überstanden Stürme und Hai­angriffe. Ihr bewegendes Buch „117 Days Adrift“ ist nur antiquarisch verfügbar.


Es folgt eine heitere Prozedur auf engstem Raum. Tuch festhalten, am Klettband fummeln, Stangen zusammenstecken, Ösen suchen, nach irgendwelchen Laschen tasten, die falschen Ösen finden, reinstecken, ausrutschen, erneut versuchen. Es dauert eine Viertelstunde, bis sich die Kuppel über unseren Köpfen wölbt. „Das mach mal in einem Sturm, womöglich bei vier, fünf Meter Welle“, sage ich. „Dann fliegt dir hier alles um die Ohren.“ Rike sagt: „Und dann mach das mal, wenn du zu sechst hier drinsitzt, da spießt man sich gegenseitig auf.“ Michael sagt: „Ist ja nicht als Badeplattform gedacht.“

Da hocken wir nun. Wie in einem winzigen Raumschiff, durch dessen Wände ein diffuses, orangefarbenes Marslicht fällt. Ausgesetzt, abgeschnitten, eingepfercht. Draußen plätschert leise die Ostsee. Es ist acht Uhr abends, der Himmel wird dunkler. Erstmals kehrt etwas Ruhe ein. Unsere Beine liegen übereinander, nebeneinander. Meine über Michaels, Rikes unter meinen. In der Mitte drückt der Beutel mit der Notration.

Immerhin haben wir nichts zu befürchten. Eine Handfunke ist in der Insel, die Yacht in der Nähe, die Seenotretter wissen Bescheid. Im Grunde eine Anmaßung gegenüber jeder echten Notlage. Wir simulieren nur bei obendrein ruhigem Wetter. Nicht auszudenken, was Menschen durchmachen, die bei Sturm, Kälte und meterhohen Wellen in so einer Miniatur über den Ozean rollen. Unter Lebensgefahr. Ohne Gewissheit, ob sie gerettet werden.

Schreckensmoment in der Rettungsinsel

Um neun ist alle Sonne verschwunden. Wir haben einen Spalt vom Zelt offen, schauen hinaus. Gut zwei Stunden sind um. Das erste Mal schaue ich auf die Uhr, zähle die verbleibende Zeit. Ein orangefarbenes Knäuel mit einem weißen Bändsel baumelt vor meiner Nase. Es ist eine Öffnung nach draußen: Entrollt man das Tuch, kann man seinen Kopf aus der Insel strecken. So eine Art Tunnel für den Hals, um Ausschau zu halten, Regenwasser zu sammeln. Oder, auch das, um außenbords zu kotzen. Dafür ist die Schleuse nämlich unter anderem gedacht. Denn wenig erbaulich dürfte es sein, wenn einer im Geschaukel die letzte Mahlzeit ins Innere der Kapsel schickt – und alle Mann fortan im Brei hocken. Gar nicht gut für die Stimmung!

Ich taste die Gerätschaften hinter mir ab. Die gelben Haltegurte, das Paddel und das Ventil nerven jetzt schon. Das Ventil drückt direkt in meinem Nacken, aber da ist kaum Platz, mich wegzudrehen. Noch sind wir fidel, witzeln. Im Rücken aber, der wie auf einem Wasserbett ruht, wird es langsam kalt. Auf dem unsteten Boden steht Feuchtigkeit.

Und dann macht es plötzlich peng!

Hinter uns ist einer der dicken Reißverschlüsse aufgeplatzt, mit dem schwarzes Nylongewebe schützend um die Schwimmkörper fixiert ist. Es klingt wie ein Schuss. Aus dem Inneren der Kammer quillt ein praller Gummidarm. Wieder so ein enervierender Schreck. Wieder Bastelei. Wir lassen Luft aus der Kammer, drücken den Wulst rein, schließen mit Mühe den Reißverschluss. Will man auch nicht erleben, wenn es draußen wütet.

Tatsächliche Seenotfälle

Es gibt böse Geschichten, die in Rettungsinseln spielen. Im südlichen Pazifik trieben drei Deutsche in den 1970er-Jahren fast einen Monat lang in ihrem Gummifloß auf hoher See. Ein Kanadier überlebte im Pazifik fast drei Monate. Erst nach bald vier Monaten wurde ein britisches Paar gerettet, dessen Yacht nach der Kollision mit einem Wal auf Tiefe gegangen war. Seine Odyssee handelt von allen erdenklichen Purgatorien, die sich das Meer nur ausdenken kann: Durst, Hunger, Hitze, Kälte, Krankheit, Sturm, Kenterungen.

Kein Glück half am Ende, sondern der schiere Wille zum Überleben – und die Tatsache, dass die beiden ihr aufblasbares Dingi mitgenommen hatten. In vielen Fällen nämlich sind es die Beiboote, die maßgeblich zum Überleben beitragen. Auf ihnen lässt sich besser angeln, effektiver Regen sammeln. Auch Schäden an der Rettungsinsel sind von außen besser zu reparieren. Jedes Mü an zusätz­lichem Platz ist dann Gold wert.

Dennoch müssen es unbeschreibliche Qualen sein, Wochen oder gar Monate dem Ozean aus­gesetzt zu sein. Der Amerikaner Louis Zamperini machte eine solche Tortur durch. Im Zweiten Weltkrieg war sein Bomber über dem Pazifik abgestürzt, 47 Tage trieben er und zwei weitere Besatzungsmitglieder in zwei Gummibooten auf dem Meer. Zamperini – 1,80 Meter groß und zuvor 72 Kilo schwer – hatte danach gut 35 Kilo verloren. Er trug Entzündungen und Verätzungen vom Salzwasser davon und glich einem von fauliger Haut behangenen Skelett. Er selbst beschrieb sich so: „Nur noch eine atmende Leiche ist von mir übriggeblieben.“ Man mag es sich nicht einmal vorstellen.

Die Natur ruft – was nun?

Durch einen Spalt im Inseldach linse ich nach draußen. Über der Ostsee klebt inzwischen hell und leuchtend der Mond. Plattes Meer, wir schweben fast im Öl. Schön sieht das aus. Doch ich stelle mir vor, wie der Ernstfall sein könnte: Nordsee, zehn Windstärken, sieben Meter hohe Seen. Das Zelt über unseren Köpfen würde flattern wie verrückt, Salzwasserfontänen durch jeden Schlitz schießen. Wir würden frieren und zittern, schöpfen und lenzen wie die Bekloppten. Würden Todesangst schieben – die weitaus schlimmste Ingredienz in so einer Situation. Dann würde eine Welle brechen, uns packen und durchschleudern. Die Paddel würden umherfliegen, der Notblasebalg durch die Gegend sausen. Oben wäre unten, unten oben. Umschlungen von eiskaltem Meer, ein Leben wie in der Waschmaschine.

Längst ist es weit nach Mitternacht. Wir müssen pinkeln. Müssten uns dafür aus den Klamotten schälen, ins Meer schiffen oder in die Hosen, womöglich mitten in die Rettungsinsel, vor den anderen. Wir kneifen. Verholen uns kurz an Bord der Yacht, die uns zur Sicherheit begleitet. Erledigen es dort, spüren die Wärme, die Ruhe, den festen Boden. Wollen am liebsten bleiben, steigen aber sofort wieder in die feuchte Insel, wir Badewannenmatrosen.

Die Zeit zieht sich wie Kaugummi. Sechs weitere volle Stunden. Das Liegen tut inzwischen weh. Mir ist arschkalt. Ich bin nass und steif und hundemüde. „Steig doch in den Leichensack“, frotzelt Rike. Ich schnappe mir einen der gelben Plastiküberzüge, in die man hineinkriechen kann. Die Thermohüllen sind Teil der Notfallausrüstung, die wir mitgenommen haben. Muss mich fürchterlich verbiegen, um reinzukommen, ich strecke Michael bei dem Manöver meine Seestiefel frontal ins Gesicht. Doch einmal im Plastiksack, wärmt er wenigstens etwas. Dabei fällt mir auf: Alles hier ist aus Kunststoff – das Floß, das Zelt, die Notfallbehälter, das Erste-Hilfe- Set, die Rettungswesten, die Verpackung der eingeschweißten Notrationen.

“Bewahren Sie Ruhe und Humor”

Die vom Hersteller in der Rettungsinsel verpackten Beilagen haben wir längst durchforstet. In einem roten wasserdichten Sack steckt allerlei Praktisches: Taschenlampe, Ersatzbatterien, Knicklichter, Signalraketen, Flickzeug, Schwämme, Signalspiegel, 36 Tabletten gegen Seekrankheit, dazu – falls die nichts nützen – sechs Kotztüten. Ein zusätzlicher Seasafe-Sack gehört nicht zum Floß, Michael hat ihn mitgebracht. Darin: sechs Einheiten Trinkwasser, zwei Pakete „Transocean Emergency Ra­tion“ – kleine hochkalorische Briketts aus gerös­tetem Weizen, Fett, Zucker, Eiweiß, Vitaminen. Schmeckt sogar leidlich: trocken, bröselig, süß.

Ich versuche zu schlafen, döse eine gute Stunde vor mich hin. Rike sagt, ich solle mein linkes Bein verlagern, sie könne so nicht mehr liegen. Dabei liegt sie gar nicht; sie hat sich seitlich in eine Nische gestopft, ruht in gekrümmter Hocke. Mitten in der Nacht holt Michael ein Buch aus seiner Tasche, liest eine Kurzgeschichte von Siegfried Lenz vor. Zeit killen, schon jetzt, nach acht jämmerlichen Stunden.

Wir ahnen: Die Langeweile kann in so einer Insel zum Horror werden. Sich ziehende Tage in der Enge – nur Meer, nur Schwanken, nur Himmel. Wann verliert der Erste die Fasson? Wann kippt die Stimmung? Und, ganz trivial – was, wenn man mal muss? So richtig, groß. Vor allen anderen!

Wir überlegen kurz, sind uns schnell einig: Dies ist wohl das geringste Problem, wenn du in einem Gummifutteral durchs Verderben schlingerst. Es warten weitaus größere Dämonen.

Was kann da kommen? Wir blättern in den Survival-Notizen, die der Insel beiliegen, fünfsprachig. Auf Deutsch steht drüber: „Überlenchilfe“, mit einem „c“ statt „s“, und man will nur hoffen, dass sich der Hersteller beim Vulkanisieren der Luftkammern mehr Mühe gegeben hat als beim Übersetzen. Regel Nummer eins, fett gedruckt: „Bewahren Sie Ruhe und Ihren Humor, eine gute Verfassung ist von äußerster Wichtigkeit.“

Tu alles, damit du dieses Ding nie brauchen wirst

Humor! Das sag mal einem, der gerade den Orkan reitet. Weitere Tipps, unter anderem: Treib­anker auswerfen, Ladung verteilen, bei Kälte so viel wie möglich anziehen, Boden trocken halten. Alles Material in der Insel befestigen. Niemals Meer­wasser oder Urin trinken.

Noch immer Nacht draußen, richtig nasskalt jetzt. Wir fühlen uns nach zehn Stunden buchstäblich in die Enge getrieben. Rike zieht Parallelen zum Verschüttetsein in einem Bergwerkstollen. Mein Hintern ist inzwischen eingeschlafen. Drehe ich mich, liege ich auf den Signalraketen. Der Platzmangel ist tatsächlich das Schlimmste. Davon berichten alle, die es erlebt haben. Also immer eine größere Insel an Bord haben? Eine Sechser für vier, mindestens. Blauwassersegler raten dazu.

Meine Zigaretten sind weggerutscht, finde sie im Chaos nicht wieder. Kann ja hier nicht mal mit meinem Arm unter meinen Rücken greifen, mich kaum umdrehen, aufrichten, wegrollen. Wohin? „Hör doch auf zu rauchen“, sagt Rike. „Unsere Rettungsinselnacht ist doch ein guter Anlass.“ Ich gucke sie schräg an. Michael sieht es anders: „Nee, keine gute Idee. In so einer Situation sollte jeder mitnehmen, was er will. Zigaretten, Rum, Spiele, Bücher. Es wird der letzte kleine Luxus sein bis zur Rettung, wichtig für Nerven und Moral.“

Endlich rötet sich im Osten der Himmel, die Sonne lässt sich blicken, und wir wollen wirklich nur noch eines: raus hier! Dabei haben wir uns noch erspart, was eigentlich meist unvermeidlich ist: aus dem Wasser einsteigen! Gerade das steht den meisten bevor, wenn sie in die Insel müssen – trockenen Fußes schafft es kaum einer. Die Reißleine ist acht bis zehn Meter lang, in Wind und Wellen vertreibt die Insel im Nu, und dann steig oder spring mal von einer havarierenden Yacht zielgenau in so eine Sar­dinenbüchse. Die Trefferquote in rauer See muss man sich vorstellen wie die Chancen der HSV-Elf auf den Meistertitel.

Michael, unverfrorener Held der Nacht, wagt es dann noch zum Abschluss. Lässt sich ins Wasser rutschen und versucht, wieder reinzukommen. Es geht. Aber es ist verdammt schwer. In voller Montur fummeln seine Arme nach Halt, nach den Griffen, den Haltegurten innen, nach der rudimentären Hilfsleiter außen. Er muss kräftig ziehen und wuchten, die halbe Insel biegt sich durch – erst dann landet er, bäuchlings und wie ein triefend nasser Sack, bei uns im Inneren. Ladungen an Salzwasser ergießen sich auf den Boden, und nach drei Versuchen liegen wir alle wie in einem Pool. Es schwappt durch die Insel, eiskalte Badewanne. Das Wasser dringt in die Stiefel, läuft die Arme hoch, kriecht die Beine entlang.

Die kalte Nässe am Ende der Testnacht ist wie eine eindringliche Warnung. Und so werde ich beim nächsten Törn, wenn ich den weißen Con­tainer an Deck meiner Yacht sehe, die Regel Nummer eins noch mehr beherzigen als bisher: Tu immer alles, alles, aber auch wirklich alles, damit du dieses Ding niemals brauchen wirst!


​Knowhow für den Seenotfall

​Ausrüstung für den Ernstfall

In der Rettungsinsel: Michael Rinck, Marc Bielefeld, Rike Sattler,Foto: YACHT/Jozef Kubica

Die Firma Sostechnic bietet spezielle Notfall­ausrüstung an, international als „Grab-Bags“ bekannt, die jederzeit mitnahmebereit ist. Der wasserdichte Sack enthält unter anderem Wasser, Nahrung, Medikamente und Signalmittel. Wir hatten beim Seenotversuch ein Testexemplar nach ISO 9650 an Bord, ausgelegt für den Küstenbereich, wo eine Rettung binnen 24 Stunden wahrscheinlich ist. Das Komplett-Set für vier Personen lässt sich individuell erweitern, etwa um spezielle Medikamente für chronisch Kranke in der Crew. Erweiterte Pakete gibt es auch für den Hochsee-Einsatz. Mehr Informationen: www.sostechnic.de


​Vorbereitung ist alles

DEU;DE;GERMANY;DEUTSCHLAND;ALLEMAGNE, Niedersachsen, Elsfleth, 10.4.2015.

YACHT-Test: Rettungsinseln, Liferafts.
Rettungsinseln verschiedener Hersteller im Testbecken von MARIKOM, Maritimes Kompetenzzentrum, Elsfleth an der Weser. Yacht-Redakteur: HFoto: YACHT/K. Andrews

Im Seenotfall sind Segler trotz vollständiger Ausrüstung schnell überfordert, weil vom Umgang mit der ausgelösten Rettungsweste über die Frage, was mitgenommen werden soll, bis zur Handhabung der Rettungsinsel alles neu ist. Der Ernstfall lässt sich aber unter Anleitung von Experten üben – so etwa beim Sicherheitstraining für Segler im Maritimen Trainingszentrum Wesermarsch in Elsfleth. Im hauseigenen Wellenbad lassen sich verschiedene Wetterszenarien simulieren und der Umgang mit Rettungsmitteln üben.


Im Ernstfall

DEU;DE;GERMANY;DEUTSCHLAND;ALLEMAGNE, Niedersachsen, Elsfleth. 22.4.2012

ISAF-Sicherheitstraining für Segler bei MARIKOM, Maritimes Kompetenzzentrum. 
Sicherheitsausbildung für Teilnehmer von Hochseeregatten und Fahrtensegler. Theorie und RollenspilFoto: YACHT/K. Andrews

​Vor dem Einstieg  ins Rettungsfloß an das Wichtigste denken: Notfallpaket mitnehmen, eine Kopflampe, Rettungsweste, Kommunikations­mittel. Wenn noch Zeit ist, viel warme Kleidung unters Ölzeug anziehen. Sofern möglich, trocken übersteigen. Rettungswesten nicht ohne Not auslösen, sie nehmen viel Platz weg.


Ausschau halten, Hilfe rufen

DEU;DE;GERMANY;DEUTSCHLAND;ALLEMAGNE, Niedersachsen, Elsfleth. 22.4.2012

ISAF-Sicherheitstraining für Segler bei MARIKOM, Maritimes Kompetenzzentrum.Foto: YACHT/K. Andrews

Wenn die Yacht verloren ist und alle Crewmitglieder in der Rettungsinsel sitzen, heißt es möglichst schnell Hilfe holen. Idealerweise setzt man noch vor dem Umstieg einen Notruf ab. Ist das nicht mehr möglich, hat es anschließend höchste Priorität. Dabei kann ein wasserdicht verpacktes Mobiltelefon helfen, ebenso ein Handfunkgerät, eine Epirb oder ein Satellitenhandy, die Teil der Notfallausrüstung sein sollten. Wenn man keinen Telefonempfang hat, ist das Smartphone nicht automatisch wertlos. Denn mit einer Navi-App kann man sich zumindest orientieren. So sollten die wenigen Signalmittel nicht auf gut Glück verbraucht werden, sondern erst, wenn Land oder Schifffahrt in der Nähe ist. Dazu ist einerseits ein Ausguck nötig, denn mit geschlossenem Dach verliert man sonst schnell die Orientierung. Zum anderen hilft die Kenntnis der eigenen Position und der Drift, um abschätzen zu können, wann Rettung am wahrscheinlichsten ist.


​Wie groß ist groß genug?

DEU;DE;GERMANY;DEUTSCHLAND;ALLEMAGNE, Niedersachsen, Elsfleth, 10.4.2015.

YACHT-Test: Rettungsinseln, Liferafts.
Rettungsinseln verschiedener Hersteller im Testbecken von MARIKOM, Maritimes Kompetenzzentrum, Elsfleth an der Weser. Yacht-Redakteur: HFoto: YACHT/K. Andrews

Die ISO-Norm 9650 für Rettungsinseln sieht für vier Personen mindestens eine Grundfläche von 1,488 Quadratmetern vor. Das sind nur 0,37 Quadratmeter pro Person – gerade mal 60 mal 60 Zentimeter! Vor dem Kauf sollten Sie also überlegen, wie viele Segler üblicherweise an Bord sind und dann eine Insel für doppelt so viele Personen wählen. Die nächste Frage ist der richtige Platz. Liegt die Insel geschützt, reicht eine Tasche. Ist sie aber an Deck gelascht, muss es ein Modell im Con­tainer sein. Dann genau schauen, was an Ausrüstung enthalten ist, um das Notfallpaket ergänzend darauf abzustimmen. Die Hersteller empfehlen zumeist eine Wartung alle drei Jahre, auch wenn diese auf Privatyachten nicht vorgeschrieben ist. Die Mindesthaltbarkeit der Inseln wird meist mit 12 bis 15 Jahren angegeben.


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