Sonntagmorgen, 8.30 Uhr. Der Schritt nach vorn geht ins Leere. Ein kurzer Fall in die Tiefe, dann ist Wasser überall. Schnell füllt sich der Schwimmkörper der Rettungsweste mit dem CO₂ aus der Patrone und holt mich an die Oberfläche zurück. Ein beruhigendes Gefühl, auch wenn ich nun in voller Montur im Wasser treibe. Glücklicherweise ist es über 20 Grad warm und der Inhalt eines beheizten Schwimmbades im niedersächsischen Örtchen Elsfleth – und nicht das kalte Meer.
Was in den nächsten eineinhalb Stunden folgen soll, ist zwar respekteinflößend, doch nur eine inszenierte Katastrophe. Sie soll Segler darauf vorbereiten, im Notfall draußen auf See richtig zu handeln. Zwei volle Tage, also gut 18 Stunden, dauert dieser Lehrgang, den Segelschulen, Vereine und kommerzielle Anbieter in ganz Deutschland anbieten (zur Anbieterübersicht).
Das Team um Tobias Schultze von Fire & Safety Training in Elsfleth, wo die YACHT ein Wochenende als Teilnehmer dabei war, bildet im Maritimen Trainingszentrum Wesermarsch aus. Auch nautischer Nachwuchs, erfahrene Seeleute und Mitarbeiter der Offshore-Industrie werden dort auf Notfälle vorbereitet.
Am Beckenrand steht beispielsweise eine Gondel, die eine Art Helikopter-Kabine darstellt. Simuliert wird damit der Absturz eines Luftfahrzeugs auf See. Die Kabine wird unter Wasser getaucht und über Kopf gedreht. Dann müssen die Übenden aussteigen und zurück an die Oberfläche schwimmen. Ein Rettungstaucher sitzt ihnen dabei zwar gegenüber und das Wasser ist recht warm und glasklar. Dennoch: eine Vorstellung zum Abgewöhnen.
Das Überlebenstraining für Segler besteht aus Praxis- und Theorieeinheiten zu verschiedenen Notfallszenarien. Unter anderem stehen Brandbekämpfung, Leckabwehr und Erste Hilfe auf See auf dem Programm. Geübt wird auch der Umgang mit Seenotsignalmitteln und Sicherheitsausrüstung an Bord. Das Herzstück aber ist ein simulierter Seenotfall im Wellenbad.
Bei dieser Übung soll alles so realitätsnah wie möglich sein. Daher schlüpfen wir Teilnehmer, allesamt Fahrten- oder Regattasegler von der Nordseeküste, an diesem Sonntagmorgen im Februar in Ölzeug, Schuhe und Rettungsweste. Am besten viel Kleidung darunterziehen und die eigene Weste nutzen, lautet der Tipp der Ausbilder. Viele nehmen jedoch das Angebot des Veranstalters an, eine bereitgestellte Weste zu tragen. Es sind halbautomatische Modelle.
Trainer Tobias erklärt, wie wir ins Wasser springen sollen: eine Hand an den Auslöser und einen Schritt vom Beckenrand nach vorn machen. Die Beine beim Sprung in Schrittstellung lassen, damit man nicht so tief ins Wasser eintaucht. Dann beim Berühren der Wasseroberfläche mit einem kurzen, kräftigen – aber nicht zu kräftigen – Ruck den Auslöser nach unten ziehen.
Ein Teilnehmer nach dem anderen springt und ploppt wie ein Korken wieder an die Wasseroberfläche. Noch fühlt sich alles gut und kontrolliert an! Aber es geht ja gerade erst los.
Wir sollen uns eingewöhnen und trainieren, mit der Rettungsweste zu schwimmen. Auf dem Rücken und auf dem Bauch. Letzteres geht erstaunlich gut. Die bereitgestellten Westen haben 190 Newton Auftrieb, recht lange Schwimmkörper und zwei Schrittgurte statt einem. Vor allem für die Männer ist das von Vorteil.
Auch der Test, ob die Weste einen Menschen im Fall der Bewusstlosigkeit umdrehen würde, funktioniert : Luft anhalten, auf den Bauch drehen und ruhig abwarten. Nichts passiert. Erst nach einigen Sekunden dreht mich der gelbe Ballon vor der Brust langsam in die Rückenlage. „Bei Seegang geht das schneller“, erklärt Trainer Horst, der als Rettungsschwimmer zusammen mit einem seiner Kollegen nie weit weg ist.
Die Weste sitzt weniger eng am Hals als befürchtet. Dafür fühlt sich das Wasser nun allerdings doch kälter an als gehofft.
Eng verschlungen treiben wir mit bis vor Kurzem noch völlig Fremden durchs Becken. Dann wird es dunkel, und Seegang setzt ein!”
Als alle eine Weile durch das Becken gepaddelt, geschwommen und getrieben sind, hallt das erste Kommando durch das Schwimmbad: „Und jetzt die Raupe!“. Wie am Abend zuvor besprochen, bildet unser auserkorener „Skipper“ den Anfang, der „Co-Skipper“ das Ende der Menschenkette. Dazwischen sollen wir uns unter Anleitung von Horst aneinanderreihen. Und zwar immer mit dem Rücken zum Vorderen, der die Beine fest um die eigene Hüfte klammert. Dann folgt der Nächste. Die kleinsten und zierlichsten Teilnehmer ordnen sich möglichst hinten ein.
Schließlich hängen sieben Menschen aneinander. Doch wie gemeinsam vom Fleck kommen? Skipper Klaas zählt laut an: „Eins!“ – alle Arme gehen wie besprochen hoch –, „Zwei!“ – die Arme tauchen ins Wasser und ziehen durch.
Nachdem die schwimmende Raupe ihre „Eins!-Zwei!“-Kreise durch das Becken gezogen hat, heißt es Kräfte sparen. Wir sollen versuchen, Hilfe aus der Luft auf unseren kleinen Überlebenstrupp aufmerksam zu machen, und einen Kreis bilden, ohne uns loszulassen. Eng ineinander verschlungen treiben wir so mit bis vor Kurzem noch völlig Fremden durchs Wasser.
Jetzt macht sich bezahlt, wer den Tipp befolgt hat, vor dem Auslösen der Rettungsweste die Ölzeug-Kapuze hervorzuholen. Sonst kommt man nun nicht mehr ran. Wie nützlich sie ist, wird schlagartig klar, als es plötzlich auch von oben nass wird: Simulierter Regen setzt ein – auch das noch. Er lässt Brillen zu undurchsichtigen Scheiben werden, Kontaktlinsen verrutschen, Sicht und Orientierung gehen verloren. Vermutlich würde sich nun eine Spraycap auszahlen, die aber niemand aus der Gruppe an der Weste hat. Doch schon die Kapuze hat eine enorme Wirkung:
Der Regen stört weniger, der Kapuzenschirm hält die Sicht frei. Vor allem aber schwappen die Wellen nicht mehr hinterrücks über den Kragen ins Ölzeug. Außerdem wären viele knallgelbe Punkte im Wasser im Ernstfall für Retter aus der Luft besser zu sehen als lauter dunkle Köpfe.
Um die Chance, aus einem Helikopter gesichtet zu werden, zu erhöhen, folgt die nächste Übung: Unser Menschenkreis soll sich an ausgestreckten Armen auseinanderdrücken, sodass die Beine in der Mitte Platz zum Strampeln haben. Nicht alle auf einmal, sondern immer abwechselnd jeder Zweite.
Skipper Klaas zählt an, dann geht es los. Wie wild treten alle ins Wasser und wühlen es ordentlich auf. Ob das reichen würde, um gesehen und gerettet zu werden?
Immerhin breitet sich infolge der schnellen Beinbewegung ein wenig Wärme im Körper aus. Das Treiben seit mittlerweile – ja, wie lange eigentlich? – vermutlich einer halben Stunde macht sich hier und da mit einem leichten Zittern und blauen Lippen bemerkbar. Echte Vorfreude aufs Einsteigen in die Rettungsinsel kommt auf. Doch die muss zunächst einmal aufgerichtet werden!
Die erste Welle landet im Gesicht, im Kragen, in den Ohren und im Mund. Schlucken, nach Luft schnappen, husten – ruhig bleiben!”
Das stattliche Zwölf-Personen-Modell treibt mit dem Dach nach unten am anderen Ende des Beckens. Jeder soll es einmal selbst ausprobieren und löst sich dafür aus dem Kreis – darauf bedacht, dass sich die beiden Nachbarn danach wieder ineinanderhaken. Es sind nur wenige Meter durch das Becken, doch die haben es in sich.
„Im Wellental einatmen, oben auf der Welle ausatmen“, gab es als Ratschlag der Trainer zu Beginn der Übung. Er ist gut, doch muss man erst mal daran denken. Schwapp! Die erste Welle landet im Gesicht, im Kragen, in den Ohren und im Mund. Schlucken, nach Luft schnappen, husten. „Ruhig bleiben“, sage ich mir, „das hier ist nur eine Übung.“
Also noch mal: Im Wellental atmen, erst oben ausatmen. Geht doch. Nur gut, dass das hier kein Salzwasser ist. Das zu schlucken wäre weitaus unangenehmer. Dann ist die Insel erreicht. Ein Trainer wartet und hilft. Er nimmt die Angst, dass das große schwarz-orangefarbene Ding beim Umdrehen auf einem landet und man darunter jämmerlich ersäuft. „Das passiert nicht. Wenn ihr drunter landet: ruhig bleiben! Den Boden nach oben drücken, sodass sich ein Luftraum bildet. Dann drückt ihr euch zur Seite raus“, lautet die Anleitung.
Aber erst mal so weit kommen! Weiße Leinen sind am Unterboden des aufgeblasenen Rumpfs befestigt. Die muss man sich angeln, dann möglichst die Beine oder Füße gegen die Luftkammern stützen. Danach ziehen, bis sich das Ungetüm aufrichtet, irgendwann den entscheidenden Punkt überwindet und auf einen zukippt. Es geht und ist gar nicht so schwer! Allerdings sind die Windturbinen, die im Hallenbad künstlich für Sturm und ohrenbetäubendes Sausen sorgen könnten, gerade ausgeschaltet. „Das hält man nicht lange aus“, hatte Tobias Schultze zuvor erklärt.
Im Ernstfall müsse man auf See den Wind beim Drehen der Insel für sich nutzen – auch, wenn das vermutlich deutlich leichter klingt, als es ist.
Das Hineinklettern ist immerhin weniger schwierig als befürchtet. Das Übungsmodell hat eine gut erreichbare Fußschlaufe und Leinen, um sich nach oben zu ziehen. Doch wäre das Wasser kälter und hätten die Kräfte schon nachgelassen, würden sich die knapp 50 Zentimeter Freibord der Rettungsinsel wohl anfühlen wie der Mount Everest.
Leider dauert der Inselaufenthalt nicht lange. Jeder steigt gleich wieder rückwärts aus und schwimmt zur Gruppe zurück. Prusten, husten, konzentrieren. Der Kreis nimmt die Rückkehrer auf. Ob es allen gut gehe, fragt Skipper Klaas, der die Aufgabe hat, seine Truppe zu unterhalten und bei Laune zu halten. Schweigende Lethargie soll gar nicht erst einsetzen.
Nachdem Klaas als Letzter die Rettungsinsel gedreht hat und hineingeklettert ist, sollen alle folgen. Aneinandergereiht geht es unter lautem „Eins! – Zwei! – Eins! – Zwei!“ quer durchs Becken zur Insel, nun unter Anleitung des Co-Skippers. Wer bis hierher am meisten Kraft eingebüßt hat, darf zuerst aus dem Wasser raus und die Gummiwulst erklimmen. Wobei „aus dem Wasser raus“ nicht mehr zutreffend ist.
Längst hat sich eine ansehnliche Pfütze in dem planschbeckengroßen Floß gebildet. Dennoch: Es fühlt sich gut an, endlich drin zu sein, sich anlehnen zu können und nicht mehr ständig fürchten zu müssen, dass eine neue Welle unters Ölzeug und in die Körperöffnungen kriecht. Eine gut funktionierende Rettungsinsel zu haben muss im Ernstfall ein Segen sein!
Allerdings machen sich schnell neue Sorgen breit, als Trainer Horst ankündigt, nun das Dach der Insel zu verschließen. Ein paar Minuten sollen wir Segler auf der höchsten künstlichen Welle bei Dunkelheit durch das Schwimmbad treiben. Geschichten über andere Teilnehmer, die bei dieser Übung die nicht vorhandenen Fische im Becken gefüttert haben, machten schon vorher die Runde. Kein Wunder, dass die Frage kommt, durch welche Öffnung im Inseldach man sich im Zweifelsfall denn außenbords lehnen könne.
Doch alles geht gut. Die Eineinhalb-Meter-Wellen lassen die Inselinsassen zwar schwanken. Doch insgesamt überwiegt das Gefühl, hier drinnen besser aufgehoben zu sein als im Wasser und eine reelle Chance auf Rettung zu haben.
Wir sitzen im Nassen, dafür ist zu sechst – einer der sieben hat dann doch aufgegeben – reichlich Platz in dem Zwölf-Personen-Modell, was sicher ein wenig zur entspannten Lage beiträgt. Außerdem ist die Übung in einem Punkt sehr freundlich: Die Rettungsinsel ist bereits ausgelüftet und riecht nicht mehr penetrant nach frisch ausgepacktem Gummi, wie es beim erstmaligen Auslösen der Fall wäre. Das hätte vielleicht doch hier und da Brechreiz hervorgerufen. Dass dem nicht so ist, darum ist gerade wirklich niemand böse.
Wir treiben auf das Finale zu. Für das, was nun kommt, soll die Luft aus den Schwimmkörpern der Rettungswesten abgelassen werden, wie zuvor geübt. Denn Hilfe naht, und zwar aus der Luft! Über den vorderen Teil des Beckens ragt eine Plattform mit einem schwenkbaren Kran. Während es „blitzt“ und „regnet“, sollen zwei aus der Crew versuchen, die Insel paddelnd über die Wellen in Richtung der Plattform zu bewegen.
Sie stellt den Helikopter dar, der uns Havaristen aus der misslichen Lage befreien kann. Schon taucht Horst wieder am Rand der Insel auf und assistiert: Aus dem „Heli“ senkt sich langsam und präzise eine Schlaufe herab. Arme hoch, Schlaufe um den Oberkörper legen, dichtziehen. Arme runter, und alles mit den Händen fixieren.
Einer nach dem anderen wird in die Luft gehoben und auf die Plattform geschwenkt, wo Übungsleiter Tobias beim Anlanden hilft. Während unter den Füßen das inszenierte Inferno an Abstand gewinnt, fühlt es sich gut an, „gerettet“ zu werden. Auch beim Abflug aus der Insel gilt : Teilnehmer, die sichtlich erschöpft sind, gehen zuerst.
Wer sich nun, in klitschnasser Montur am Beckenrand stehend, unter die heiße Dusche sehnt, hat sich zu früh gefreut. Eine letzte Übung wartet noch. Alle pusten ihre Rettungswesten durch das Mundstück wieder auf. Es ist beruhigend zu sehen, wie gut das funktioniert. „Ihr seid eine Crew, unterstützt euch! Die Übung ist erst vorbei, wenn alle es geschafft haben“, heißt es.
Noch einmal geht es ins Wasser: Arme schützend über die abstehenden Teile auf dem Schwimmkörper legen, Schritt nach vorn – platsch! Das sollen immer noch über 20 Grad Wassertemperatur sein?
Nach mehr als einer Stunde fühlt es sich viel kälter an. Noch einmal schwimmt jeder über die Wellen durchs Becken. Am anderen Ende hängt eine Leiter ins Wasser, ein Jason’s-Cradle-MOB-System. Da geht es hinauf. Was im Ernstfall eine schaukelnde steile Bordwand wäre, ist hier ein feste gekachelte Schwimmbadwand.
Und doch ist es als Spielball der Welle nicht einfach, die Leiter an den richtigen Stellen zu fassen zu bekommen und sich daran hochzuziehen. „Mit den Armen lang nach oben greifen, dann den Oberkörper dicht an die Leiter ziehen“, rät Horst, der wieder assistiert. Das klappt tatsächlich erstaunlich gut. Alle sechs Havaristen meistern auch das. Beim letzten Schritt auf den Beckenrand fasst immer jemand helfend unter den Arm.
Dann ist es wirklich geschafft. Wir dürfen durchatmen – und heiß duschen.
Spät am Nachmittag ist nach vielen weiteren Übungen (siehe Galerien unten) Zeit für ein Fazit. „Ihr habt uns an unsere Grenzen gebracht!“, bringt eine Teilnehmerin es auf den Punkt. Viele stimmen zu und wollen ihre Sicherheitsausrüstung an Bord auf den Prüfstand stellen. Einigkeit herrscht aber auch darüber, wie sinnvoll es ist, sich dem Worst Case in diesem Training einmal ganz bewusst zu stellen.
Sogenannte „World Sailing Offshore Sea Survival“-Lehrgänge werden in ganz Deutschland veranstaltet. Auf Anfrage gibt es mitunter auch Kurse für geschlossene Gruppen wie etwa Segelvereine oder größere Regattacrews. Der Deutsche Segler-Verband (DSV) lizenziert die Anbieter hierzulande. Die Inhalte richten sich nach den Offshore Special Regulations des Weltseglerverbands World Sailing.
Für Regattasegler ist die Teilnahme vor bestimmten Offshore-Veranstaltungen sogar Pflicht. Für Fahrtensegler sind sie eine spannende, freiwillige Vorbereitung auf den Ernstfall. Folgende lizenzierte Anbieter der Überleben-auf-See-Kurse sind beim DSV gelistet :